Ein Welthandel, der wesentliche Wirtschaftsfaktoren der teilnehmenden Länder außer Wert setzt, braucht Begrenzungen – im Namen der ökonomischen Vernunft und der Freiheit. (Die Neuverhandlung der Weltwirtschaft, Teil I) 

Freihandel ist nicht alles

In diesem Text geht es nicht um eine Personalfrage sondern um eine Sachfrage. In Sachen Weltwirtschaft haben diejenigen, deren einziges Problem gegenwärtig „Trump“ zu sein scheint, eigentlich nur eine triviale Zweiteilung zu bieten: „Offenheit“ (gut) gegen „Abschottung“ (schlecht). Doch die Frage, wie die zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen in der Welt aussehen sollen, lässt sich mit dieser Zweiteilung nicht erledigen. Eine Neuverhandlung steht, angesichts wachsender Einseitigkeiten, ernsthaft im Raum. Diese Aufgabe steht auch deshalb im Raum, weil nach dem Erfolg des Brexit-Referendums und der Wahl von Donald Trump nun konstruktiv erwiesen werden muss, dass es eine wirtschaftliche Alternative zur gegenwärtigen Entwicklung gibt.

Der Grundgedanke dieses Artikels (dieser Artikelfolge) ist folgender: Wenn ein unbeschränkter Freihandel wesentliche Wirtschaftsfaktoren von Ländern oder Weltregionen außer Wert setzt, dann können Beschränkungen vernünftig sein. Sie können wirtschaftlich vernünftig sein – sie können ökonomischer sein als ein grenzenloser Freihandel. In diesem Beitrag wird ein globaler Freihandel also nicht im Namen einer verletzten „sozialen Gleichheit“ kritisiert. Auch nicht im Namen einer verletzten „ökologischen Ordnung“. Nicht eine Moralisierung der Ökonomie ist das Anliegen, sondern eine wirklich ökonomische Ökonomie. Eine Weltwirtschaftsordnung, die viele Ressourcen und Fähigkeiten brachlegt, ist in der Gesamtbilanz unökonomisch, selbst wenn sie etliche hocheffiziente Wertschöpfungsketten enthält. Denn die brachgelegten produktiven Kräfte und Anlagen wiegen schwerer.

Wenn man das Ausmaß der Schieflage sieht, die sich in der heutigen Welt entwickelt hat und sich immer noch weiter verschärft, liegt der Gedanke nahe, dass etwas mit der Freihandels-Idee nicht stimmt. Tatsächlich ist die Ordnungsvorstellung „Freihandel“ im Grunde erstaunlich trivial: Eine einfache Warenbewegung soll eine Weltwirtschaft regulieren, die sehr komplexe Vorgänge erfordert – große Vorleistungen, lange Entwicklungen, fragile Bildungsprozesse von Kapital und Arbeit. Es ist hochgradig unwahrscheinlich, dass das durch eine Steigerung von simplen Tauschbewegungen dargestellt werden kann. Ohne strukturierende Grenzen besteht eine hohe Kurzschluss-Gefahr (und das gilt auch für regulative Ideen wie „Offenheit“ oder „Vernetzung“).

Aus dieser Kritik ergibt sich die Richtung, in der eine Alternative zu suchen ist. Die Alternative kann nicht einfach im platten Gegenteil von Offenheit bestehen („Abschottung“). Sie kann auch nicht in einer detaillierten Steuerung der gesamten Weltwirtschaft bestehen. Eine solche Steuerung wäre ein viel zu komplexes, starres und undurchschaubares Unternehmen, wie man bei den TTIP-Versuchen sehen konnte. Die Ordnungselemente müssen einfacher und transparenter sein, damit die Akteure (auch die kleineren Akteure) ihre Anwendung kontrollieren und mit ihnen kalkulieren können. Exakt an dieser Stelle wird der Einsatz von flexiblen Öffnungen und Schließungen im Außenhandel (durch Zölle, aber auch durch Obergrenzen) wieder aktuell. Damit wird überhaupt die Unterscheidung zwischen Binnenhandel und Außenhandel wieder wichtig. So kann anstelle der monotonen Einheitsmarkt-Politik der gegenwärtigen Globalisierung ein Pluralismus der Märkte entstehen kann.

Für eine Neuverhandlung der Weltwirtschaft gibt es also tatsächlich Raum für neue Abwägungen. Welche Vorteile kann eine Wirtschaftsordnung haben, die mit der Unterscheidung von Binnenmärkten und Weltmarkt arbeitet? Was sind die Nachteile und Kosten, die eine solche Unterscheidung unvermeidlich auch enthalten wird?

Im Folgenden sollen dazu einige Materialien und Überlegungen vorgestellt werden – soweit dies dem Autor (der kein Fachökonom ist) möglich ist. In diesem ersten Artikel geht es um einen Mechanismus, durch den der Freihandel einen zerstörerischen Charakter bekommt. Es soll am Beispiel des Verhältnisses China-USA gezeigt werden, wie dieser Mechanismus in der Realität feststellbar ist. Und welche historischen Ausmaße er erreicht hat. Damit soll auch gezeigt werden, dass hinter der Wahl von Donald Trump ein gutes Stück ökonomische Vernunft steht.

Der chinesische Staubsauger

Am 27.1.2017 sendete das Magazin „Makro“ (beim Fernsehsender 3Sat) eine Ausgabe unter dem Titel „China-Beben“. Darin wurde ein chinesisches Stahlwerk gezeigt, eins der Größten der Welt, das gegenwärtig nicht ausgelastet ist und das deshalb exemplarisch ist für viele Produktions-Überkapazitäten des Landes. Chinas Lösung: Es wirft Stahl zu Niedrigstpreisen auf den Weltmarkt – mit der Gefahr, weltweit andere Stahlproduzenten noch weiter zu verdrängen als bisher. Ein zweiter Filmbeitrag zeigte eine chinesische Schuhfabrik in Äthiopien. Ein Riesenbetrieb, abgeschlossen von der Umgebung, mit chinesischer Betriebsleitung und einer regelrechten Armee afrikanischer Arbeiter (der Film zeigte die Massenübungen in Reih und Glied auf einem großen Platz in der Fabrik). Die Schuhe waren nicht nur für den äthiopischen Markt bestimmt, sondern für die Großregion Afrika-Nahost-Europa. Die beiden Beispiele mögen extrem sein, aber sie zeigen eine bestimmte Konstellation: Es ist heute möglich, mit extremer Effizienz von einigen wenigen Orten globale Märkte abzudecken. Diese Möglichkeit wächst, wenn fundamentale Zivilisationsunterschiede im Spiel sind (geringere „Schmerzgrenzen beim Arbeitsdrill und der Entlohnung). So kommt es nicht nur zu einer Verdrängung von Wettbewerbern, sondern zu einer Umdefinierung der Märkte. Das kann man einen Staubsauger-Effekt nennen.

Dies Beispiel sollte man vor Augen haben, wenn man über die sogenannte „internationale Arbeitsteilung“ spricht und über die Weltwirtschaft der Gegenwart. Wenn heute China als „Werkbank der Welt“ bezeichnet wird, so widerspricht das im Grunde der Idee der Arbeitsteilung. Es wird nichts geteilt, sondern es wird etwas extrem zusammengezogen. Ein Land zieht einen Großteil der industriellen Güterproduktion der Welt auf sich. Gewiss ist das Bild etwas überzogen und die Konzentration auf China verdeckt, dass hier eine größere Ländergruppe mitwirkt. Aber es gibt diese Industrie-Konzentration auf den ostasiatischen Teil der Welt, die als ihre Kehrseite eine starke De-Industrialisierung anderer Teile der Welt bewirkt. Dieser Staubsauger-Effekt ist zum Beispiel in den Leichtindustrien des Mittelmeerraums (Textil, Schuhe, Elektroartikel, Einrichtungsbedarf, Spielzeug…) seit vielen Jahren unübersehbar. Und er hat sich längst auf andere Bereiche (Schwerindustrie, Schiffbau, Automobile, Werkzeugmaschinen, Solarzellen) ausgedehnt und erobert inzwischen auch hochentwickelte Hightech-Segmente. Es handelt sich also nicht darum, dass nur ein begrenztes unteres Segment der Industrie konzentriert wird (und andere Segmente woanders wachsen). Es handelt sich auch nicht mehr um eine Ausgleichsbewegung gegenüber dem vorherigen Industriemonopol Europas und Nordamerikas. Vielmehr wird – in einem welthistorischen Trend, dessen Dynamik noch nicht erschöpft ist – die Industrie in ihrer ganzen Breite einseitig auf dem Erdball verteilt. Und damit wiederum wird ein wesentlicher Teil der Realwirtschaft einseitig verteilt, mit verheerenden Konsequenzen für andere Länder. Eine Entwertung, eine Brachlegen und schließlich ein gänzliches Verschwinden produktiver Kräfte findet statt. Das gilt für die menschlichen Fähigkeiten, für das Anlagekapital, für die Stadt- und Landschaftsentwicklung, für die kulturellen Ressourcen auf der Schattenseite der Konzentration. Ganze Länder „können nicht mehr Industrie“. In ihrem Denken spielt auch der Begriff „Wertschöpfung“ keine wichtige Rolle mehr.

Die De-Industrialisierung der USA

Diese Schattenseite der gegenwärtigen Globalisierung lässt sich exemplarisch in den USA beobachten, wobei dies Beispiel deshalb von besonderer Bedeutung ist, weil es sich um die industrielle Führungsmacht des 20. Jahrhunderts handelt. Die Außenhandelsbilanz (Warenexport minus Warenimport) bildet zwar nicht das ganze Wirtschaftsgeschehen ab, aber sie besagt etwas über die industrielle Stabilität eines Landes und damit auch über einen entscheidenden Teil seiner realwirtschaftlichen Grundlage.

Warenimporte und -exporte der USA, Januar bis November 2016 (in Milliarden Dollar)

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Das ist das Ergebnis eines längeren Prozesses. Vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2010 sank der Anteil der USA am Weltexport von 17,4% auf 11,4%. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil Chinas (ohne Hongkong) von 5,6% auf 14,1%. Das Handelsbilanzdefizit der USA entwickelte sich seit 1987 folgendermaßen:

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Noch bis Mitte der 1970er Jahre ist die Handelsbilanz der USA nahezu ausgeglichen gewesen. Nach einer Studie des MIT (zitiert von Philip Plickert in der FAZ vom 12.11.2016) haben die Importe aus China die USA seit dem Jahr 2000 zwei Millionen Arbeitsplätze gekostet.

Verschuldung ohne Perspektive

Offenbar gelingt es den USA auch nicht, die Defizite in der Handelsbilanz anderweitig auszugleichen. Der Beleg dafür sind die wachsenden Staatsschulden. Der Schuldenstand stieg von 2007 61,9% auf 2011 94,8% der BIP. Im Jahr 2016 betrugen die US-Staatschulden 108,2% des BIP. Dabei gibt es eine zunehmende Globalisierung der Schulden. Die USA finanzieren ihre Schulden zunehmend aus dem Ausland (insbesondere durch den Verkauf von Staatsanleihen an China). Offenbar führt die Verschuldung nicht zu einer Wiedergewinnung verlorenen wirtschaftlichen Terrains, insbesondere nicht im produzierenden Gewerbe. Sie führt nicht zu einer Wiederherstellung der Kapitalbildung durch die produktiven Kräfte der eigenen Wirtschaft. Sie ist keine vorübergehende Sanierungs-Verschuldung. Es gibt keine absehbare Wende im Rahmen dieser Entwicklung. Was in den USA in den letzten Jahrzehnten geschehen ist, ist nicht nur ein kleiner Strukturwandel, der bestimmte Regionen verlieren und andere Regionen gewinnen lässt, sondern ein wirklicher Abbau der Produktivkräfte des Gesamtlandes.

Eine neue Kalkulation des Außenhandels

Damit sind die Außenhandelsrechnungen, die von viel Umsatz auf wirtschaftliche Produktivität schließen, irrig. Das Problem kann nicht durch quantitative Steigerungen des Welthandels und durch eine bloße Umverteilung von Handelsgütern und Handelspartnern gelöst werden. Auf dem Weltmarkt stehen weder die Güter noch die Länder zur Verfügung, die die Industrialisierungsverluste in einem Land wie den USA kompensieren könnten. Sind bestimmte Branchen verloren, fehlt die Voraussetzung für ein neues Geben und Nehmen. Die neue Aktivitäten stehen nicht (oder nicht im gleichen Maß) zur Verfügung. Deshalb muss jetzt anders abgewogen werden. Die ökonomische Rationalität muss den Verlust von produktiven Anlagekapazitäten und Fähigkeiten in ihre Kalkulation mit einbeziehen. In der Waagschale liegt auch der Erhalt der eigenen Industrie, auch wenn diese nicht so billig produzieren kann wie China. Wenn der Totalverlust von Aktivitäten und des entsprechenden Vermögens (der „assets“) droht, kann auch eine gewisse Verteuerung von Gütern vernünftig sein. Eine Weiterbeschäftigung der eigenen Industrie durch Importbegrenzungen kann – in richtiger Dosierung – ökonomischer sein als eine Nicht-Beschäftigung (und ein Verfall) der eigenen Industrie und eine unbegrenzter Einfuhr billiger Importgüter. Die Entscheidung für Außenhandelsbeschränkungen ist unter diesen Umständen rational. Sie rettet das produktive Vermögen der eigenen Nation, nicht zuletzt auch ihre historische erworbene Arbeitsfähigkeit und .Industriemoral“. Sie erfolgt im Namen einer aktiven, produktiven Freiheit. Der Raum für eine wirtschaftspolitische Alternative ist also da.

Man ahnt schon das Ende und will nicht die Wende

Im Jahr 2002 erschien in der FAZ (21.2.2002) ein Artikel zum Handelsbilanzdefizit der USA, der die Überschrift trug: „Amerikas Mut zur Lücke“. Der Artikel ist nicht deshalb bemerkenswert, weil er besonders extrem oder umfassend ist, sondern weil er exemplarisch ist für die Problemsicht in der Vergangenheit. Der Autor, Marco Dettweiler, schreibt:

„Die Amerikaner benötigen also rein rechnerisch pro Tag ungefähr eine Milliarde Dollar vom Ausland, um ihre Einfuhren zu finanzieren. Und die kriegen sie auch. Das Land lebt quasi seit zwanzig Jahren gut auf Pump. Trotz des hohen Handelsbilanzdefizits ist das Vertrauen ausländischer Investoren gegenüber den USA ungebrochen, der Kapitalstrom hat bis heute nicht nachgelassen.“

Kurzum, das Außenhandelsdefizit wurde als eine vorübergehende oder doch immer wieder kompensierbare Erscheinung angesehen. Unter diesen Umständen kam es also auf „Mut, „Hoffnung“, „Vertrauen“, und wie die ganzen Formeln für gute Nerven sonst noch heißen mögen, an. Zitiert wird auch der Volkswirt Patrick Franke (Commerzbank) mit der Aussage, die USA hätten den Vorteil, „dass sie die Währung selber drucken, in der sie sich im Ausland verschulden“. Doch am Ende des Artikels wird Franke mit einer weniger optimistischen Aussage zitiert: „Über einen Horizont von 50 Jahren ist es sicher nicht aufrecht zu erhalten…“ Das entspricht der Aussage, die der ehemalige Notenbankpräsident Alan Greenspan im Sommer des Jahres 2000 vor dem US-Repräsentantenhaus gemacht hat: „Irgendwann muss es zu einer Anpassung kommen, wir wissen aber nicht, wo und wie.“ Seitdem sind schon fast zwei Jahrzehnte vergangen und an erheblichen Erschütterungen hat es nicht gefehlt.

Hat Donald Trump das historische Momentum auf seiner Seite?

Die Außenhandels-Schieflage der USA wird gegenwärtig immer noch dadurch gelöst, dass sie in eine zweite Schieflage (die Schuldenfinanzierung von außen) überführt wird und dadurch noch gesteigert wird. Auch das ist auf Dauer nicht durchzuhalten – zumal es für ausländische Investoren, je weiter die Schieflage zunimmt, immer näher liegt, sich von der Finanzierung der US-Schulden zurückzuziehen. Insofern ist es jetzt rational, die ursprünglichen Probleme anzupacken, und die Schieflage des Außenhandels – und damit das Beschäftigungsproblem der Realwirtschaft – zu korrigieren. Wie die USA auf einem anderen Weg, ohne Beschränkungen des Freihandels, aus ihrer Falle herauskommen können, hat noch niemand gezeigt. Mehr als eine Fortsetzung der Defizit- und Schuldenpolitik der USA haben die Moralisten der „Weltoffenheit“ nicht zu bieten. Insofern ist klar, dass mit jedem Tag, an dem dieser Irrweg weiterläuft, die Kräfte, die zu einer Korrektur neigen, stärker werden. Sie wachsen dort, wo die Industrie und die Realwirtschaft brachfallen. Sie wachsen aber auch dort, wo wirtschaftlicher Sachverstand regiert und wo die Selbstabschaffung der Wirtschaftsmacht USA nicht hingenommen wird.

Hat Donald Trump das historische Momentum also schon auf seiner Seite? Schwer zu sagen. Auf jeden Fall gibt es ein bemerkenswertes Missverhältnis in der täglich wiederholten Anti-Trump-Litanei: Da wird der Präsident der USA zu einem völlig irrationalen, geradezu psychopatischen Charakter erklärt. Und dann haben diejenigen, die da so vollmundig urteilen, für das eigene Land und die Weltwirtschaft nicht mehr zu bieten als ein Gestammel, dass es erstmal (hoffentlich) noch ein bisschen so weitergehen möge wie bisher.

 

 

(erschienen bei „Tichys Einblick“ am 9.3.2017)