Während die Regierenden bei allen ihren großen Rettungs-Projekten – Euro, Klima, Migration – nur hohe Kosten und hoffnungslose Verwirrung zustande gebracht haben, wird einfach ein neues Thema ausgerufen: Alles wird gut, wenn es nur „europäisch“ gemacht wird.   

„Europa“ als Beschwörungsformel

13. März 2019

Unmerklich, aber mit erstaunlicher Geschwindigkeit hat sich die politische Landschaft verschoben. Zumindest gilt das für die „Themen“, auf die der tonangebende Block in Politik, Wirtschaft und Kultur setzt, um seine Hegemonie zu behaupten. Es ist eigentlich nur ein Thema – gewissermaßen nur ein Wort – auf das in diesen Wochen die ganze Politik zusammenschrumpft: „Europa“. Mit der Größe „Europa“ soll das entscheidende Gefecht veranstaltet werden, um die Opposition definitiv auf eine Randgröße zu reduzieren. Zugleich soll ein europäischer Imperativ errichtet werden, in dessen Schatten all die Mühen der Ebene, die die regierende Mehrheit nicht bewältigt, aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden.

Die Überschuldung, an der man sich Zähne ausbeißt, soll sich auf einmal, wie durch wundersame Fügung, dadurch erledigen, dass man sie „europäisch“ angeht. Desgleichen die grenzüberschreitende Massenmigration, wo die heutigen Probleme der Abwehr an den Außengrenzen sich dadurch erledigen sollen, dass man „europäische“ Außengrenzen hat. Ähnliches gilt für die hartnäckigen Probleme, die es bei der Bekämpfung des Terrorismus, bei der Deindustrialisierung ganzer Länder oder bei der zunehmenden Krisenanfälligkeit der Infrastruktur gibt.

Eine Verschiebung ins „Große“

Alle diese realpolitischen Aufgabenfelder, die sich in den verschiedensten Größenordnungen zwischen kleinräumig und großräumig erstrecken, sollen nun durch eine politische Verschiebung bearbeitet werden, von der man eigentlich nur sagen kann, dass sie irgendwie eine Verschiebung „ins Große“ ist. Ja, das neue Politikthema der Regierenden bedeutet, wen man es einmal nüchtern auf seinen sachlichen Kern bringt, nichts anderes als ein Größe-Versprechen. Suggeriert wird, dass die heutigen Probleme nur durch einen größeren Politikrahmen lösbar seien.

Und in dem Moment, wo man die laufenden Europa-Kampagne einmal so nüchtern auf ihren sachlichen Kern hin überprüft, wird sofort klar, dass diese Politikverschiebung nichts lösen kann und wird. Das Superthema „Europa“ ist eigentlich ein Nonsens. Es ist eine Beschwörungsformel und auch eine Flucht vor der Realität. Eine Flucht ins Große.

 

Die kuriose Bekehrung der CSU

Die Vision „Europa“ soll die schlechte Realität in ein gutes, warmes Licht tauchen. Auf einmal soll alles auf einem guten Weg sein. Der Euro, die Grenzöffnung, die Energiewende – alles ist nun eine Erfolgsgeschichte. Die kritischen Stimmen werden nun „europäisch“ in ihr Gegenteil verkehrt. Einen kuriosen Beleg dafür liefert die CSU, die nun auf einmal die Massenimmigration nach Deutschland zur Erfolgsgeschichte erklärt.

Wem die Beschwörung des Großen schmeichelt

Die Beschwörung des Großen ist historisch nichts Neues. Sie appelliert an jene Milieus in der Mitte der Gesellschaft, die über keine wirklichen Erfahrungen mit den Bedingungen und Grenzen großräumigen Handelns hat, aber sich doch gerne vom „Großen“ (und vom Mitreden auf höchsten Kommandohöhen) faszinieren lässt. So kehrt das, was man früher bisweilen als „kleinbürgerlich“ bezeichnet hat, heute in neuer Gestalt bei unseren globalisierenden „urbanen Mittelklassen“ wieder. Tatsächlich ist im Inneren unserer Metropolen der Glaube an europäische Lösungen (und andere Global-Themen) viel stärker als in der Peripherie. Hier findet auch ein merkwürdiger Spagat statt: Auf der einen Seite nehmen, beruflich und privat, die Einzelexistenzen zu, aber ausgerechnet diese glauben gerne, einen unmittelbaren Zugang zu globalem Wissen und Entscheiden zu haben. Dieser Unmittelbarkeits-Glaube kennt keine institutionellen Grenzen und Vermittlungen mehr. Hier ist man unmittelbar zum Weltganzen. Von dieser Art ist der Glaube, der jetzt „für Europa“ marschieren soll, ohne Rücksicht auf die Verbindlichkeit von Verfassungsstaaten, Volkswirtschaften und Sprachkulturen. Diese Verbindlichkeit soll nur noch als „nationalistische“ Engstirnigkeit gelten.

Eine Umkehr der Bringschuld

Mehr noch, man macht diese angebliche nationalistische („populistische“) Engstirnigkeit dafür haftbar, dass das Wundermittel „Europa“ nicht zum Zuge kommt. Man tut so, als habe man bereits bewiesen, dass „mehr Europa“ die richtige Antwort ist. Und dies Gute, das schon auf dem Weg ist, würde nun durch den bösen „Nationalismus“ aufgrund irgendeiner dämonischen Macht zu Fall gebracht. Das ist die neue Dolchstoßlegende. Hier ist oft zu hören, dass es bei so großen Themen in der heutigen Politik (und Wirtschaft) vor allem auf „Vertrauen“ ankomme. Und dass die bösen Nationalisten eben dies Vertrauen zerstörten. Merken Sie, verehrte Leser, den Trick? Unter der Hand haben diejenigen, die nicht mehr von den Anforderungen der politischen Verbindlichkeit sprechen, sondern von „Vertrauen“, die Bringschuld umgekehrt. Eigentlich müsste das europäische Projekt beweisen, dass es eine verbindliche und haftbare Einheit sein kann. Wenn es aber um Vertrauen geht, müssen Sie, die Bürger, sie als Vorschuss geben. Die Bringschuld liegt bei Ihnen. Und wenn das große Europa scheitert – dann sind Sie schuld…

Eine Drohkulisse für die Europawahlen

Man hört und liest jetzt häufig die Formel, das es in diesem Frühjahr „um eine Richtungswahl in Europa“ gehen soll, aber es werden gar keine echten Richtungs-Alternativen angeboten. Der Parteienblock „Mehr Einheit für Europa“ versucht gar nicht zu belegen, was ein Einheitseuropa besser machen kann, sondern beschwört nur die Gefahr, die irgendwie in den Nationen Europas schlummern soll. Die Beschwörungsformel „Europa“ immer mehr zur Negativ-Beschwörungsformel „Gegen den Nationalismus“. So wird dem Wahlvolk eigentlich keine Entscheidung vorgelegt, sondern ein Plebeszit abgenötigt: ein „Bekenntnis für Europa“.

Die Macron-Vorschläge führen zum einem europäischen Parallel- und Scheinstaat

Aber hat Macron in seinem Brief an die „Bürgerinnen und Bürger Europas“ vom 5. März nicht weitreichende institutionelle Reformen vorgeschlagen? Ein genauerer Blick in den Text (unter anderem erschienen in „Die Welt kompakt“ vom 5.3.2019) zeigt, dass Macron die Frage nach allgemein-verbindlichen Entscheidungen und nach einer staatlichen Gesamtverantwortung auf europäischer Ebene überhaupt nicht beantwortet. Stattdessen schlägt eine Reihe von zusätzlichen Räten und Agenturen vor (eine „Agentur zum Schutz der europäischen Demokratie“, einen „Europäischen Rat für innere Sicherheit“, einen „Europäischen Innovationsrat“ usw.). Er schlägt also eine Parallelstruktur neben den verfassungsstaatlichen Strukturen der EU-Mitglieder vor. Und seine Räte und Agenturen haben weder die Verbindlichkeit, noch die Transparenz und Verantwortlichkeit einer verfassungsstaatlichen Ordnung. Macron erzeugt seine politische „Größe“ also nur dadurch, dass er alle republikanischen Mindestanforderungen aufgibt. Seine europäische Politik ist eine Politik ohne Staat. Eine Politik, in der die Willkür regiert. Man sollte sich den tiefen Zorn, der sich innerhalb Frankreichs gegen den Parvenu Macron ausgebreitet hat, einmal im europäischen Maßstab vorstellen.

Warum die Europa-Beschwörung nichts mit der deutsch-französischen Freundschaft zu tun hat

Die französische Regierung profiliert sich „europäisch“, und die deutsche Regierung hat diesem Kurs nichts Substanzielles entgegenzusetzen. Berlin beschränkt sich darauf, einigen Vorschlägen nur halb zuzustimmen – aber in der Grundrichtung „mehr Einheits-Europa“ ist man mit Paris einig. So ist es zu einer Art europäischem Führungsduo gekommen. Das wird gerne als deutsch-französische Freundschaft verstanden, aber mit Deutschland und Frankreich hat die Vision „Europa“ gar nichts im Sinn. Die beiden Nationen zählen dort ja gar nicht mehr, sondern sind unter den Generalverdacht gestellt, Brutstätten von Nationalismus und Krieg zu sein. Aber ist es nicht umgekehrt: Werden sich nicht gerade in dem Riesenkomplex des Einheits-Europas unkontrollierbare Mächte bilden? Wohnt hier nicht schon eine zunehmende Willkür von „Richtlinien“ und „Verordnungen“, für deren Folgen in den Ländern Europas niemand verantwortlich ist?

Die Richtungsfrage in Europa offen und nüchtern stellen

Man sollte Propaganda-Alternative „europäisch oder nationalistisch“ durch die nüchterne Frage ersetzen, welche Größe für verbindliche politische Entscheidungen und verantwortungsfähige staatliche Einheiten angemessen und zukunftsfähig ist. Oder anders gesagt: Brauchen wir jetzt in Europa eine Mehr an Einheitlichkeit oder ein Mehr an Pluralismus? Dazu gehört auch die Bestandsaufnahme, wo zwischen Einheitlichkeit und Pluralismus das heutige Gebilde namens „Europäische Union“ einzustufen ist. Denn die Beziehungen in Europa haben sich seit den 1950er Jahren mehrfach stark geändert. Das heutige EU-System ist etwas fundamental anderes als die Europäischen Gemeinschaften, die als Antwort auf die Erfahrungen zweier Weltkriege geschaffen wurden. Die forcierte Verflechtung des heutigen EU-Systems kann für sich gar nicht beanspruchen, die Friedensantwort auf zwei Weltkriege zu sein. Insbesondere nach 1989 wurde die Vereinheitlichungs-Schraube stärker angezogen, und sie hat uns das beschert, was nun als „Europa“ gelten soll.

 

(erschienen in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick“ am 15.3.2019)