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Deutschland ist auf einem Kurs, der immer größere Opfer fordert. Die Opferbereitschaft der Bürger sinkt. Doch das bedeutet noch keine Abkehr von den Zielen, die das Land auf seinem Kurs immer weitertreiben.  

Gefangen in einem unlösbaren Drama

19. September 2023

Ist Deutschland an einem „Kipppunkt“? Manches scheint darauf hinzudeuten. Die Meinungsumfragen zur politischen Stimmung in Deutschland zeigen einen starken Vertrauensverlust für die Regierenden. Die Kritik macht sich fest an krassen Fehlleistungen wie dem „Heizungsgesetz“. Sie ist scharf, was bestimmte Personen und Parteien betrifft. Sie wird bestärkt durch die wirtschaftliche Rezession. Allerdings reicht dieser Vertrauensverlust noch nicht so tief, wie die Rede vom Kipppunkt suggeriert. Die großen Ziele, die den jetzigen Kurs des Landes bestimmen, werden noch kaum in Frage gestellt. So gibt es im Vertrauensverlust eine schwerwiegende Lücke: Zwischen den Opfern und den Zielen wird noch keine Verbindung hergestellt. Die Ziele gelten „an sich“ noch als gut und alternativlos, während die Opfer bloß als „Murks“ bei der Umsetzung angesehen werden. Deshalb ist das Land in diesem Herbst 2023 weit davon entfernt, seinen Kurs zu korrigieren. Es ist hin und her gerissen zwischen Vertrauensverlust und fortbestehendem Vertrauen. Die Mehrheit der Bürger schwankt zwischen der Ablehnung von Maßnahmen, deren zerstörerische Wirkung sie ganz handfest spüren, und dem Glauben an ein Weltdrama, in dem große Bedrohungen nur durch große Opfer gelöst werden können. Eine Abwägung von Opfern und Zielen, die zu dem Schluss führen könnte, dass die Ziele die Opfer nicht wert sind, kommt so gar nicht zustande. So bleibt das Land in einem unlösbaren Drama gefangen, das es immer wieder zu neuen Opfergängen treibt. Die Lage ist also noch nicht reif für einen Kurswechsel. Aber man sollte sich nicht dazu verleiten lassen, den Deutschen irgendeine besondere moralische Schwäche anzudichten. Vielmehr sollte man verstehen, dass es nicht leicht ist, das Szenario der ultimativen Bedrohungen und letztmöglichen Rettungen hinter sich zu lassen.     

Wie „unsere Ziele“ zu einer unanfechtbaren Macht wurden 

Die „Klimapolitik“ zeigt exemplarisch diese Gefangenschaft. In ihrem Namen erfolgen die tiefen Eingriffe in Produktionsenergie, Verkehr, Heizung, die die Bürger als Angriff auf ihre Existenz ansehen. Diese Eingriffe werden gerechtfertigt, indem ein globaler „Klimakollaps“ als große und akute Gefahr beschworen wird, vor der alle Opfer des Landes klein erscheinen. Zugleich wird eine große Rettung in Gestalt der „erneuerbaren Energien“ in Aussicht gestellt, die angeblich zum Greifen nahe ist – wenn man nur mit höchstem Tempo Windräder, Wärmepumpen etc. baut. Dann, so wird weiter versprochen, werden wir ein neues Wirtschaftswunder wie nach dem 2.Weltkrieg erleben, den sogenannten „Green Deal“. Und da dies Wunder nur von unserem Willen („ehrgeiziges Ziel“) abhängt, können wir den Übergang mit einer Sonderverschuldung (einer Art Kriegsanleihe) bewältigen, die einfach vorgreifend als „Sondervermögen“ verbucht wird. So ist ein gewaltiges, geschlossenes Szenario entstanden, aus dem es kein leichtes Entrinnen gibt. 

Mit der Klimapolitik wurde in Deutschland ein System von Zielen installiert, das wie eine Art zweite Verfassung funktioniert. Dies System steht außerhalb jeder Abwägung mit anderen Aufgaben und Rechtsgütern. In der politischen Rede wird die Formel „Wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen, müssen wir…“ inzwischen wie ein Mantra heruntergemurmelt. Man geht davon aus, dass niemand es wagt, „unsere Klimaziele“ in Frage zu stellen. Dabei reicht die Kombination von größtmöglicher Bedrohung und größtmöglicher Rettung so weit ins Spekulative, dass sie im Grunde gar nicht widerlegbar ist. Wenn der gesunde Menschenverstand einwendet, man brauche für einen so komplexen Gegenstand wie dem Weltklima eine viel umfangreichere und längere Forschung, und auch bei den erneuerbaren Energien müsse man erst langsam Erfahrungen mit der Leistungsfähigkeit und Stabilität dieser Technologie machen, wird ihm ein atemloses „Wir haben keine Zeit! Es ist eigentlich schon zu spät!“ zugerufen. Wer darauf verweist, dass in der Wende-Hast gut funktionierende Betriebsanlagen, Kraftwerke, Fahrzeuge und Heizungen zum alten Eisen geworfen werden und eine gigantische Wertvernichtung stattfindet, wird auf die goldene Subventions-Brücke verwiesen, die alle Verluste bezahlbar macht – auf Pump. 

So zeigt das Klima-Drama exemplarisch, was den jetzigen Kurs des Landes im Innersten zusammenhält. Die Kombination aus finstersten Bedrohungen und sonnigsten Rettungen macht die Welt zu einem Schauplatz der Zwänge. Die immensen Opfer sind keine „Fehler“, sondern ergeben sich ganz logisch aus diesem Szenario. Solange dies Szenario nicht in Frage gestellt wird, findet der Opfergang dieses Landes kein Ende. Und der Ausstieg aus diesem Zwangsdrama, kann nicht als ein schneller „Ruck“ geschehen, sondern nur als ein allmählicher, zäher Erfahrungsprozess. Die Behauptung, dass wir mit der Klimapolitik auf einem guten Weg sind und die Opfer allmählich weniger werden, lässt sich nicht theoretisch entkräften, sondern nur durch die realen Erfahrungen mit dem Opfergang. Ebenso lässt sich die Behauptung, dass wir vor einem Klimakollaps stehen, nur durch die Erfahrung entkräften, dass trotz extremer Wetterereignisse das Leben auf dieser Erde weitergeht. 

„Regieren am Limit“? 

Am Montag, den 11.9.2023 präsentierte die ARD zur besten Sendezeit einen Film mit dem Titel „Ernstfall – Regieren am Limit“. Im Vorstellungstext der ARD heißt es: „Die deutsche Regierung unter Olaf Scholz kämpft in Zeiten des Krieges in Europa mit großen Herausforderungen wie der Unterstützung der Ukraine, der Sicherstellung der Energieversorgung, der Bekämpfung der Inflation und der Klimakatastrophe.“

Der Film war kein Fernsehspiel aus der Welt literarischer Phantasie, sondern wurde dem Publikum unter der Bezeichnung „Dokumentarfilm“ präsentiert. Wie selbstverständlich ist hier vom „Krieg in Europa“ oder der „Klimakatastrophe“ die Rede – als wäre so ein Krieg und so eine Katastrophe bereits eingetreten. Und der Kanzler „kämpft“. Das ist Notstands-Sprache, obwohl ein solcher Notstand gar nicht parlamentarisch-demokratisch festgestellt wurde, wie die Gesetze dieses Landes es fordern. 

Wetterextreme, Hungersnöte, Epidemien, Militärinterventionen sind zunächst einmal begrenzte Krisen. Aber in unserer Zeit herrscht eine fatale Neigung, solche begrenzten Krisen zu fundamentalen Weltdramen zu steigern, die dann von einem Punkt aus gelöst werden sollen. Den Wetterextremen will man begegnen, indem weltweit alle fossilen Energieträger ausgeschaltet werden. Der Migrations-Krise will man Herr werden, indem man sie steigert und anstelle selbstverantwortlicher Nationen ein globales „Menschenrecht“ auf Asylsuche ausruft. Und auch in der Ukraine-Krise scheint die Lösung nur in einem Steigern zu liegen: Ein begrenzter militärischer Konflikt ist Anlass, um einen neuen Weltkampf zwischen einem „Reich der Freiheit“ und einem „Reich der Autokraten“ auszurufen. Wir hatten schon Zeiten, in denen eine friedliche Koexistenz unterschiedlicher Systeme als Ordnungsprinzip der Welt akzeptiert wurde. Nun aber soll es nur noch eine einzige Gesamtsystem-Lösung geben. 

So werden die Räume der Welt gleichgeschaltet und eng gemacht. Und zugleich werden die Zeiten der Welt dramatisch verkürzt. Überall regiert die Vorstellung, dass wir eigentlich keine Zeit mehr haben für langsame Entwicklungen – weil wir „terminalen“ Katastrophen „zuvorkommen“ müssen. Überall werden die Uhren auf „5 vor 12“ gestellt. Wir befinden uns in einer Art Wettlauf mit einer ablaufenden Zeit. Und daraus wird dann gefolgert: Lieber jetzt ein heftiger, schmerzvoller Eingriff – und dann haben wir es geschafft. So sind absurde Fristen für die Durchsetzung einer „Klimaneutralität“ beschlossen worden. Auch die „Null-Covid-Politik“, die zeitweise in Deutschland gefordert wurde, war von dieser Bauart: ein radikaler Lockdown, und dann sollte die Gefahr ein für alle Mal vorbei sein. Und in der Ukraine-Krise gibt es die Neigung zu einer „Null-Russland-Politik“: Eine militärische, politische, wirtschaftliche und kulturelle Offensive soll Russland völlig zu Boden werfen, und damit soll Frieden herstellbar sein.       

In Wahrheit wird ohne Limit regiert 

Kann man, angesichts dieser Entwicklungen, die Regierungsform unserer Zeit als „Regieren am Limit“ bezeichnen? Das ist eine krasse Verharmlosung. Wo gibt es denn im heutigen Regieren ein Limit? Wo gibt es eine Grenze, die diese Regierung in Beachtung der Ressourcen und Kräfte dieses Landes verlässlich festgelegt hat? Wir sehen an den verschiedensten Fronten nur ein Steigern der Einsätze. Nichts ist gelöst. Die als „gelöst“ verbuchten Krisen – wie die Migrationskrise und die Schuldenkrise – kommen in verstärkter Form zurück. Deutschland ist ein Land geworden, dass ohne Limit regiert wird. Unsere Nation, und auch manch andere Nation, ist auf einen Kurs gebracht worden, der schon weit jenseits jeder vernünftigen Grenze verläuft. Und es werden auch keine Anstalten gemacht, die verlorene Grenze wiederzufinden und in diese Grenzen zurückzukehren. 

Das aber liegt an der Art der Ziele, die als „unsere Ziele“ Tag für Tag vor der Nation beschworen werden. Denn in diesen Zielen gibt es gar keine Begrenzung. Sie gelten absolut und bedingungslos. In diese Ziele ist gar kein Haltepunkt eingebaut. Es gibt kein Gegengewicht, dass es erlauben würde, die Ziele zu relativieren. So wird der Einwand, dass die Verwirklichung der Klimaziele beim gegenwärtigen Stand der Technik zu einem Einbruch der Produktivität der Betriebe und der Tragleistung der Infrastrukturen führt, dadurch vom Tisch gewischt, dass „unsere Klimaziele“ ein ungleich höheres Gut seien – weil „der Planet“ oder gar „die Natur“ auf dem Spiel stehen. Und gegen den Einwand, dass die Aufnahmekapazität unserer Kommunen begrenzt ist und es deshalb eine Obergrenze für Asylbewerber geben muss und damit auch die Zurückweisung an Grenzen, genügt die Beschwörung des Absolut-Ziels, dass angesichts bedürftiger Menschen alle anderen Anliegen zurückstehen müssen – koste es, was es wolle. 

Das Land kann in eine Katastrophe rutschen

Dadurch, dass Deutschland unter die Herrschaft absoluter Ziele gestellt wurde, ist unsere gesamte staatliche und wirtschaftliche Grundaufstellung entwertet worden. In diesem Sinn leben wir nicht mehr in der Bundesrepublik, sondern in einem programmierten Land – „purpose driven“ heißt das im Neusprech unserer Gesellschaftslenker. Von hier droht die Gefahr, dass der jetzige Opfergang noch ein viel größeres Ausmaß bekommt. Das hängt auch mit der Tatsache zusammen, dass die herrschenden Ziele nicht nur Schriften und Reden sind, sondern dass der Mechanismus von Drohung und Rettung sich sozial, kulturell und institutionell verfestigt hat. Ein beträchtlicher Sektor der Gesellschaft wirkt an diesem Mechanismus mit und profiliert sich durch ihn. Kulturell hat sich vielerorts die Neigung durchgesetzt, die vormals unabhängigen Komplexe der Wissenschaft, der Kunst und der Medien in den Dienst der „höheren“ Ziele zu stellen. Institutionell gibt es inzwischen höchstrichterliche Urteile, die dem Parlament und der Regierung detaillierte Vorgaben machen, wie das Klimaziel umzusetzen ist. Urteile, die unseren Verpflichtungen und Vorleistungen in der Schuldenkrise, in der Migrationskrise oder in der Ukraine-Krise verlässliche Verfassungs-Grenzen setzen, gibt es nicht.  

So kann das Land zu immer größeren Opfern geführt werden, ohne dass es darauf reagieren kann – denn die großen Ziele wurden ohne das Gegengewicht anderer Güter und Rechte installiert, das ein Abwägen erzwingen könnte. Ja, dies Land kann in eine wirkliche Katastrophe rutschen. Um diese kritische Situation unseres Landes zu ermessen, reicht es nicht, auf Krisenerfahrungen der 1970er Jahre zurückzukommen. Die heutige Lage ist verfahrener. Die Kräfte, um aus ihr herauszufinden, müssen erst neu entwickelt werden. Und es ist ja nicht Deutschland allein, das in einer solchen Gefangenschaft steckt 

Der späte Ausweg aus der Urkatastrophe von 1914 

Vielleicht ist ein Vergleich mit der Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die dann in die europäische „Urkatastrophe“ von 1914 mündete, hilfreich. Damals wuchsen die sozialen und nationalen Feindbilder. Es gab auch ein Fremdeln mit der industriellen Moderne, obwohl diese Moderne schon das schlimmste Elend des 19. Jahrhunderts gemeistert hatte und sich die Situation in Fabriken und Großstädten stabilisiert hatte. Dennoch breitete sich eine kulturelle Stimmung von Hysterie und Hybris aus, die dann zu einer längeren Periode von Weltkrieg und Bürgerkrieg führte. Die Welt hatte sich verengt, und es gelang längere Zeit nicht, einen Ausweg aus der Übersteigerung von Gefahren und Heilszielen zu finden. 

Aber dann, in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, wurde er doch gefunden. Dabei sollte man eine geschichtliche Tatsache festhalten: Es war kein Ausweg mit einer „großen Transformation“ oder ähnlichen wundersamen Rettungen. Der Ausweg bestand in einer Abrüstung der großen Gefahrenbeschwörungen und Heilserwartungen. In diesem Sinn kann es hilfreich sein, sich das kritische Datum 1914 wachzurufen: Die Lösung kann nur in einer Abrüstung der absoluten Ziele bestehen. 

Ein „Deutschlandpakt“, der von einer Abrüstung der Ziele nichts wissen will

Die Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag ist immer eine Schlüsseldebatte, in der es – ob die Redner es wollen oder nicht – um die Lage der Nation geht. Anfang September 2023 hat eine solche Debatte stattgefunden. Der Bundeskanzler hat einen „Stillstand“ im Lande beklagt und „eine nationale Kraftanstrengung“ gefordert: „Die Bürgerinnen und Bürgerinnen sind diesen Stillstand leid. Und ich bin es auch.“ Er hat also eine Beschleunigungsrede gehalten. Eine Schneller-Schneller-Rede. Und der Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7.September (Jasper von Altenbockum) stößt ins gleiche Horn: Die Koalition müsse erst zusammenrücken, „um energisch in Angriff nehmen können, was sie sich vorgenommen hat.“ Die Liste der Vorhaben, „die nach Fortschritt und Tempo schreien“ werde lang und länger, heißt es im Leitartikel. Aber ist „mehr Tempo!“ wirklich das Gebot der Stunde? Soll etwa die „Klimaneutralität“ noch schneller umgesetzt werden? Sollen die Migrantenströme, die an der Südgrenze nicht aufgehalten werden, schneller in Europa verteilt werden? Soll die Ukraine angesichts einer stagnierenden Offensive noch schneller aufgerüstet werden? 

Nein, etwas ganz Anderes wäre jetzt geboten. Die deutsche Nation braucht ein Innehalten, um den Weg, auf den sie sich begeben hat, zu überprüfen. Bestimmte Ziele, wie der Ausstieg aus den Basis-Technologien „Verbrennungsmotor und Verbrennungsheizung“ müssten aufgeschoben werden. Angesichts fundamentaler Unsicherheiten und einer schnell anwachsenden Kostenlawine wäre ein Moratorium bei der „Klimawende“ angebracht. 

Doch der Kanzler will der Nation dies Innehalten zur Überprüfung der beschlossenen Ziele nicht gewähren. Er will in einem Moment, in der die Zweifel wachsen, in der aber ein großer Teil der Opposition die Ziele noch nicht in Frage stellen mag, schnell die Reihen schließen. Er will den Bundestag und mit ihm die Bürger auf dem jetzigen Erkenntnis-Stand festhalten und für die unerreichbaren und sinnlosen Ziele in die Pflicht nehmen. Nur zu diesem Zweck wird jetzt ein „Deutschlandpakt“ ins Gespräch gebracht.