Mit seinen Europa-Plänen entpuppt sich der „liberale“ Präsidentschafts-Kandidat als Euro-Sozialist. Dieser Weg wird nicht zu einem Europa selbstverantwortlicher Länder führen. (Das Macron-Fieber, Teil II)
Macrons europäische Transferunion
Es gibt in diesen Tagen ein denkwürdiges Zusammentreffen zweier Vorgänge: Auf der einen Seite haben führende Vertreter der EU, der Kommissionspräsident und die deutsche Kanzlerin vorneweg, sich mächtig gegenüber Großbritannien in Pose geworfen. Man will London erstmal dazu zwingen, für den EU-Austritt zu „bezahlen“, bevor man überhaupt ein Angebot für zukünftige Beziehungen macht. Auf der anderen Seite feiern die Regierenden einen französischen Präsidentschafts-Kandidaten als Hoffnungsträger Europas. Überall ist das Macron-Fieber ausgebrochen. Während der Feind in Großbritannien ausgemacht ist, soll der Retter aus Frankreich kommen.
Wie oft wurde schon in deutschen Medien die Behauptung wiederholt, die Briten hätten nicht gewusst, was sie erwartet, wenn sie für den Brexit stimmen. Aber weiß man in Frankreich eigentlich, was man mit einem Präsidenten Emmanuel Macron bekommt? Und wissen die Europäer, was für ein Risiko sie eingehen, wenn sie die Zukunft der europäischen Beziehungen so sehr an die Besetzung der französischen Staatsführung binden?
Ein Missverhältnis zwischen innerer und äußerer Sanierung
Wofür steht Macron? Abgesehen davon, dass die Aussagen des „unabhängigen“ Kandidaten sehr sprunghaft und plakativ sind, fällt ein Missverhältnis zwischen seinem französischen und seinem europäischen Ehrgeiz auf. Macron ist sehr zurückhaltend, was die inneren Reformen Frankreich betrifft. Seine Kürzungsvorschläge im übermächtigen Öffentlichen Dienst zeugen von wenig Konfliktbereitschaft. Das Renteneintrittsalter von 62 Jahren soll beibehalten werden. Auch bei der Reduzierung von Staatsdefizit und Staatsschulden unterscheidet er sich kaum von der Politik Hollandes seit 2014. Diese Zurückhaltung im Inneren wird durch sehr weitgehende „Europäisierungen“ kontrastiert. Gleich im ersten Punkt von Macrons Wahlmanifest heißt es: „Um viel mehr als heute investieren zu können, wollen wir ein Eurozonen-Budget“, das von einem Parlament der Eurozone beschlossen und von einem Wirtschafts- und Finanzminister der Eurozone umgesetzt wird.“ Macron schlägt gemeinsame Anleihen aller Euro-Länder (Eurobonds) vor, die Vollendung der sog. „Bankenunion“ durch eine gemeinsame Einlagensicherung, sowie eine gemeinsame EU-Arbeitslosenversicherung. Lauter Vergemeinschaftungen also. Würden sie verwirklicht, würde die EU definitiv zur Transferunion. Der Euro-Liberale entpuppt sich als Euro-Sozialist.
Neue Mehrheitsverhältnisse in der EU
Hans-Werner Sinn hat in einem Beitrag für die FAZ (16.3.2017) genau auf dies Missverhältnis zwischen innerer und äußerer Krisenbewältigung hingewiesen: „Macron schlägt den Franzosen ein Programm vor, das ihnen selbst Entbehrungen erspart, und sucht stattdessen mit Deutschland den Schulterschluss für ein gemeinsames Eurobudget, Eurobonds, eine gemeinsame Einlagensicherung und eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung.“ Sinn macht darauf aufmerksam, dass durch den Brexit der bisherige „D-Mark-Block“ (Deutschland, Großbritannien, Niederlande, Österreich, Finnland) kleiner wird und nicht mehr die Sperrminorität von 35% der EU-Gesamtbevölkerung (nach dem Lissabon-Vertrag) erreicht. Dieser Block habe bisher einen gewissen Schutz gegen stabilitätsgefährdende Beschlüsse dargestellt. Dieser Schutz fehlt bald.
Es geht also nicht darum, der Person Macron eine dämonische Kraft anzudichten. Sein Programm könnte Wirklichkeit erden, weil er im Rahmen einer neuen EU-Konstellation an die Macht kommen würde. Hier gibt es gewissermaßen einen „natürlichen Tendenz“, die neuen Mehrheitsverhältnisse zu nutzen, und dafür wächst Frankreich die Schlüssel- und Führungsrolle zu.
Genau an dieser Stelle passt dann die Figur des jung-dynamischen Retters Macron besonders gut. Für eine Vergemeinschaftung der Defizite ist ein Politiker, der das Image des Liberalen hat und daher unter keinem Links-Verdacht steht, die Idealbesetzung. Das ist die gefährliche Seite dieser uns so freundlich zuwinkenden Kandidatur: Sie enthält einen Keim zur Erpressung – frei nach dem Motto „Ihr werdet den von Euch so geliebten jung-dynamischen Macron doch nicht im Regen stehen lassen. Ihr müsst ihm Erfolge zugestehen.“ Mit einem Macron-Frankreich wird die Gefahr einer Achsenverschiebung der EU real – weil sie im „liberalen“ Gewand daherkommt.
Die „besondere Beziehung“ zwischen Paris und Brüssel
Aber ist die Europäische Union nicht eine auf Verträgen beruhende Gemeinschaft? Ist damit eine Achsenverschiebung nicht ausgeschlossen? Nein, ist sie nicht. Denn es gibt in der EU zunehmend Vorgänge, die an der Geltungskraft der Verträge zweifeln lassen. Bei diesen Vorgängen spielt Frankreich nicht nur eine Nebenrolle.
Im Jahr 2016 erschien in Frankreich ein Buch mit dem Titel „Un président ne devrait pas dire ca“ („Ein Präsident sollte das nicht sagen“) erschienen, in dem die beiden „Le Monde“-Journalisten Gerard Davet und Fabrice Lhomme ausführlich aus insgesamt 61 Gesprächen zitieren, die sie seit 2012 mit dem Präsidenten Hollande geführt haben. Dort plaudert der Präsident ganz unverblümt vom politischen Geschäft. Und an einer Stelle spricht er von einer geheimen Abmachung mit der EU-Kommission, die Frankreich eine mehrjährige Fristverlängerung für die Überschreitung der 3-Prozent Grenze erlaubt hätte. Dabei, so Hollande, habe der Vertreter der EU-Kommission folgendes Vorgehen vorgeschlagen:
„Wir ziehen es vor, wenn Sie weiterhin die 3 Prozent öffentlich als Ziel anstreben, denn dann können wir besser mit den anderen Ländern umgehen…Wir bewilligen Ihnen ein gewisses Entgegenkommen beim Rhythmus, der Ihren Vorstellungen der Haushaltsplanung entspricht. Und wenn es dann nicht die 3 Prozent werden, dann werden wir Ihnen dafür nicht die Schuld geben.“
Hollande spricht in diesem Zusammenhang wörtlich von einem „geheimen Vertrag“. Er sagt auch ganz offen, seine Regierung habe von vornherein gewusst, dass sie die erklärten Haushaltsziele nicht erreichen würden: „Wir wussten, dass wir nicht bei 3 Prozent ankommen werden. Aber wenn wir das von Anfang an gesagt hätten, wären wir nicht als seriös eingeschätzt worden.“ Die Sonderbehandlung Frankreichs durch die EU-Kommission erklärt Hollande als „das Privileg der großen Länder“: „Wir sind eben Frankreich, wir schützen euch, wir haben eine Armee, eine Kapazität der Abschreckung, eine Diplomatie.“ Die Europäer wüssten, „dass sie uns brauchen. Und das hat eben seinen Preis, der gezahlt werden muss.“ (zit. nach einem Artikel in der FAZ vom 18.10.2016)
Grundlegende Verträge der EU sind faktisch außer Kraft gesetzt
Diese Passagen belegen nicht nur, dass Paris in Bezug auf die Stabilitätskriterien betrogen hat. Hier wurde im Zusammenspiel mit Brüssel ausdrücklich und heimtückisch der Maastrichter Vertrag (ein Zentralpunkt des ganzen EU-Vertragssystems) umgangen. Und nach Bekanntwerden dieser Äußerungen Hollandes wurde nicht etwa eine Untersuchung und ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Sondern der Vorgang wurde möglichst geräuschlos („so ist es halt“) in die Ablage befördert. Aber hier ist an einem Punkt tatsächlich belegt, dass die Europäische Union neben und außerhalb der geschlossenen Verträge arbeitet. Und es ist kein nebensächlicher Punkt, sondern hier wird die Geltung einer Norm verletzt, die für die wirtschaftliche und finanzielle Zusammenarbeit grundlegend ist. Dieser Vorgang ist auch deshalb von großer Tragweite, weil er belegt, dass es in der EU eine Grauzone außervertraglicher Beziehungen gibt, in denen ein Zustand organisierter Willkür herrscht. Willkür bedeutet, dass sich meistens das Recht des Stärkeren durchsetzt – in diesem Fall das Recht der größeren Länder wie Frankreich.
Ähnliches kann man auch mit Fug und Recht von einem zweiten Vertrag sagen: dem Schengen-Vertrag, der das verbindliche Verhältnis zwischen dem Schutz der EU-Außengrenzen und der Öffnung der EU-Binnengrenzen regeln soll. Dieser Vertrag wurde und wird systematisch gebrochen. Doch wird auch hier so getan, als gäbe es ihn noch und will in seinem Namen eine Quotenverteilung von Migranten in der EU durchsetzen. „Maastricht“ und „Schengen“ sind grundlegende Bausteine der Europäischen Vergemeinschaftung. Werden diese Bausteine angetastet, wird der rechtsstaatliche Charakter der EU angetastet. Die europäische Vergemeinschaftung wird dann zunehmend durch informelle „Beziehungen“ geregelt. Es entsteht eine Doppelstruktur aus Recht und Willkür. Frankreich hat schon bisher gezeigt, dass es auf dieser Doppelklaviatur der Politik zu spielen weiß.
Jetzt muss man damit rechnen, dass die spezielle Beziehung zwischen Paris und Brüssel unter einem Präsidenten Macron eher stärker als schwächer wird. Ein definitiver Schritt in eine europäische Transfer-Union ist also nicht nur eine theoretische Gefahr, sondern eine ganz akut-praktische Gefahr.
Man sagt „Europa“ und meint „Kredit“
Es ist in diesen Tagen viel davon die Rede, dass Deutschland und Frankreich unbedingt „zusammenstehen“ müssen. Dass wir in den Wahlen des Jahres 2017 eine „proeuropäische Haltung“ zeigen müssen. Und tatsächlich wird auf manchen Plätzen schon jeden Sonntag eifrig mit dem EU-Fähnchen gewunken. Aber ein Blick auf die immens gewachsene Schuldenlast in Europa zeigt, dass es weniger um edle Freundschaft geht und mehr um „das Geld der Anderen“. Die Schieflage von Wirtschaft und Staatsfinanzen wird vermittels eines Transfer-Systems von Kredit und Subvention durch EZB und EU in Schach gehalten. Halb Europa baut auf die Bonität Deutschlands und Deutschland möchte seinerseits unbedingt seine günstige Exportposition ausbauen. Diese grenzüberschreitende Kombination von Schieflagen ist das Geschäftsgeheimnis der vielbeschworenen „europäischen Lösungen“.
Aber diese Lösungen sind nicht nachhaltig, weil sie äußerlich bleiben. Die Defizite und Schulden wachsen ja Monat für Monat immer weiter. Auch sind die Grenzen der deutschen Exportüberschüsse schon deutlich sichtbar. Ein europäischer Bilanzausgleich, der zwischen den Überschüssen einer Minderheit von Ländern und den Defiziten einer Mehrheit hergestellt werden soll, kann nicht gelingen. Eben so wenig kann eine Schieflagen-Kombination zwischen Deutschland und Frankreich funktionieren. Ein solcher „Kern“ Europas würde auch Gift für das deutsch-französische Verhältnis sein, weil er beide Nationen in einer schlechten, entwürdigenden Rolle fixiert.
Das sollte man bedenken, wenn man die Vorschläge des „Europa-Kandidaten“ ernsthaft prüft.
Soll das wirklich der europäische Zukunftsentwurf sein? Und sollen wirklich die Macrons dieser Welt die Europäer des 21. Jahrhunderts sein?
Es wird Zeit, eine Gegenrechnung zu machen
Wenn man diesen Aussichten einmal etwas länger ins Auge blickt, kann man schon auf die Idee kommen, einmal ganz nüchtern seine eigene Gegenrechnung zu machen. Ist ein „nationaler“ Kurs nicht enger bei den wirklichen (inneren) Problemen des Landes? Und fahren nicht auch die anderen Länder in Europa besser, wenn sie es mit einem selbstverantwortlichen Frankreich zu tun haben?
Die Entscheidung in Frankreich fällt jetzt zwischen dem „parteilosen“ Kandidaten Emmanuel Macron und der Kandidatin der Front National, Marine Le Pen. In dieser Gegenüberstellung liegt eine tiefere Wahrheit. Sie enthält eine längerfristige Perspektive, die über die heutigen Akteure hinausweist. Es zeichnet sich eine neue Gruppierung der politischen Kräfte ab, die die politische Landschaft der kommenden Jahre und Jahrzehnte prägen könnte. Wie wäre diese Gruppierung zu beschreiben?
Provisorisch könnte man davon sprechen, dass auf der einen Seite (Macron) eine Politik ohne feste Grenzen und Bestände steht, in der globale (europäische) Aushandlungsprozesse alles Wesentliche regeln. Diese Politik nimmt für sich „Offenheit“ in Anspruch und will Frankreich nur soweit repräsentieren, wie es europäisiert ist. Auf der anderen Seite (Le Pen) sammeln sich die Kräfte, die eine Politik auf Grundlage der begrenzten Bestände, Verhältnisse und Interessen eines Landes anstreben. Für sie ist politische Legitimität nur möglich, wenn sie sich im Rahmen eines „kompakten“ Staatswesens arbeitet und sich in der Kontinuität eines bestimmten Staatsvolks zu verantworten hat. Dieser politische Pol geht davon aus, dass ein anderer, größerer Verantwortungsrahmen nicht zur Verfügung steht und deshalb die Nationen nach wie vor die grundlegende politische Instanz sind.
Man könnte auch sagen, dass sich ein diffuser, ins Globale aufgelöster Liberalismus und ein Liberalismus begrenzter, nationaler Verfassungsstaaten gegenüberstehen. Die globalisierende Option hat jetzt einen „unabhängigen“ Kandidaten hervorgebracht, der die etablierten Regierungsparteien auf der linken und rechten Seite außer Funktion setzt und damit die Konturen der französischen Demokratie zum Verschwimmen bringt. Das „offene Frankreich“ verschlingt seine Parteien. Auf der anderen Seite hat die Option der nationalstaatlich begrenzten Verantwortung eine Partei neu hervorgebracht, die bereits einige Stürme überstanden hat. Sie ist zunächst als eine „extreme“ Partei entstanden, die sich durch Radikalopposition gegen die erodierenden, alten Mehrheitsparteien behaupten musste, und die sich nun von dem Stigma befreien muss, nur eine engstirnige und autoritäre Lösung zu haben.
Es liegt durchaus in der Logik der Sache, dass die Parteibildung in dieser Richtung weitergeht. Es gibt ein bemerkenswertes Faktum, das auch diejenigen, die sich vor allem um „die rechte Gefahr“ in Frankreich (und anderswo) Sorgen machen, nachdenklich stimmen sollte: Über einen längeren Zeitraum betrachtet ist die Front National nicht den Weg einer zunehmenden Radikalisierung gegangen, sondern sie hat Positionen der Mitte neu belebt. Es gibt Anliegen des Bürgertums und der Arbeiterschaft, die mit der Idee selbstverantwortlicher, souveräner Nationen gut zusammenpassen. Diese Idee muss sich auf Dauer auch nicht auf eine Partei beschränken, sondern kann regierungsfähige Mehr-Parteien-Koalitionen zusammenbringen.
(erschienen am 4.Mai 2017 bei „Tichys Einblick“ und am 7. Mai bei „Die Achse des Guten“)