Mein Monat – April 2021

2.Mai 2021

Der Unterschied im Umgang mit der Corona-Epidemie zwischen Deutschland auf der einen Seite und verschiedenen europäischen Nachbarländern auf der anderen Seite ist nun unübersehbar. In diesen Ländern sehen wir in diesen Tagen Lockerungen des Lockdowns. In Deutschland wurde hingegen seine Verfestigung beschlossen. Es wurde eine automatische Lockdown-Pflicht eingerichtet, die allein von einer bestimmten Inzidenz-Zahl bestimmt wird. Es wurde also per Gesetz eine Art „Lockdown-Automat“ installiert. Solange dies Gesetz gilt, gibt es in unserem Land gar keine politische Entscheidungsfreiheit mehr, bei der die Schäden durch das Virus mit den Lockdown-Schäden in Wirtschaft, Staat und Kultur abgewogen werden. Die Politik dankt ab, wir geben unsere Souveränität im Umgang mit dem Virus ab. Und die Folgen sind ganz konkret: Andere Länder kehren jetzt schrittweise zu einem normalen Leben zurück, obwohl sie durchaus beträchtliche Infektionszahlen haben. Sie ignorieren nicht die Gefahr durch das Virus, aber sie sagen „trotzdem“ – es gibt jetzt noch Wichtigeres. Deutschland bleibt zurück und muss auch, falls die Zahlen einmal eine Öffnung hergegeben haben, immer damit rechnen, dass der Lockdown-Automat wieder auf „Schließen“ umschaltet. Denn der Automat kennt nicht den Wert fester Grundrechte, die ein langfristig-verlässliches Handeln der Bürger erlauben. Für den Automaten ist so etwas wie eine Verfassung völlig unbegreiflich. Bei den heute in Deutschland Regierenden ist das offenbar auch so.

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Umso wichtiger ist, über das nachzudenken, was da offenbar in anderen Ländern geschieht, wenn sie „trotzdem“ sagen und tun. Das geschieht vielleicht nicht völlig bewusst, aber es ist da doch eine Vernunft im Spiel, und auch eine Moral. Im wirklichen Leben muss man Gefahren und Opfer in Kauf nehmen, um den Möglichkeiten dieser Welt und den eigenen Begabungen gerecht zu werden. Dies „trotzdem“ ist nötig, um sich den Möglichkeiten und Gaben würdig zu erweisen. Es gibt also eine Menschenwürde des „trotzdem“. Die Geschichte der Menschheit – auch und gerade in der Ära der Moderne – ist ohne diese Würde, die ja ein Stachel zum Ertragen und Tun ist, nicht vorstellbar. Und natürlich ist diese Würde auch in Deutschland zu Hause. Aber in unserer Gegenwart regiert (in vielen Ländern) ein anderes Prinzip, das suggeriert, man habe im Grunde alles Gute und käme daher ohne jedes „trotzdem“ aus. Man könnte es das Prinzip der „Wohlhabenheit“ nennen, denn seine Sätze fangen immer mit „in unserem wohlhabenden Land“ an – um dann zu schlussfolgern, dass man das Gefährliche und Harte nur ausschließen muss, dann bliebe das unbefleckte Gute übrig.

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Doch mit der Entwicklung der Corona-Krise ist dies Prinzip im Grunde schon widerlegt. Die Menschen sehen, dass das Stilllegen nicht dazu führt, dass das Gute stehen bleibt, sondern dass es zerstört wird. Die Errungenschaften der modernen Welt können mit diesem Prinzip des „Wohl-Habens“ nicht gehalten werden. Das wird an einer Unterscheidung deutlich, die die Regierenden in dieser Krise getroffen haben: Sie haben die Bereiche und Tätigkeiten der Menschen in „Systemnotwendiges“ und „Freizeitbeschäftigungen“ unterteilt. Nur Ersteres wird beim Lockdown geschont, das Übrige wird stillgelegt. Eine Politik mit so einem zweigeteilten Welt- und Gesellschaftsbild, macht das Land in Krisen eng und spaltet es. Und es macht auch jeden einzelnen Menschen klein und spaltet ihn. Sie erklärt vieles, was ihm Lebenskraft und Würde gibt, zum bloßen „Vergnügen“. Damit wurde viel Gift ins öffentliche Leben getragen. Denn sofort waren Kräfte in Politik und Medien unterwegs, die den Gegnern des Lockdowns unterstellten, sie hätten nur ihr Amüsement im Sinn, entweder als grölendes „Partyvolk“ oder als Luxus-Schickeria. Was gerade noch als unser „freies westliches Lebensmodell“ beschworen wurde, war jetzt auf einmal nur noch ein eitler Rummel.

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So müssen die Menschen in dieser Krise erfahren, wie die Abwehr einer mittelschweren Pandemie sich zu einer grundlegenden Verengung ihres Lebensmodells auswächst. Die Legitimität vieler wirtschaftlicher, staatlicher und kultureller Errungenschaften ist in Frage gestellt. Aber es ist nicht leicht, sie wiederherzustellen. Denn die Errungenschaften müssen im Angesicht von Gefahren und Opfern wiederhergestellt werden. Ohne ein „trotzdem“ wird es nicht gehen. Und dies trotzdem, das andere Länder jetzt praktizieren, ist in Deutschland noch ein Tabu. Den Tabu-Satz hat die noch amtierende Bundeskanzlerin gesprochen, im Vorfeld der Einrichtung der „Bundes-Notbremse“. Sie sagt: „Die Intensivmediziner senden einen Hilferuf nach dem anderen – wer sind wir denn, wenn wir diese Notrufe überhören würden?“ Merkel droht damit, den Abgeordneten die Menschlichkeit abzusprechen. Und auch den Amtsträgen in den Bundesländern und Kommunen. Und unseren Nachbarn in Europa.

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Man sollte diesen Satz ernst nehmen. Denn er zeigt, ganz unabhängig von der Person Merkel und ihrer Amtszeit, wo die politische und zivilisatorische Auseinandersetzung unserer Zeit liegen wird. Sie scheint immer deutlicher auf den Punkt hinauszulaufen, wie offen sich die Menschen – als Einzelne und als Nationen – den Härten dieser Welt stellen. Die Erwartung, dass es für alles eine „intelligente Lösung“ gäbe, und dass man die Produktivität der Moderne beliebig sozial und ökologisch belasten kann, wird sich als trügerisch erweisen.