Mein Monat – Mai/Juni 2021

30. Juni 2021

Das Jahr 2021 wird vielleicht einmal als das Jahr erinnert werden, in dem sichtbar wurde, wie sehr Deutschland sich festgefahren hat. Denn wir haben es nicht einfach mit Krisen zu tun, sondern mit einer hoffnungslosen Verstrickung in Krisen. Das große „Retten“ führt sichtlich nicht dazu, dass etwas bereinigt wird, sondern dazu, dass das Land immer tiefer in die Krisen hineingezogen wird. Seine über Jahrzehnte und Jahrhunderte aufgebauten materiellen und geistigen Bestände werden mit rasanter Geschwindigkeit aufgezehrt. Und doch wird diese Politik nach dem Ende der „Ära Merkel“ weitergeführt geführt werden. Es handelt sich eben gar nicht um eine Personalie Merkel. Deutschland (und andere Länder) hat ein Problem mit einer ganzen „politischen Klasse“, und diese umfasst nicht nur Parteipolitiker im engeren Sinne, sondern ganze Branchen und soziale Milieus, die sich als Verwalter in Staat und Wirtschaft, als Wissenschaftler, Künstler und Medienleute zur politischen „Menschenführung“ berufen fühlen.

Diese „politische Klasse“ sieht sich als Hüter der Gesellschaft. Sie fühlt sich berechtigt, allein zu bestimmen, was gut ist für das Land. Sie glaubt sich in der Position zu sein, die Menschen in Wissende und Unwissende, in Gute und Böse zu unterteilen. Damit setzt sie sich im Grunde an die Stelle, die in einem modernen, freiheitlich-republikanischen Land die Verfassung einnimmt. Ja, diese politische Klasse ist Tag für Tag dabei, die eigenen Urteile an die Stelle der Verfassung zu setzen. Sie benutzt das Grundgesetz nur noch als Steinbruch, aus dem sie sich einzelne Bruchstücke holt und für eine Regierungsform benutzt, die sie als „Steuern auf Sicht“ bezeichnet. Das Grundgesetz wird „dekonstruiert“, um es mit einem Modewort dieser Zeit zu sagen. Damit aber wird die Verfassung, die nur durch ihre Gesamtkonstruktion „verfassen“ kann, entmachtet. Auch das gehört zur Erfahrung dieses Jahres 2021, das nicht nur ein Wahljahr ist, sondern auch ein Jahr, in dem die Rettungspolitik zum alternativlosen neuen Grundgesetz dieser Republik erhoben werden soll.  

Der Corona-Lockdown, zu dem Urteile des Bundesverfassungsgerichts noch ausstehen, hat gezeigt, wie leicht es den Regierenden unserer Gegenwart fällt, unter Berufung auf eine Schutzpflicht (Infektionsschutz) die Normalität eines modernen Landes stillzulegen. Grundrechte und Freiheitsräume wurden vorschnell geopfert, ohne dass Notwendigkeit, Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit erwiesen wurden. Die Menschen haben die Willkür dieser Maßnahmen gespürt und das hat zu einer zunehmenden Erbitterung im Land geführt. So wurde jetzt – wiederum „auf Sicht gesteuert“ – der Lockdown etwas gelockert. Aber eines sichere Rechtsgarantie ist das nicht. Und der Präzedenzfall ist nun da. Die Überreaktion ist nun als neue politische Normalität etabliert. Bei jeder neuen Epidemie muss man damit rechnen, dass die Rettungsreflexe sofort wieder aktiviert werden.

Und dann gab es ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in einer anderen Krisenaffäre, das noch schwerwiegendere Folgen für die Grundordnung der Bundesrepublik hat. Denn es hat dem Retten durch Stilllegen einen Verfassungsrang gegeben. Gemeint ist das BVerfG-Urteil zum Klimaschutzgesetz der Bundesregierung. Die Karlsruher Richter haben beim Klimaschutz eine so umfassende Schutzpflicht des Staates etabliert, dass die Freiheitsrechte insgesamt unter einen Klima-Vorbehalt gestellt wurden. Indem die CO2-Reduktion zur prioritären Rechtspflicht erklärt wurde, wurde dem Gesetzgeber de facto zwingend auferlegt, bestimmte Technologien, Produkte, Betriebe und Infrastrukturen stillzulegen. Dies muss auch dann geschehen, wenn es noch keinen gleichwertigen technischen, wirtschaftlichen und baulichen Ersatz gibt. Es ist ein tiefer Eingriff in die freiheitliche Grundarchitektur unserer Verfassung. Eine Abwägung zwischen Freiheit und Schutz fand im BVerfG-Urteil nicht statt, sondern nur noch eine zeitliche („intertemporale“) Verteilung der Schutzpflichten.

Das gilt nun als oberste Rechtsnorm in Deutschland. Ab sofort. Es wirft einen langen Schatten auf die nächste Legislaturperiode und die Tätigkeit der nächsten Bundesregierung – und damit auf die bevorstehenden Bundestagswahlen. Die Spannweite legitimer politischer Entscheidungen wurde von vornherein schon eingeschränkt. Die Parteien der großen Koalition haben aber gar nicht erst die Septemberwahlen abgewartet, sondern in Windeseile schon eine Verschärfung des Klimaschutzgesetzes beschlossen. Das Zusammenspiel innerhalb des Gebildes, dass hier „politische Klasse“ genannt wurde, klappt offenbar blind – und braucht gar keine „Verschwörung“. Es wirken in dieser politischen Klasse einfach gleichgerichtete soziale Kräfte und Weltvorstellungen, die gegenüber den Verheerungen in Industrie, Infrastruktur und öffentlichem Leben gleichgültig machen. Und die für die Kunstwelt von „Krise und Rettung“ und „Steuern auf Sicht“ empfänglich machen. Denn darin besteht Eigenart dieser sozialen Formation, dass sie sich als „reine“ Menschenführer gebärden können, ohne ein bestimmtes Sachgebiet mit seinen Zwängen zu verantworten.

Es ist also wichtig, die sozialen Kräfte, die hinter der Dekonstruktion des Verfassungsstaates und der Verabschiedung der bürgerlichen, arbeitenden Welt steht, besser zu verstehen. Darauf zielen viele Fragen, die immer wieder in Leserbriefen gestellt werden: Wie konnte das geschehen? Woraus konnte sich diese destruktive Kraft bilden? Die Antwort kann man nicht in einem einzelnen genialen Text geben, und sie muss auch im Zusammenspiel vieler Erfahrungen und Überlegungen entstehen. Es muss eine konstruktive Antwort sein, und sie muss aus anderen sozialen Kräften zusammenkommen. Das wir Zeit brauchen. Aber zwei Merkmale, die meines Erachtens dabei eine Rolle spielen, sollen hier benannt werden:

  • Auf der einen Seite gibt es täuschende Leichtigkeit, die das angeblich so „ambitiöse“ Retten zu einer wohlfeilen Veranstaltung machen. Denn sein Hauptmittel ist ja das Geld, und zwar das billige Geld, das jeden Tag neu aus der Druckerpresse der EZB kommt. Das ist ja das Hauptmittel der heutigen Politik, dass sie täglich Millionen- und Milliarden-Mittel verkündet. Und wie schön passt es da, dass das Bundesverfassungsgericht im Mai auch grünes Licht für die EZB-Staatsfinanzierung gegeben hat. Auch die Digitalisierung, die überall als die große Lösung angeboten wird, hat diese täuschende Leichtigkeit. Auch sie ist „billiges Geld“.      
  • Auf der anderen Seite gibt es eine Schwere der Aufgabe, wenn die Industrie, das bürgerliche Erwerbsleben und die Realität der Arbeitswelt rehabilitiert werden soll. Die Realwirtschaft, die Verkehrsmittel, das Leben in Stadt und Land werden nicht so hart wie im 19. Jahrhundert sein, aber sie werden auch nicht mehr so viele Zugewinne bringen wie in den Wirtschaftswunderjahren. Große Produktivitätssprünge und eine Gesellschaft mit Mittelstands-Garantie sind nicht in Sicht. Elementarere Probleme kommen wieder – zum Beispiel eine jüngere Generation, die sich auf die Zwänge eines Berufslebens nicht festlegen mag. Auch eine effektive Verteidigung gegen Gewalt und Katstrophen wird ohne „böse Bilder“ nicht zu haben sein. Und weltweit gibt es heute viel mehr Industrieländer, die ihren Anteil beanspruchen. Die Alternative zum regierenden Leichtsinn ist also nicht eine schon gewohnte Normalität, sondern eine etwas härtere Normalität. Das haben die Menschen natürlich auch vor Augen, und es lässt manchen zögern.

Täuschende neue Leichtigkeit auf der einen Seite und realistische neue Schwere auf der anderen Seite sind vielleicht die beiden Grundbausteine der heutigen Zeit. Eine Opposition in Deutschland, die eines Tages zu einer Wende der Dinge fähig sein will, darf daher nicht hoffen, dass ihr allein aus der Polemik gegen die Regierenden die notwendigen Kräfte zuwachsen. Sie muss auch das Schwere sehen, das ganz unabhängig vom Versagen der „politischen Klasse“ gegeben ist.   
Wir können also nicht darauf hoffen, dass weitere Krisenerfahrungen schon dafür sorgen werden, dass „das Pendel wieder zurückschlägt“ und die Dinge wieder ins Lot kommen. Die Erfahrungen dieses Jahres 2021 zeigen, dass am Ende der Ära Merkel die Verstrickung des Landes in diverse Krisen nicht geringer wird, sondern sich eher noch vertieft.  
Die Geschichte der Neuzeit kennt längere Phasen, die den Aufgaben, die sich eigentlich schon stellten, politisch und sozial noch nicht gewachsen waren. In verschiedenen Ländern waren noch nicht die Kraft und Weitsicht da, um die verheerenden Tendenzen zu überblicken und ihnen etwas entsprechend Großes entgegenzustellen. Aber in solchen Phasen kann man dennoch schon an den Positionen arbeiten, die Deutschland einmal brauchen wird, um sich als freiheitlich-republikanische Nation zu rehabilitieren. Und dies gilt heute ähnlich und parallel in vielen Ländern in Europa und auch in den USA. Es geht hier mitnichten um irgendeine deutsche Sonder-Betroffenheit oder um eine Sonder-Aufgabe, die gegen andere Nationen durchgesetzt werden muss.

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Und dann kam im Juni ein europäischer Vorgang hinzu. Die EU-Kommission verkündete am 9.6.2021, dass sie eine „Vertragsverletzungsverfahren“ gegen die Bundesrepublik Deutschland einleiten würde. Das Verfahren richtet sich gegen ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts. Es hatte in einem Urteil vom 5.5.2020 festgestellt, dass die Staatsanleihenkäufe der EZB und deren Billigung durch den EuGH außerhalb des rechtlichen Rahmens, in dem sich die EU bewegt, erfolgt sind. Es hat die Handlungen von EZB und EuGH in dieser Sache als sogenannte „Ultra-Vires-Akte“ bewertet – als Akte, die die Grenzen des bestehenden Rechts und der Kompetenz von EZB und EuGH überschreiten. Die EU-Kommission will nun Deutschland zwingen, die Alleinzuständigkeit des Europäischen Gerichtshofes für diese Sache anzuerkennen. So soll das Urteil vom 5.5.2020 aus der Welt geschaffen werden, und mehr noch: Es soll für alle Länder der EU und für alle Zukunft durchgesetzt werden, dass es in der EU keine Ultra-Vires-Prüfungen durch die nationalen Verfassungsgerichte mehr gibt. Die EU will sich nur noch durch die eigenen EU-Organe prüfen lassen. Mit anderen Worten: Die EU will sich zum neuen Souverän in Europa erheben und die bisherige Souveränität der Staaten ersetzen. In einem Leitartikel von Reinhard Müller in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. Juni 2021 wird die Konsequenz für Deutschland (und andere Länder) deutlich ausgesprochen: „Wer wirklich verhindern will, dass Karlsruhe im Sinne des Grundgesetzes und der EU-Verträge über die Verfassungsidentität wacht, müsste das Verfassungsgericht oder Deutschland als souveränen Staat abschaffen.“
An diesem Punkt wird noch deutlicher, dass in diesem Jahr 2021 tatsächlich eine Verfassungswende durchgesetzt werden soll. Es wird eine Art „Neugründung“ Deutschlands und Europas betrieben. Sie stellt auf der einen Seite die Staatsfinanzen auf grenzlose Beschaffung fiktiven Geldes um. Und auf dieser fiktiven Basis wird die EU zum neuen kollektiven Souverän in Europa erhoben.  Das alles ohne demokratisches Gründungsvotum. Man ersetzt das Votum durch das billige Geld, mit dem das große Retten ohne Opfer möglich sein soll. Wie wohlfeil und würdelos ist diese Verfassungswende in Europa. Wie laviert sie sich um alle echten Anstrengungen herum. Welche Erniedrigung der Staatsvölker und Staatsbürger.

In dieser Ausgabe von „Mein Monat“ finden sich drei Texte, die drei Teile dieses nirgendwo deklarierten Verfassungsumsturzes betrachten.