Die Kanzlerin spricht

Es lebe die Ignoranz

 

Ein Satz ist nur ein Satz, doch manchmal sagt er mehr als eine ganze Regierungserklärung. So einen Satz hat kürzlich die Kanzlerin gesprochen, als sie das Gutachten des Sachverständigenrats zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung entgegenzunehmen hatte. „Es ist nicht ganz trivial zu verstehen“, bekundete Frau Merkel den versammelten Journalisten, „wie ein Beschluss, der noch nicht in Kraft ist, jetzt schon eine konjunkturelle Dämpfung hervorrufen kann“. Wenn also die Sachverständigen einen Zusammenhang zwischen dem 2015 in Kraft tretenden Mindestlohngesetz und der Eintrübung der Wirtschaftslage herstellen, so sei das prinzipiell verfehlt.

 

Der Sache nach ist eigentlich alles klar. Die Kanzlerin hat Unrecht, die Wissenschaftler haben Recht. Es gehört zum Grundbestand ökonomischen Wissens, dass Maßnahmen, die die Wirtschaftsbedingungen ändern werden, von den Marktteilnehmern in ihrem Handeln vorausschauend berücksichtigt werden („antizipieren“ ist der Fachausdruck). Solche Wirkungszusammenhänge darzustellen, ist Aufgabe der Sachverständigen. Es geht an dieser Stelle auch nicht um einen Einzelfall. Wenn Frau Merkel das Argument streichen will, dass eine zukünftig drohende Kostenbelastung das aktuelle Wirtschaften belastet, dann sind wir mitten in der Schuldenkrise. Und auch zur Streichung eines zweiten Arguments ist es nicht weit – der Streichung des Arguments nämlich, dass ein Land Ordnung braucht und dass sein Gang ohne verlässliche Eigentums- und Mobilitätsrechte, ohne dauerhaften Schutz der Sozialkassen vor Missbrauch, ohne berechenbare Außenpolitik jeden Tag ein bisschen unsicherer und missmutiger wird.

 

Doch ist hier nicht allein das „Was“ der Aussage bedeutsam, sondern auch das „Wie“. Frau Merkel tritt im aufgebrezelten Wortgewand auf und verbirgt darunter eine ganz hausbackene Logik (Wie kann etwas, was noch gar nicht Kraft ist, schon eine Wirkung haben?). Das völlig sinnlose Hantieren mit dem Wort „trivial“ soll das Terrain der gutachtenden Wissenschaftler besetzen, während in der Sachfrage eine platte Milchmädchen-Physik regiert. Ja, hier spricht die Macht und sie spricht mit beträchtlicher Dummheit zu einem wissenschaftlichen Lageurteil, das bisher im institutionellen Gefüge der Bundesrepublik eine gewichtige Rolle hatte. Wer dachte, das abschätzige Urteil über „ein paar Professoren“ sei nur Parteitaktik gegenüber der AfD gewesen, sieht sich jetzt eines besseren belehrt. Die Wissenschaft selber ist im Visier. Eine Regierung, die sich sowieso recht viel damit beschäftigt, ob das Volk wohl das Richtige denkt, steht auf Kriegsfuß mit jeder unabhängigen Erkenntnisgewinnung. Nicht zufällig erklärte am gleichen Tag die Generalsekretärin der SPD, Frau Fahimi, das Wirtschaftsgutachten sei „in seiner ganzen Methodik nicht mehr auf der Höhe der Zeit“. Ja, in diesen Tagen lassen die Regierenden das Volk wissen, dass sie von der Wissenschaft nur noch dann etwas halten, wenn sie sich mit ihnen „auf der Höhe der Zeit“ ins gleiche Boot setzt und – wie sagte noch Herr Schäuble? – „auf Sicht segelt“.

 

Na gut. Wenn die Kanzlerin sich dumm stellt, kann das Land sich darauf seinen eigenen Reim machen. Ignorieren wir die Ignoranz. Hören wir auf, in der immer weiter verdünnten Suppe der Merkeljahre noch mühsam nach Substanz zu fischen. Mal ehrlich: Wer hört denn eigentlich noch genauer hin, wenn diese Kanzlerin ans Mikrophon tritt?


(Manuskript vom 17.11.2014, erschienen auf der Internetplattform „Die Achse des Guten“ am 18.11.2014)