3.April 2020
Wie sehr hat sich in einem Monat die Lage in Deutschland und vielen anderen Ländern verändert. Nichts ist mehr so wie vorher, scheint es. Auch wenn es für die meisten keine totale Ausgangssperre gibt, so ist das öffentliche Leben doch weitgehend lahmgelegt, insbesondere dort, wo es nicht aus einer anonymen, abstrakten „Gesellschaft“ besteht, sondern aus konkreten Zugehörigkeiten mit gemeinsamen Tätigkeiten, Bindungen, Interessen, Leidenschaften. Vielleicht haben Sie in den vergangenen Tagen auch des Öfteren dieses bittere, melancholische Gefühl verspürt, wenn sie im Fernsehen einen älteren Bericht, eine Reportage, eine Dokumentation, einen Spielfilm gesehen haben: Wie selbstverständlich wurde da das Leben über körperliche Nähe zwischen Menschen vollzogen. Nicht, dass es immer bewusst eingesetzt wurde. Vielmehr war es wie ein unsichtbares und blindes Band, das nicht nur das biologische Leben, sondern auch das wirtschaftliche, kulturelle und politische Leben verband. Oder wie eine vertraute Plattform, von der sich alle tragen ließen. Oder wie eine Art großer „Handschlag“, dem alle vertrauten. Und nun wirkt es so, als habe man aus den alltäglichsten Verrichtungen des Alltags die Farbe, den Duft und den Geschmack entfernt. Ein Glück, dass man noch spazieren gehen kann – und dass das Klima in diesem Frühling zeigt, dass es verlässlich ist und auch keine Quarantäne braucht.
Und die Digitalisierung? Ist dieser Trend jetzt der große Gewinner, weil dadurch physische Nähe überflüssig wird. Tatsächlich zeigt sich in der Corona-Krise mancher Vorteil. Homeoffice, Schulunterricht per Internet, Einkauf ohne Ladenbesuch, Theater- und Musikdarbietungen ohne Publikum in hoher Bild- und Tonqualität, Konferenzen und politische Beschlussfassungen per Video-Schaltung. Und doch zeigen sich gerade in dieser Krise auch die Grenzen einer digitalisierten Welt. Bei aller Leichtigkeit in der Raumüberwindung verlieren die Räume ihre Fülle. Ohne es wirklich erklären zu können, spüren die Menschen, wie sehr Ihnen die Präsenz der Menschen und Dinge fehlt. Gewiss ist eine Welt vorstellbar, in der wir in isolierten Zellen leben und nur durch digitalisierte Medien mit der Stadt, dem Land und der Welt verbunden sind. Aber wenn man sich das wirklich als neuen, ständigen Normalzustand vorstellt, ist es eine Schreckensvorstellung. Niemand möchte das „Wir bleiben zuhause!“, das uns jetzt ständig auf den Bildschirmen eingeblendet wird und wie ein neues Tugend-Gebot über dem Land hängt, tatsächlich endgültig als die schöne neue Welt anerkennen. Diese Vision überzeugt nicht. Ihr fehlt die Spannung des Real-Seins: Die Spannung, sich als wirkliches Wesen in einer Welt wirklicher Dinge und Menschen zu bewegen und zu bewähren.
Von daher ist der Satz „Nichts wird so sein, wie es vorher war“ ein törichter Satz und auch ein gefährlicher Satz – wie so manches ahnungsvolle Raunen, das man in Krisen immer hört. Gerade in der Corona-Krise wird nämlich manches „vorher“ auf einmal wieder wichtiger und wertvoller. Manche unscheinbare Arbeit, die man als „wenig anspruchsvoll“ und daher „selbstverständlich gegeben“ ansah (und im Grunde verachtete), erweist sich nun als tragende Säule der Gesellschaft und des Landes: die Kranken- und Altenpflege, die landwirtschaftliche Arbeit auf den Feldern, die Transportarbeit, die Arbeit in Lebensmittelindustrie und Supermärkten, die Arbeit der Rettungs- und Sicherheitskräfte, und vieles mehr, das gar nicht öffentlich sichtbar ist. Auf einmal merkt man, dass es gar nicht der Weisheit letzter Schluss ist, alles in möglichst globalen Wertschöpfungsketten herzustellen – sondern, dass man einen Grundbestand an industriellen Betriebe im eigenen Land halten muss und die notwendigen Arbeitskräfte aus der eigenen Bevölkerung gewinnen muss. Man merkt auch, dass Automobile, Kraftwerke und Plastikprodukte unersetzliche Dinge sein können. Vielleicht war es also vorschnell, Kraftwerke, Verbrennungsmotoren, Automobile, große Agrarbetriebe und Supermarkt-Konzerne auf die Anklagebank zu setzen. Angesichts des wirtschaftlichen Einbruchs fragen sich immer mehr Menschen, wie das Land wieder in Gang kommen soll, wenn man all die teuren sozialen und ökologischen Normen und „Wendeprojekte“ beibehält.
Da bekommt der Satz „Nicht wird so sein, wie es früher war“ auf einmal einen ganz anderen Sinn. Jetzt müssen die Wende-Projekte, die allesamt ein Wohlstands-Land zur Voraussetzung hatten, auf den Prüfstand. Wir brauchen ein Moratorium bei all den Normenerhöhungen und schon auf Termin gesetzten Stilllegungen.
In einem größeren geschichtlichen Maßstab betrachtet, ist die Corona-Krise eine Krise, die uns wieder den Wert der modernen Zivilisation vor Augen führt. Dies zivilisatorische „vorher“ muss wiederentdeckt und verteidigt werden und in diesem Sinn kann die Lösung der gegenwärtigen Krise nur eine konservative Lösung sein – eine konservativ-moderne Lösung. Das gilt nicht nur im technischen Sinn, sondern auch hinsichtlich der oben beschriebenen Bedeutung des öffentlichen Lebens, des kulturellen und politischen Lebens.
Wenn so in der Corona-Krise die Errungenschaft der modernen Zivilisation – und auch die Errungenschaft unserer freiheitlich-demokratischen Verfassung – ein neues Gewicht bekommen, hat das auch ganz praktische Konsequenzen. In der ersten Phase der Krise stand naturgemäß der Aufbau einer medizinisch-gesundheitlichen Abwehrfront im Vordergrund und führte zu drastischen Schutzmaßnahmen mit weitgehenden sozialen Kontaktsperren und Betriebsschließungen. Das war für diese Phase durchaus vernünftig. Und dennoch steht schon jetzt ein grundlegendes Problem im Raum. Es betrifft die zweite Phase der Pandemie. In dieser Phase ist die Pandemie noch nicht im Auslaufen. Diese Phase, in der das Virus noch nicht „besiegt“ ist, sondern immer noch eine gewisse epidemische Kraft hat, kann recht lange dauern. Es kommt also dann darauf an, die Auseinandersetzung auf diese lange Dauer einzurichten. Das bedeutet, dass die Schutzmaßnahmen differenzierter, zielgenauer und damit auch für das gesellschaftliche Leben tragbarer angelegt sein müssen. Geschähe das nicht, nähme das wirtschaftliche, kulturelle und politische Leben dauerhaft Schaden. Existenzen, Betriebe, Infrastrukturen, Kultureinrichtungen und die vielfältigen Formen der demokratischen Entscheidungsfindung würden in ihrer Substanz getroffen. Das Land würde ausbluten. Die zweite Phase ist also eventuell weniger dramatisch, aber sie ist noch gefährlicher als die erste Phase, weil hier viel weiterreichende Verheerungen geschehen können. Es bedeutet aber auch schwierige Entscheidungen, denn man muss, im Fall einer (schrittweisen) Zurücknahme des Ausnahmezustandes eine gewisse Zunahme von schweren Erkrankungen und auch Todesfällen in Kauf nehmen.
Umso wichtiger ist es, dass unser Land eine freimütige politische Diskussion über das weitere praktische Vorgehen führt, die nicht nur das Leben im medizinisch-gesundheitlichen Sinn berücksichtigt, sondern auch das wirtschaftliche, kulturelle und politische Leben – mit all den Existenzen und gesellschaftlichen Bindungen, die daran hängen. Ob das in den nächsten Wochen gelingt? Haben Politik und Massenmedien das Format, alle diese Dinge zu überblicken und abzuwägen? Manches spricht dagegen, aber die geistige Quarantäne ist nicht so dicht, wie sie es in den vergangenen Jahren bei anderen Streitfragen war. Die Opposition sollte ihre Aufgabe nicht nur darin sehen, die Regierenden zu „entlarven“. Sie muss in diesen auch zeigen, dass sie das Format besitzt, den ganzen Einsatz dieser Krise zu überblicken.