Es ist ein großes Verdienst, dass die FDP die Bildung einer „Jamaika“-Koalition verhindert hat. Aber haben die Liberalen auch die Kraft, der schleichenden Auflösung des Verfassungsstaates entgegenzutreten?

Liberalismus und Staatsräson

23. November 2017

Die Koalition, die etwas unerhört Neues ins Land bringen sollte, ist schon im Ansatz gescheitert. Das ist ein Indiz, dass in Deutschland inzwischen andere Kraftlinien das politische Geschehen bestimmen als Beschwörungs-Formeln wie „Klimawandel“, „Europa“, „Digitalisierung“ oder „offene Grenzen“. Der „gute Weg“, auf den die Dinge in Deutschland angeblich gebracht worden sind, mobilisiert die Menschen nicht mehr. Er kann offenbar auch die Parteienlandschaft nicht mehr zusammenhalten. Das gilt für die Widerständigkeit der AfD. Und es gilt nun auch für die FDP. Sie hat die Kraft gefunden, sich einer Agenda zu verweigern, die in ihrer ganzen Anlage weitere Grundlagen von Wirtschaft und Staat zur Disposition stellte. Und die von einer Phase der Konsolidierung Deutschlands absolut nichts wissen wollte. Dass weder CDU noch CSU diese Kraft gefunden haben, gehört auch zur historischen Wahrheit. An dies historische Versagen der Christdemokratie wird man sich noch erinnern.

Nun ist viel von „Verantwortungslosigkeit“ die Rede. Aber nicht die Verantwortungslosigkeit der Jamaika-Agenda ist gemeint, sondern der Weigerung der FDP, bei ihr mitzuwirken. Völlig inhaltsfrei gilt jedes „Nein“ im Lande inzwischen als Verrat – und ausgerechnet diese blinde Gefolgschaft nennt sich dann „Staatsräson“! Angesichts dieser dreisten Verdrehung ist es wichtig, von der tatsächlichen Zerstörung der Staatsräson in Deutschland zu sprechen. Und von der Zerstörung der Freiheit, die damit verbunden ist.

In der Moderne ist die Freiheit kein Selbstläufer

Das Eigentümliche der modernen Freiheit ist, dass sie auf starke, stabile, dauerhafte Institutionen gebaut ist. Sie braucht große „Maschinen“, die der Freiheit Allgemeingültigkeit und Reichweite geben. Allerdings bedeuten diese Maschinen auch ihre Zwänge, sodass die Freiheit von den Menschen Anpassungsleistungen erfordert. Im Wirtschaftsleben besteht die Maschine in der Verbindung von Markt und Kapital. Sie bietet ganz neue Güterhorizonte, aber sie bietet keinen sofortigen „Wohlstand für alle“, sondern bedeutet eine oft anstrengende, monotone Arbeitswelt und immer wieder neue soziale Ungleichheiten. Die andere, politische Maschine, der Staat mit seinen Hoheitsaufgaben und seinem Gewaltmonopol, bedeutet nicht sofortige, unbeschränkte Selbstbestimmung, sondern stellt den Gebrauch der Freiheit unter Bedingungen. So ist die moderne Freiheit eine paradoxe Freiheit, die Einschränkungen und Unterordnung einschließt. Sie ist vielfach eine unfreundliche, spröde Freiheit, die auch „böse Bilder“ mit sich bringt. Die Gewinne der modernen Freiheit stellen sich daher eher auf den zweiten Blick und in einem längeren Bilanzzeitraum heraus.

Freiheitszerstörung durch Staatszerstörung

So ist die freiheitlich demokratische Grundordnung historisch zwar erfolgreich und ihre Logik ist heute keineswegs widerlegt. Aber sie ist doch verwundbar und es gibt ein spezifisches Einfallstor der Unfreiheit. Dies Einfallstor ist die Aussicht auf eine simplere, „kundenfreundlichere“ Version der Politik – auf eine Welt, die „für die Menschen da ist“, statt von ihnen Anpassungen an eine vorgegebene Ordnung zu verlangen. In meiner vorigen Kolumne („Die Politik der wuchernden Rechtsansprüche“) wurde am Beispiel der Migrationskrise gezeigt, wie zerstörerisch der Glaube an eine einfachere und freundlichere Freiheit wirken kann. Die bedingungslose Austeilung von Rechtsansprüchen an eine globale Allgemeinheit führt zur Schutzlosigkeit der Freiheit. Wo alle möglichen Rechtsansprüche in Umlauf gesetzt werden, verliert das Recht in seiner Gesamtheit an Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit. Die Rechtsansprüche stehen dann auch nicht mehr im Verhältnis zu den Ressourcen eines Landes. So verwandelt sich die anspruchsvolle moderne Ordnung der Freiheit in eine wohlfeile „Offenheit“. Die Freiheit löst sich in Wohlgefallen auf.

Einfallstore der Unfreiheit (I)

Im vergangenen Sommer ist Deutschland fast über Nacht in eine „Krise des Verbrennungsmotors“ hineingeschlittert – in eine fundamentale Technologiekrise. Über der gesamten Automobil-Mobilität und Automobil-Industrie hängt seitdem ein Damoklesschwert. Und wie ist es entstanden? Wurde auf einmal eine bisher verborgene Schädlichkeit des Verbrennungsmotors gezeigt? Mitnichten. Seine Emissionswerte wurden sogar erheblich verbessert, ebenso die Luft in den Großstädten. Der einzige Grund für die Krise war, dass neue Emissions-Grenzwerte festgelegt wurden – und zwar so extrem niedrig, dass PKWs, die sie erfüllen, zu vertretbaren Kosten nicht herstellbar sind. Da sind die wuchernden Rechtsansprüche – und kaum jemand von den unmittelbar Betroffenen (den Automobil-Unternehmen) hatte die Weitsicht und den Mumm, sich diesem Mechanismus entgegenzustellen. An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass die Behauptung, es ginge um „die“ Umwelt, also um ein besonders großes Gemeingut, eine Täuschung ist. In Wirklichkeit geht es immer um einzelne, isolierte Umweltparameter, die zu absoluten Rechtsansprüchen aufgeblasen werden. Dazu gehört auch der Versuch, die Einhaltung einer bestimmten Durchschnittstemperatur auf dem Planeten zur größten, alles andere verdrängenden Schicksalsfrage der Menschheit zu erklären.

Einfallstore der Unfreiheit (II)

Als zweites Beispiel kann die wachsende Unfähigkeit des Bildungssystems angeführt werden, die Bildungsgüter des Landes zu vermitteln. Hier wurden die Leistungskriterien für das Fortkommen im Bildungssystem immer weiter aufgeweicht. Noten wurden entwertet, Abschlusszeugnisse zu falschen Zertifikaten. Das Fortkommen in Schule und Hochschule wurde immer voraussetzungsloser. Dahinter stand ein Rechtsanspruch, der mit immer größere Absolutheit geltend gemacht wurde: „Jede Bildung für jeden“. Dies Prinzip bekommt immer stärker Vorrang vor den inhaltlichen Anforderungen der Bildungsgüter und vor der Durchführung eines ordentlichen Unterrichts. Im Zweifelsfall werden Probleme auf Kosten des Bildungsniveaus Deutschlands gelöst. Zu diesem Komplex gehört auch die Tendenz, dass an Schulen die Neutralität der Kleidung nicht mehr als allgemeine Norm gilt, sondern zum Beispiel das Tragen des islamischen Schleiers nur dann untersagt werden darf, wenn man im Einzelfall eine Gefährdung des Schulfriedens nachweisen kann. Dies hat das Bundesverfassungsgericht – im Namen der Religionsfreiheit – zum neuen höchsten Recht in Deutschland erklärt. Es hat damit die Weltlichkeit (Laizität) der Bildungsgüter (die Grundlage des staatlichen Schulwesens ist) zu einem verhandelbaren Rechtsgut heruntergestuft.

Einfallstore der Unfreiheit (III)

Natürlich darf hier das Problem, das heute die Bürger so tief in ihrem Alltagsleben berührt, nicht unerwähnt bleiben: die Sicherheit im öffentlichen Raum. Diese Sicherheit ist heute vielfach zerstört – Bürger können wichtige Plätze, Parks, Bahnhöfe in Großstädten zu bestimmten Zeiten nicht mehr betreten. Entstanden ist diese Lage, weil die Präsenz der Staatsgewalt und ihre Möglichkeiten der Überwachung und des Zugriffs stark eingeschränkt wurden. Dies geschah im Namen des sogenannten „freiheitlichen Lebensgefühls“ – eines Gefühls, das angeblich bei Videoüberwachung und Polizeikontrollen nicht aufkommen kann. So dehnte man den Rechtsanspruch auf Freiheit so aus, dass es ein Rechtsanspruch auf Abwesenheit von Polizei und Kameraauge wurde – unter anderem durch die kreative Grundrechtsschöpfung eines „Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“ (per Verfassungsgerichtsurteil). Das konnte dann von Gewaltgruppen genutzt werden und so wurden öffentliche Räume zu No-Go-Areas für die Bürger. Beschweren sich die Bürger, wird ihnen beschieden, so sei halt die Rechtslage. Oder sie ernten bloß ein bedauerndes bis desinteressiertes Achselzucken.

Inflation der Rechtsansprüche, Inflation der Währung

An diesem Punkt fällt eine Parallele auf: Die Politik der billigen Rechte funktioniert ähnlich wie die Politik des billigen Geldes. Diese Politik soll die Mühen der Arbeit und der Kapitalbildung ersparen und stattdessen direkt – per Gelddruckmaschine – Nachfrage herstellen. Im Ergebnis werden immer höhere Schulden aufgetürmt, die wiederum nach neuen Geldzuwendungen verlangen. Genauso wie das billige Geld erzeugen die wohlfeilen Rechtsansprüche immer höhere Erwartungen, die wiederum durch neue Anspruchstitel befriedigt werden müssen. So wird die Inflation der willkürlich verliehenen Rechte ebenso zu einem unendlichen Prozess wie die Inflation des billigen Geldes. Es gibt keinen Ausstieg. Das politische Leben wird ebenso wie das Wirtschaftsleben durch und durch abhängig von immer neuer Zufuhr. Was der monetäre Keynsianismus in der neueren Wirtschaft ist, ist der „Rechte-Keynsianismus“ in der neueren Politik. Auch die Politik hat längst ihre Draghi-Figuren.

Eine Art „Zweit-Verfassung“

Es geht hier nicht um eine vollständige Liste aller einzelnen Formen, die diese Inflation annimmt. Wichtig ist das Gesamtgefüge, das sich so bildet, und die fundamentale Verschiebung, die damit geschieht. Es entsteht so etwas wie eine Zweit-Verfassung aus Rechtsansprüchen, die zur staatlichen Verfassung in Konkurrenz stehen. Diese Zweit-Verfassung durchkreuzt den verbindlichen Rahmen des Verfassungsstaates und löst seine Grenzen auf. Die Tragfähigkeit und der Zusammenhalt eines Landes sind keine ausschlaggebenden Größen mehr. Sie werden zum Sekundärrecht degradiert, das im Zweifelsfall weichen muss. Die prinzipielle Weigerung der deutschen Kanzlerin, eine eindeutige und durchsetzbare Begrenzung der Zuwanderung zu akzeptieren, zeigt, wie diese Über-Verfassung funktioniert: In ihrem Namen kann man sich ermächtigen, Grundgesetzartikel zu ignorieren und ohne gesetzliche Grundlage den Schutz deutscher Grenzen auszusetzen.

Wer spricht hier eigentlich?

Wenn mit dem Merkel-Wort, dass die deutschen Staatsgrenzen „wegen ihrer Länge“ sowieso nicht zu schützen seien, mal eben im Vorbeigehen Eckpfeiler des Grundgesetzes weggewischt werden, oder wenn mit dem „Klimaschutzplan 2050“ die gesamte technische Grundlage des Industriestandortes Deutschland für obsolet erklärt wird, stellt sich die Frage, wer zu solchen Festlegungen und Plänen eigentlich ermächtigt ist. Die hier sprechen, sind zum einen die Kanzlerin und ihr Kabinett (also die Spitzen der Exekutive). Zum anderen gehen viele der neuen Rechtsansprüche der letzten Jahrzehnte auf höchstrichterliche Urteile zurück. Sie sind „Richterrecht“, geschaffen von den Spitzen der Judikative. Diese Antwort ist eigentlich eine ungeheuerliche Feststellung. Denn die Legislative – das demokratisch gewählte Parlament – ist weitgehend ausgeschaltet. Wer verlieh denjenigen, die so weitgehende Urteile über die Zukunft des Staates und der Wirtschaft fällen, ihr höheres Urteilsrecht? Eine demokratisch-repräsentative Instanz ist es nicht.

Ein „Gebot des Rechts“? Ein „Gebot der Not“?

An dieser Stelle hört man des Öfteren die Begründung, es ginge hier eigentlich gar nicht um politische Entscheidungen, sondern bloß um Auslegungen des Rechts. Auslegungen, die eigentlich Ableitungen aus dem bestehenden Recht sind und sich aus ihm „rechtslogisch“ ergeben. Insofern seien jene brisanten Entscheidungen der letzten Jahre eigentlich gar nicht politisch brisant, weil sie sich „aus der Rechtslage ergeben“. Soweit die Entscheidungen kompliziert seien, seien die Komplikationen fachjuristischer Natur und deshalb eine Überforderung für den Bürger und sein Parlament. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass bei vielen Gerichtsurteilen Weltbilder und Sozialvorstellungen von Richtern Pate stehen und sie insofern sehr wohl politisch sind – ohne dass darüber Rechenschaft abgelegt wird.

Und es gibt noch eine zweite Begründung für die Ausschaltung des Parlaments, die man stärker bei den Spitzen der Exekutive findet: die Berufung auf eine Notlage, die außerordentliche Maßnahmen erfordert. Die einsamen Entscheidungen Merkels wären demnach eine Folge dringender Rettungsaktionen und deshalb legitim. Deshalb musste immer wieder und in höchster Eile ohne eine tragende Rolle der Legislative gehandelt werden. Das ist ganz offensichtlich die Linie, die sich durch die Kanzlerschaft der Angela Merkel hindurchzieht, und die schon in ihrem „überraschenden“ politischen Aufstieg angelegt war.

Beide Begründungen – „Gebot des Rechts“ und „Gebot der Not“ – sind Einfallstore der Unfreiheit, weil sie suggerieren, dass es keine politischen Alternativen gibt.

Eine Problematik, die an die Weimarer Republik erinnert

An dieser Stelle berühren die jüngsten Entwicklungen der Bundesrepublik ein älteres Problem der Demokratie in Deutschland. Die Frage, welche politische Instanz die Letztentscheidung in existenziellen Krisen des Landes fällen soll, war eine Schlüsselfrage der Weimarer Republik. Auch damals standen „rechtliche“ oder „exekutive“ Lösungen im Vordergrund, während die Legislative, das Parlament, eher eine nachrangige und misstrauisch beäugte Rolle spielte. In der Schlussphase der Weimarer Republik herrschte ein Notverordnungsregime des Reichspräsidenten.

Mit der Gründung der Bundesrepublik wurde versucht, aus diesen Fehlern zu lernen. Man versuchte, der „juristischen“ und der „exekutiven“ Entwertung der parlamentarischen Demokratie gegenzusteuern. Wenn es so etwas wie eine Staatsräson der Bundesrepublik gibt, dann ist es diese. Und man kann nicht behaupten, dass diese Staatsräson gescheitert ist. Oder dass sie irgendwie „überholt“ ist. Aber es ist eine Tatsache, dass diese Staatsräson in den letzten Legislaturperioden durch einen Geist der Selbstermächtigung beschädigt wurde.

Merkels Notverordnungen ohne Not

Die wirtschaftliche und politische Lage der Bundesrepublik ist ungleich stabiler als die Lage der Weimarer Republik. Und doch nähert sich die politische Führung in mancher Hinsicht wieder der Politik der „Notverordnungen“. Die Rede von der drohenden planetarischen Klimakatastrophe und von einer weltweiten Fluchtbewegung suggerieren ja einen (diesmal globalen) Ausnahmezustand. Diejenigen, die diese Rede führen, bewegen sich daher immer am Rande einer Notstands-Politik. Aber es ist ein Notstand, der nie wirklich deklariert und begründet wurde. Er wäre auch schwer zu begründen, denn er ist in der Realität nicht gegeben. Die tiefen Eingriffe in wirtschaftliche, technologische und institutionelle Grundlagen Deutschlands sind durch keinen vorher bestehenden Notstand gerechtfertigt. Im Gegenteil führen die Eingriffe erst willkürlich und leichtsinnig alle möglichen Notstände im Lande herbei.

Nun haben sich die Freien Demokraten geweigert, die Fortsetzung dieses Kurses zu stützen. Ihr „Nein“ bricht den Mythos des alternativlos Notwendigen auf. Doch von Regierungskreisen und Leitmedien wird das Verhalten der FDP als verantwortungslos bezeichnet. Man geht offenbar von einer Art Mitregierungspflicht aller Parteien aus. Gerade diese Reaktion zeigt, wie groß die Schieflage im Lande inzwischen ist und wie wichtig dies „Nein“ war.

Dabei darf man allerdings nicht übersehen, dass dies „Nein“ mehr der Impuls eines Augenblicks war und noch nicht auf einer sorgfältigen Neupositionierung der FDP beruhte. Der deutsche Liberalismus, der sich lange Zeit vor allem als Partei der „Zivilräson“ zu profilieren versuchte, muss seine Staatsräson erst noch finden.

(erschienen bei „Tichys Einblick“ am 25.November 2017)