ZURÜCK

Die historische Entwicklung des Nahen und Mittleren Ostens zeigt einen Wandel von imperialen Reichen zu begrenzten Nationalstaaten. Aber es gibt in der Region auch einen Irrglauben an die Wiederkehr alter großräumiger Mächte. 

Erdogans „osmanische“ Rede und Europas angebliche „Urschuld“

05. Dezember 2023

In der ersten Folge dieser Artikelserie wurde gezeigt, dass eine Fixierung der Politik auf eine definitive Lösung des Palästina-Konflikts den gesamten Nahen und Mittleren Osten in eine Konfrontation stürzen kann, dem die erreichten Fortschritte in dieser Region zum Opfer fallen würden. Diese Fortschritte beruhten auf einer Umorientierung: Die Länder konzentrierten sich stärker auf ihre Binnenentwicklung und ihre jeweiligen Eigeninteressen. Sie kamen zu bilateralen Absprachen und Kooperationen. Auch Israel hatte daran seinen Anteil. Aber es gibt auch fortdauernde große Probleme – vor allem ein Bevölkerungswachstum, mit dem der Aufbau von Industrie und Infrastrukturen nicht Schritt halten kann. So gibt es in der Region auch eine wachsende Neigung, auf eine Lösung „von höherer Hand“ zu setzen – auf die Macht von materiellen und spirituellen Hegemonen, die Schutz und Würde versprechen. Diese Neigung führt zu einer Entwertung der eigenständigen, oft zähen Binnenentwicklung im nationalstaatlichen Rahmen. Nur vor diesem Hintergrund ist verständlich, warum ein Staat wie die Türkei, der eine Zeit lang recht eng mit Israel zusammenarbeitete, inzwischen auf einem extremen Konfrontationskurs mit Israel ist. 

Erdogans „osmanische“ Rede 

Am 28.10.2023, dem Vorabend zur 100 Jahr-Feier des heutigen türkischen Staates, hat der türkische Präsident Erdogan auf einer Massenkundgebung in Istanbul eine Rede gehalten. Dort hat er nicht nur die Hamas als Organisation von „Freiheitskämpfern“ bezeichnet und Israel vorgeworfen, einen „Vernichtungsfeldzug“ gegen die Menschen in Gaza zu führen, sondern er hat auch einen weitgehenden Machtanspruch der Türkei erhoben. Im Rückbezug auf das Territorium des alten Osmanischen Reiches, erklärte er, dass „Gaza“ den Türken so nahe stünde wie „Adana“ (eine Stadt im Süden heutigen Türkei, unweit der syrischen Grenze): „Manche Leute mögen Gaza als einen fernen Ort betrachten, der mit uns nichts zu tun hat. Aber vor hundert Jahren war für diese Nation Gaza nicht anders als Adana.“ Er stellte Israels militärische Antwort auf den Überfall der Hamas als Teil eines Komplotts des Westens dar, der sich auch gegen die Türkei richte: „Unter der Oberfläche der von Israels Führung beschriebenen Konzepte wird man eine heimtückische Karte finden, die sich auf Territorien unseres Landes erstreckt.“ Erdogan behauptete, das Vorgehen Israels in Gaza sei eine Fortsetzung des „unvollendeten Plans“ westlicher Mächte, die Türkei politisch, geographisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich zu zerstückeln. Das aber bedeutet im Umkehrschluss, dass Erdogan – 100 Jahre nach der Gründung der heutigen Türkei – wieder Machtansprüche stellt, die an die Ausdehnung des im ersten Weltkrieg untergegangenen Osmanischen Reiches anknüpfen. Erdogans Rede ist also eine Revisionsrede, die hinter dem republikanischen Umbau und territorialen Rückbau der modernen Türkei zurückgehen will – also hinter jene Türkei, die der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk 1923 als seinen Erfolg angesehen hatte. Während Atatürk die begrenzte Territorialität als Voraussetzung für innere Reformen und gute Beziehungen zu den früheren Kriegsgegnern ansah, scheint Erdogan diese kluge Selbstbegrenzung nun als unnötige Nachgiebigkeit anzusehen. Er scheint auf die mobilisierende Kraft eines osmanischen Mythos zu setzen. Er rechnet offenbar damit, dass solche Ambitionen auch in den anderen Ländern des Nahen Ostens Widerhall finden. Und er setzt offenbar auch darauf, dass er die Europäer unter Druck setzen kann, wenn er ihnen wegen der Demontage des Osmanischen Reiches die Schuld an den heutigen Krisen im Nahen Osten zuweisen kann.  

Europas Selbstanklage treibt seltsame Blüten 

Wie aber sieht die europäische Antwort aus? Eigentlich sollte man erwarten, dass Europa der Wiederbelebung imperialer Großraum-Ideen durch Erdogan deutlich entgegentritt und die guten Gründe darlegt, die auch im Nahen Osten für eine moderne Ordnungsidee sprechen: für einen Pluralismus territorial begrenzter Nationalstaaten. Aber diese Erwartung täuscht. Das „postkoloniale“ Europa gibt sich schuldbewusst und sieht die eigene Schuld ausgerechnet darin, dass nach dem 1. Weltkrieg das Osmanische Reich zerlegt wurde, und die Türkei zu einem Nationalstaat wurde. In Deutschland konnte man Beiträge im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sehen, die den Positionen der Erdogan-Rede sehr nahe kommen. Es geht um einen präzisen Punkt: um die zwischenstaatlichen Grenzen im Nahen Osten. Am 29.Oktober 2023 wurden aus Anlass des 100. Jahrestages der türkischen Republik im deutschen Fernsehsender „Phönix“ (dem Politik-Sender der ARD) insgesamt vier Dokumentarfilme ausgestrahlt. Ein Film (von Gerhard Jelinek 2019 produziert) trägt den Titel „Blutige Linien – Die Grenzziehung von Sykes-Picot im Nahen Osten“. In der Ankündigung heißt es:

„Der Bürgerkrieg in Syrien, das grausame Schlachten des IS, die Fehden zwischen Sunniten und Schiiten im Irak: Der Nahe Osten ist ein Dauer-Brandherd der Welt. Gelegt wird das Feuer bereits während des ersten Weltkrieges, als England und Frankreich die Landkarten zwischen Damaskus und Bagdad im Handstreich neu zeichneten. Noch während der Erste Weltkrieg 1916 mit voller Härte tobt, ziehen der Engländer Sir Mark Sykes und der Francose Georges Picot neue Grenzlinien in den arabischen Sand. Den beiden Großmächten geht es vor allem darum, sich längerfristig Einfluss im Nahen Osten zu sichern…Die von Sykes und Picot gezogenen Grenzen werden letztlich zu den Wurzeln der späteren Katastrophe im Nahen Osten.“

Hier wird die neuere Geschichte des Nahen Osten als finstere Katastrophen-Geschichte erzählt. Und die Urschuld daran sollen die Europäer tragen – und zwar die Engländer und Franzosen, und nicht Deutschland und Österreich-Ungarn, die bekanntlich das Osmanische Reich bis zu seinem Untergang unterstützten. Und noch ein zweiter Film wurde an diesem 29.10.2023 ausgestrahlt. Sein Titel lautete „Der vergiftete Frieden – Das Ende der Osmanen“ (von Elias von Salomon 2021 produziert). Hier kann man in der Ankündigung folgende Sätze lesen:

„Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges stand neben dem Vertrag von Versailles auch ein anderer Ort für die Neuordnung der Welt: Sèvres, ein Pariser Vorort. Dort besiegelten die Siegermächte Frankreich, Großbritannien und die USA das Schicksal eines großen Imperiums: Das Osmanische Reich sollte für immer zerschlagen werden. Die Folgen sind bis heute unübersehbar: Der Nahe Osten brennt, wird von Krieg und Terror überzogen. Die Dokumentation zeigt die Fehler und ihre Auswirkungen auch hundert Jahre später auf.“    

Wenn so ein Zusammenhang zwischen „Das Osmanische Reich sollte für immer zerschlagen werden“ (Ursache) und „Die Folgen sind bis heute unübersehbar“ (Folge) hergestellt wird, ist das eine sehr steile geschichtswissenschaftliche These. Sie wird von der Darstellung nirgendwo wirklich erhärtet. Die Konstruktion einer europäischen Urschuld besteht nur in ahnungsvollem Geraune. 

Der Mythos von den „bösen Grenzen“ 

Der Kern des Schuldvorwurfs beruht auf der Grundidee der „bösen Grenzen“. Worin soll das Böse bestehen? Der Schuldvorwurf vermengt zwei sehr unterschiedliche Dinge. Einerseits wird der konkrete Verlauf der neuen Grenzziehungen angeklagt – weil der Verlauf manche ethnisch-kulturellen Zusammenhänge nicht respektiert. Andererseits wird überhaupt der Rückbau des Osmanischen Reiches auf einen kleineren Territorialstaat zum Anklagepunkt. Hier besteht der Vorwurf darin, dass die neuen Grenzen engere Grenzen sind. 

Einerseits wird also den Verantwortlichen bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg vorgeworfen, sie hätten hinsichtlich der Realitäten vor Ort weder Ahnung noch Respekt gehabt. Doch ein Kartenvergleich der heutigen Grenzen im Nahen Osten zeigt, dass sich die konkreten Grenzverläufe inzwischen erheblich verändert und verfeinert haben – im Zuge der fortschreitenden nationalen Unabhängigkeitsbewegungen im Laufe des 20. Jahrhunderts. Auch müsste hier angemerkt werden, dass die ethnischen Unterschiede prinzipiell nicht 1:1 in räumliche Grenzen übersetzt werden können: Entweder würde eine solche Übersetzung zu sehr komplizierten Linienverläufen mit allen möglichen Enklaven führen, oder sie würden gar nicht funktionieren, weil sich die ethnischen Zugehörigkeiten in ein und demselben Raum mischen. Dies Problem können die Territorialstaaten nur verringern, indem sie in der Regel nicht allzu große Territorien bilden (also das Problem einer „Überdehnung“ vermeiden), oder indem sie im Innern eine gewisse regionale oder lokale Selbstregierung gestatten (durch Subsidiarität und Föderalisierung). 

Doch die These von den „bösen Grenzen“ will von dem räumlich-institutionellen Problem der Überdehnung nichts wissen, sondern erhebt einen Generalvorwurf gegen jeden Rückbau eines Reiches. Hier geht es der Kritik also um etwas prinzipiell Verwerfliches von Grenzziehungen. Demnach hätten die Europäer an die Stelle des Osmanischen Großreiches irgendwie „das Trennende“ (soll bedeuten „das Spaltende“) gesetzt, um dort nun zu herrschen. Damit begibt sich die Kritik auf das Gleis einer umfassenden Geschichtsrevision. Denn wenn die Auflösung des Osmanischen Reiches und der territoriale Rückbau der Türkei als „Wurzel der Katastrophen“ und bloßes Mittel zur Errichtung neuer Fremdherrschaft dargestellt wird, müsste man das auch vom zeitgleichen Ende des Habsburger Reiches oder – ein Jahrhundert vorher – vom Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und vom Ende des spanischen Weltreiches sagen. Mitten in Europa sind also Geisterfahrer der neuzeitlichen europäischen Geschichte unterwegs. 

Wie das Osmanische Reich verklärt wird 

Bereits im Jahre 2016, zum hundertsten Jahrestag des Sykes-Picot-Abkommens, erschienen in verschiedenen deutschen Zeitungen Artikel, die dieser Argumentation der „fatalen Folgen“ des territorialen Rückbaus des Osmanischen Reiches folgten. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien am 15.5.2016 ein Artikel von Rainer Hermann unter dem Titel „Imperialer Federstrich – Wie die Großmächte keine neue Friedensordnung im Nahen und Mittleren Osten schufen“. Der Schlussabsatz zeigt exemplarisch die Verklärung, die heutzutage auf einmal wieder das osmanische Herrschaftssystem erfährt:

„Diese Gebiete waren unter osmanischer Herrschaft relativ friedlich gewesen. Die Osmanen hatten durch eine kleinteilige Aufteilung des Gebiets Konflikten vorgebeugt, die entstehen, wenn viele unterschiedliche Gruppen in einem Staat zusammenlebten. Zudem wurden die kleinen Einheiten effizienter verwaltet. Die Kolonialmächte hatten das nicht begriffen: Sie legten drei osmanische Provinzen zusammen und nannten das Gebilde dann Irak. Drei andere Provinzen hießen nun Syrien, ohne dass es solche Nationen gegeben hätte. Um diese künstlichen Gebilde zusammenzuhalten, bedurfte es erst der Kolonialstaaten, dann repressiver Diktaturen. Als diese wegfielen, stürzte die Region in Krieg und Chaos. Der Westen versucht zwar, die alte Ordnung in den hundert Jahre alten Grenzen zu retten. Eine neue, stabile Ordnung, die an Sykes-Picot anknüpfen könnte, zeichnet sich aber nicht ab.“ 

Entwicklungen, die der „postkoloniale“ Zeitraffer unterschlägt 

Dem idyllischen Bild, das hier von den Provinzen unter osmanischer Herrschaft gezeichnet wird, wird in dem Artikel das Bild eines fatalen 20.Jahrhunderts gegenübergestellt, in dem der Nahe Osten als Gefangener einer Raumordnung dargestellt wird, die der europäische Kolonialismus vorgegeben haben soll. Ein erstaunlicher Zeitraffer ist in dieser „postkolonialen“ Geschichtsschreibung am Werk. Sie erzählt etwas von 1916 und macht dann einen großen Sprung in unsere Gegenwart: Was dazwischen geschah, erscheint als bloße Fußnote. Das ist eigentlich recht geringschätzig und lieblos gegenüber einer großen Region dieser Welt. Deshalb sollen hier einige Realitäten benannt werden, die im „postkolonialen“ Zeitraffer unterschlagen werden: 

  • Syrien wurde, zusammen mit dem Libanon, in den 1920er Jahren als Mandatsgebiet des Völkerbundes an Frankreich übertragen. 1946 wurde es unabhängig. Der Libanon erhielt 1926 seine Eigenstaatlichkeit und 1943 die volle Unabhängigkeit (Er war Gründungsmitglied der Vereinten Nationen). Der Irak wurde ab 1921 zum Königreich Irak, dann ab 1958 zur Republik. Zu einer Beherrschung durch Frankreich oder Großbritannien kam es also gar nicht.  
  • Es gab in den 1950er Jahren verschiedene Versuche grenzüberschreitender Zusammenschlüsse: Irak und Jordanien („Arabische Föderation“); Syrien und Ägypten („Vereinigte Arabische Republik“). Sie wurden nach kurzer Zeit wieder aufgelöst. Die Grenzen erwiesen sich als dauerhafter als der Panarabismus. Zugleich fand der verheerendste Krieg im Nahen Osten (der Iran-Irak-Krieg) an einer Grenze statt, die viel älter ist als die Sykes-Picot-Linie.
  • Die heutigen Konflikte in der Region gehen meistens auf innere Bruchlinien zurück. Die drohende Gefahr ist der Zerfall der jungen Staaten. Wieso ein Rückgriff auf ein übergeordnetes, besonders ausgedehntes Großraum-Gebilde vor dem Zerfall besser schützen soll, ist nicht einzusehen. 
  • Alle Staaten des Nahen Ostens können im Jahrhundert-Rückblick erhebliche Fortschritte beim Bruttoinlandsprodukt aufweisen. Die Infrastrukturen von Verkehr, Wasserversorgung, Bildung und Gesundheit sind heute auf einem viel höheren Niveau. Aber die Bevölkerungsentwicklung lief noch schneller. Sie hat sich inzwischen von der Entwicklung der Wirtschaft und des Staatswesens entkoppelt. Die Bevölkerungszahlen von Syrien sind ein Beispiel: 1918: 1,5 Mio – 1938: 2,5 Mio – 1970: 6,3 Mio – 2010: 20,9 Mio. Diese Zahl erhöhte sich bis 2021 nur wenig (21,3 Millionen), was dem Bürgerkrieg und der Massenflucht zuzuschreiben ist. Für den Irak liegen mir folgende Zahlen vor: 1957: 6,7 Mio – 1977: 12,0 Mio – 1997: 22 Mio – 2010: 29,6 Mio. Hier sind die Zahlen von 2021 sehr stark gestiegen: 43,5 Mio. (2010).

Insgesamt spricht das alles nicht dafür, das gesamte Jahrhundert seit 1916 als Irrweg für den Nahen und Mittleren Osten zu werten. Es spricht – trotz einer ernsten Entwicklungskrise – durchaus dafür, die bestehenden Territorial-Staaten als souveräne und selbstverantwortliche Träger der Entwicklung zu stärken. Und damit die pluralistische Staaten-Welt im Nahen Osten weiter zu festigen.   

Imperiale Großraum-Ordnung oder plurale Ordnung begrenzter Nationalstaaten?

Die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens ist also keine ewige Wiederkehr imperialer Großräume, sondern es gibt eine Ordnungs-Alternative: Auf der einen Seite das Gesamtgebilde eines Reichs, auf der anderen Seite eine plurale Ordnung, deren Träger territorial begrenzte, selbstverantwortliche Nationalstaaten sind. Für diese Alternative ist die Türkei ein Schlüsselort geschichtlicher Erfahrung. Die Auflösung des Osmanischen Reiches und der territoriale Rückbau der Türkei hat wichtige Fortschritte möglich gemacht. Eine Revision dieses Rückbaus würde die Region in unlösbare Hegemonial-Konflikte stürzen. 

Aber wie sieht es eigentlich in Europa aus? Man sollte meinen, hier wäre die Alternative längst entschieden. Die plurale Ordnung auf Basis begrenzter Territorialstaaten hätte definitiv die Oberhand gewonnen. Die Auseinandersetzung mit der Reichs-Ordnung sei erledigt. Die Großraum-Träume seien in Europa ausgeträumt. Aber dem ist nicht so. 

(dazu mehr in der dritten und letzten Folge dieser Artikelserie)