18.02.2016

Wird der Migrationsgipfel der EU zu einer Stunde der Wahrheit? Vielleicht, denn er könnte zeigen, dass dieser Rahmen für harte Entscheidungen nicht tauglich ist. 

„Gemeinsam“ ist keine Lösung

Der EU-Migrationsgipfel steht an und es ist viel davon die Rede, dass er für die deutsche Bundeskanzlerin zu einer „Stunde der Wahrheit“ werden wird. Tatsächlich steht hier ein großes Versprechen im Raum. Frau Merkel hat den Deutschen und indirekt auch den Europäern eine Begrenzung der Immigration in Aussicht gestellt. Sie hat erklärt, sie würde einer zahlenmäßigen Begrenzung („Kontingente“) zustimmen, wenn sie im europäischen Maßstab vereinbart würden. Wohlan, jetzt ist der Moment da. Auf dem Gipfel müsste Merkel ihren Begrenzungsbeitrag liefern. Andere Länder haben dies längst getan, zuletzt Österreich und Frankreich. Frankreich hat auch schon klargemacht, dass es nicht so dumm ist, sich eine Verteilungs-Quote als Kontingent verkaufen zu lassen. Denn eine Quote würde nur relative Verhältnisse und keine festen Zahlen bringen – sie wäre alles andere als eine Deckelung der Zuwanderung. Die Bürger wollen am Ende der Woche also eine Zahl hören. Eine verbindliche Zahl – für Europa, aber auch für Deutschland. Ansonsten ist das Versprechen der Bundeskanzlerin nicht gehalten. Ganz einfach.

Doch schon ist man dabei, das Thema des Gipfels so umzumodeln, dass von einer Stunde der Wahrheit nicht mehr die Rede sein kann. Nun lautet die Formel, es gehe um „eine Verbesserung der Kontrolle an den Außengrenzen der EU“. Das ist natürlich etwas ganz Anderes als ein messbares Begrenzungsresultat. Als „Verbesserung“ kann man alles Mögliche verbuchen. Es muss mit dem wachsenden Migrationsdruck gar nicht Schritt halten. Aber man kann sagen, dass die Dinge damit „auf einen guten Weg gebracht“ sind. Auf diesem Weg verlieren sich dann die Spuren all dessen, was einmal ein dringliches Anliegen war. So kann auch das Versprechen der Kanzlerin europäisch entsorgt werden.

Sowieso muss man sich ja fragen, warum Frau Merkel mit ihrer Formel „Kontingente ja, aber nur europäisch“ wertvolle Zeit verschwendet hat. Während andere Länder inzwischen gehandelt haben, hat ihre Regierung weiter die Leute ins Land gewunken. Durch Merkels Junktim zwischen deutscher und europäischer Lösung wurde jede schnellere Begrenzung blockiert. Ein Junktim bedeutet ja, dass zwei Forderungen, die nicht notwendig miteinander verbunden sind, als Bedingungen miteinander verkoppelt werden. Man akzeptiert nur das eine, wenn zugleich das andere erfüllt wird. Entweder europäische Kontingente oder keine Kontingente – auf dieser Linie bewegt sich die Bundesregierung nun seit November 2015.

Doch erledigt hat sich die Stunde der Wahrheit damit nicht. Geht der EU-Gipfel ohne Begrenzungsbeschluss über die Bühne, werden auch die Menschen, die der Kanzlerin bisher noch einmal Zeit gegeben haben, nun umso mehr darauf pochen, dass die Bundesregierung eine Kontingentzahl für Deutschland bestimmt. Geschieht das nicht, wäre klar, dass die „europäische Lösung“ nur eine Finte Merkels war. Aber auch für die anderen Länder wäre klar, dass im Rahmen der EU kein entschiedenes Handeln in der Migrationskrise organisiert werden kann.

Problemverschleppung mit System

„In Kürze“ werde Klarheit herrschen, wie es um die Umsetzung der Dublin III-Vereinbarungen bestellt ist, hat der EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erklärt. Er hat das nicht in diesen Tagen erklärt. Auch nicht vor ein paar Wochen – sondern am 21. August 2015. Damals rollte die Migrationswelle über die Balkanroute schon, mit Griechenland als EU-Eintrittsland. Fünf Monate später, am 27.1.2016, stellte die EU-Kommission in Brüssel einen Bericht vor, in dem Griechenland nun nochmal drei Monate Zeit gegeben werden, um die Mängel bei der Grenzsicherung abzustellen (Tagesspiegel v. 30.1.16). Weitere drei Monate. Und das, nachdem schon mindestens fünf Monate lang offensichtlich ist, dass Griechenland seinen Dublin-III-Verpflichtungen nicht nachkommt.

Dabei täuscht der Eindruck des Bemüht-Seins aller Seiten, den der EU-Kommissar erweckt hat. In Wirklichkeit stand schon Anfang 2015 eine Drohung im Raum. Mitglieder der Syriza-Regierung hatten ihre Forderung nach „europäischer Solidarität mit Griechenland“ mit folgender Aussage garniert: Wenn ihr uns nicht helft, können wir unsere Aufgaben an der südöstlichen Außengrenze des Schengen-Systems nicht mehr wahrnehmen. Ein Mitglied der ersten Syriza-Regierung ist da sehr konkret geworden. Der „Focus“ zitierte im Februar 2015 den Vize-Innenminister Giannis Panousis mit dem Satz: „Ansonsten werden wir 300000 Immigranten Reisepapiere ausstellen und damit Europa überfluten.“

Offenbar wird diese Ankündigung gegenwärtig tatsächlich wahr gemacht. Griechenland handelt, zum Zorn seiner Nachbarn, wie ein Schleuserstaat. Zusammen mit der Tatsache, dass es im vergangenen Sommer zum x-ten Mal frisches Geld in Milliardenhöhe bekommen hat, ist das ein wahres Schurkenstück in der internationalen Politik. Es findet kurioserweise im Inneren eines besonders eng verkoppelten Systems – in der Europäischen Union – statt. Einem System, von dem man annehmen könnte, dass hier eine besonders starke gegenseitige Bindung besteht. Das ist in der EU offenbar nicht der Fall. Eine Schuldzuweisung allein an Griechenland reicht also nicht. Mindestens ebenso wichtig ist die Rolle, die die Europäische Union hier spielt, genauer: die europäische Kommission. Denn hier wurde und wird die Angelegenheit ganz offensichtlich verschleppt. Offenbar gibt es seitens der EU-Kommission kein Interesse, die Realität des Dublin-III-Abkommens zu klären und daraus Konsequenzen zu ziehen. Offenbar gibt es eher das Interesse, den Schwebezustand eines gebrochenen, aber noch nicht aufgelösten Vertrages möglichst lange aufrecht zu erhalten. Dabei sind durchaus eigene Machtinteressen im Spiel. In diesem Schwebezustand kann die EU-Kommission sich zur Zentralen Agentur aller europäischen Angelegenheiten aufschwingen und den Migrationsdruck zur Schwächung der nationalstaatlichen Instanzen zu nutzen.

Der sogenannte „Mechanismus“

Die EU-Kommission hat sich hier auch einen institutionellen Machthebel gesichert, dessen Bedeutung noch gar nicht in den Fokus gerückt ist. 2013 wurde im Schengen-System ein sogenannter „Mechanismus“ eingerichtet. Er ermöglicht es den Mitgliedsstaaten des Schengen-Abkommens, für die Dauer von 6 Monaten (im Extremfall bis zu 2 Jahren) wieder Personenkontrollen an ihren nationalen Grenzen durchzuführen. Voraussetzung sind „anhaltend schwerwiegende Mängel“ bei der Sicherung der Außengrenzen des Schengensystems. Und vor jeder eigenen Maßnahme der Mitgliedsstaaten müssen zunächst noch einmal „unterstützende Maßnahmen“ zur Behebung der Mängel versucht werden (z.B. durch die Grenzschatzagentur Frontex). Und auch dann können die einzelnen Mitgliedsstaaten nicht selbst den Mechanismus aktivieren. Der Ministerrat muss die Erlaubnis geben, und zwar auf Grundlage eines Vorschlages der … EU-Kommission! Das bedeutet, dass immer zuerst die EU-Kommission am Hebel sitzt. Sie kann den eigenständigen Grenzschutz eines Mitgliedsstaates solange blockieren, wie es ihr opportun erscheint.

Es ist eine abwegige Vereinbarung. Mängel an den Außengrenzen gibt es ja immer an bestimmten Grenzabschnitten und nie an dem gesamten Außenkreis des Schengensystems. Es gibt sie vor allem im Süden und Südosten und auch dort nicht überall: der Gibraltar-Abschnitt funktioniert gut, dank einer soliden Zusammenarbeit Spaniens mit Marokko und anderen westafrikanischen Staaten. Der italienisch-libysche Abschnitt und der Griechenland-Türkei-Abschnitt sind – aus unterschiedlichen Gründen – außer Kontrolle. Warum sollte eine Zentraleinrichtung der Gesamt-EU hier das entscheidende Wort haben? Sie verfügt weder über das Wissen noch über das Maß, um zu beurteilen, wann die Grenzen des Tolerierbaren erreicht sind. Sie hat auch gar nicht unbedingt ein dringendes Interesse, hier zu Lösungen zu kommen. Das nennt man eine institutionell ineffiziente Lösung. Dass so eine ineffiziente Lösung in der Realität verheerende Folgen haben kann, erleben wir nun seit Monaten. Es herrscht ein System organisierter Unverantwortung. Die EU-Kommission weigert sich, das Nicht-Funktionieren der Schengen-Grenzsicherung und das Scheitern der Mängel-Behebung formell ausdrücklich festzustellen.

Wie konnte überhaupt eine solche Regelung beschlossen werden? Es ist im Grunde ein unglaublicher Vorgang. Da wurde mal eben im Rahmen irgendeiner Konferenz die Grenzsouveränität der Staaten als praktizierbares Recht abgeschafft. Und keiner hat es gemerkt!? Wie soll man sich das damalige Tischgespräch vorstellen: Tja, wer soll denn das Nicht-Funktionieren von Schengen feststellen? Ach, das könnte doch die Kommission übernehmen. Einsprüche? Keine. Danke. Und genau hier ist die Seehofer-Frage nach der Herrschaft des Rechts mehr als berechtigt: Dürfen Regierungen, die durch Verfassung und Amtseid an die Souveränität ihrer Länder gebunden sind, einen Vertrag, der einen solchen Mechanismus enthält, unterzeichnen?

Das Zusammenspiel zweier staatsferner Akteure

Es gibt also zwei Akteure, die beim ungebremsten Weiterwuchern der Migrationskrise zusammenspielen: Merkels Kanzleramt und Junckers EU-Kommission. Beide haben dabei ihre Interessen und ihre Ideologien. Beide sehen in den einzelstaatlichen Trägern Europas nur zweitrangige Größen. Zu Merkels Protektorat auf Basis moralischer Imperative passt Junckers Ziel einer „politisierten“ EU-Kommission. Er will mit einer Institution, die eigentlich nur den Status einer Verwaltung hat, schrittweise die Schlüsselgewalt in Europa erschleichen.

Bisweilen der Eindruck erweckt, dieser eigenmächtige Umgang mit dem Recht sei Ausdruck eines besonders „mutigen“ Gestaltungswillens. Er sei eine besonders starke Antwort auf eine Notlage. Es gehe also in der Migrationspolitik um eine besonders kühne Tat, die eben hier und da hemmende Regeln überschreiten müsse. Ein auf dieser Basis geeintes Europa sei ein kühneres Europa, das an die Stelle verknöcherter, bequemer Nationalstaaten trete – und dabei müsse halt ein bisschen Willkür nachhelfen… Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Maßnahmen des deutschen Kanzleramtes und der Brüsseler Kommission laufen darauf hinaus, die Stärken der Staaten außer Kraft zu setzen – zum Beispiel seine Abwehrvorrichtungen an den Landesgrenzen. Sogar die Feststellung des Notstandes, der ja angeblich den besonderen „Mut“ erfordern soll, wird verzögert. Die Maßnahmen setzen also nicht Kräfte für ein entschiedenes Eingreifen frei, sondern sie blockieren sie. Hier wird etwas abgebaut und zerstört. Da ist nirgendwo Stärke zu sehen, sondern nur Zurückweichen vor den möglichen Härten einer Auseinandersetzung. Die weitläufige Rede von den „Herausforderungen“ hat vor den unmittelbaren Gefahren schon kapituliert. Die Desorganisation an den Grenzen, die Merkel und Juncker betreiben, liegt wie ein nasser Sack über Europa. Da ist es kein Wunder, wenn die aktiven Kräfte in Europa eine Lösung suchen, ohne auf die EU und Deutschland zu warten.

Europa braucht den organisierten Selbstbehauptungswillen seiner Staaten

Im Grundsatz ist die Politik der offenen Grenzen auf einen erstaunlichen, geradezu schlafwandlerischen Leichtsinn gebaut. Man schaut nur auf den Vordergrund der menschlichen Migrations-Dramen und ist blind für das tiefere, welthistorische Drama, das hier begonnen hat: Der Exodus eines Riesenheers von Menschen, der sich mit falschen Erwartungen auf die entwickelten Länder richtet und dort selbst durch das extremste Wachstumsszenario nicht bewältigt werden kann. Die unerfüllbaren Ansprüche einer Riesengeneration haben zunächst die jungen Staaten des Nahen Osten und Afrikas destabilisiert und greifen nun nach Europa. In dieser Situation ist eine allgemeine Rettungspolitik keine Option mehr. Die entwickelten Länder kommen nicht darum herum, in der Hauptsache „nein“ zu sagen und dem allgemeinen Exodus den Weg zu versperren. Natürlich muss es immer humanitäre Programme und auch Migrationskontingente geben. Aber die Selbstbehauptung unserer zivilisatorischen Errungenschaften (und die Redlichkeit gegenüber den Andrängenden) gebietet es, diese historische Bewegung als Irrweg zurückzuweisen. Und dafür auch alle Mittel unserer Wehrhaftigkeit einzusetzen. Wir haben nur die Wahl zwischen der Selbstaufgabe an die Dynamik einer überhitzten globalen Migrationswelle oder der Selbstbehauptung, die auch die migrierenden Populationen wieder auf den Weg der Eigenverantwortung verweist. Es gibt keinen Kompromiss zwischen Exodus und Moderne.

Wir sehen uns täglich satt und übersatt an Bewegungs-Bildern: überall nur Ströme von Menschen, Fahrzeugen, Informationen. Unser mediengeleitetes Weltbild hat sich nomadisiert. Dem gegenüber wäre es vielleicht ratsam, einmal näher die real existierenden Grenzen anzuschauen. Dort könnte man vielleicht entdecken, dass auch Grenzen Beziehungen organisieren – frei wählbare Beziehungen.

„Gemeinsam“ ist keine Lösung

Es ist zu einem Reflex in der europäischen Politik geworden, bei jedwedem Problem die Formel „gemeinsam handeln“ zu sprechen und das schon für eine Lösung zu halten. Dabei liegen die eigentlichen Probleme, vor denen die Politik steht, in einer ganz anderen Dimension: Sie muss Härten legitimieren und „Nein“ sagen können. Und sie muss dies „Nein“ durchsetzen können. Darauf läuft es immer wieder hinaus, ob es nun um die Schuldenkrise, die Bildungsmisere oder die anschwellenden Migrationsströme geht. Da kann man tausendmal sein Großes Gemeinsam aufsagen und ist der Lösung doch keinen Flohsprung näher gekommen.

 

 

(Manuskript vom 18.2.2016, erschienen im Rahmen meiner Kolumne bei „Tichys Einblick“ am 19.2.2016)