Mein Ort

Betrachtungen über einer Berliner Kreuzung

Eine Straße in Berlin und über ihr eine Bahnstrecke. Oben ein Bahnsteig, unten ein Bürger-steig. Asphalt, Bordsteine, Markierungen, Stahlträger, Geländer, Ziegelmauern. Schalterkästen, Schilder, Straßenlaternen, Ampeln, ein roter Imbiss-Stand. PKWs, ein Bus, Fahrräder. Ein Bahnzug, der auf dem Bahnsteig über der Straße hält. Passanten, die aus dem Bahnhofstor auf der linken Seite kommen. Das große „S“ der Berliner S-Bahn in einem hell-blassen Morgenhimmel. Die winterlich-kahlen Straßenbäume. Und man könnte sich weiter vertiefen in das Bild: die Asphaltflicken auf der Straße, die mehrfache Tiefbauarbeiten verraten. Die Absenkung der Bordsteine beim Fußgänger-Übergang. Die Metallbügel, die den Fuß des Straßenbaums schützen. Das Schild, das die maximale Durchfahrtshöhe „4 m“ signalisiert. Die geschäftige Gangart der Passanten, die man auch, bei genauerem Hinsehen, auf dem Foto sieht. Und so weiter und so weiter.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht hier vorbei komme. Beim Einkauf im „Bolle“, der inzwischen zu Rewe gehört; bei der Fahrt zur Arbeit, zu einer Veranstaltung, zu einem Ausflug; beim Besorgen von Morgenzeitung und Brötchen im S-Bahn-Kiosk oder im Lädchen, der in einem vielen Bogenräume unter dem Bahndamm untergebracht ist. Mit meiner Frau, mit Freunden, mit der Enkelin und natürlich allein. Mal zielbewusst, mal schlendernd, mal im Laufschritt. Wohl schon einige tausend Mal habe ich dies Bild vor Augen gehabt. Bei Morgensonne mit langen Schatten, im grellen Mittagslicht, im selektiven Licht der Straßenlaternen. Bei trockener Hitze oder trockener Kälte. Bei Wolkenbruch. Schneebedeckt. Oder tagelang hoffnungslos vereist. Oft habe ich kaum hingesehen und bin durch das Bild bloß durchgegangen wie durch einen Tunnel. Manchmal habe ich innegehalten und das Bild ist merkwürdig stark geworden. Und ich habe gedacht: „Das ist mein Berlin“.

Ich wohne hier ganz in der Nähe. Die Straße heißt „Bartningallee“, die Bahnanlage gehören zur sogenannten „Stadtbahn“, womit nicht die Züge gemeint sind, sondern ein erhöhter Gleiskörper, der quer durch Berlin führt und sowohl S-Bahn-Gleise als auch Fernbahngleise umfasst. Meine S-Bahn-Station heißt „Bellevue“. Es ist nur eine Station zum Hauptbahnhof, zwei Stationen zur Friedrichstraße. In der anderen Richtung zwei Stationen zum Bahnhof Zoo. Ich könnte nun weitere Informationen zum Woher und Wohin anfügen: Die morgendlichen Passanten sind meistens zur Arbeit im Innenministerium und im Amtsgericht Tiergarten unterwegs. Es sind nur ein paar Schritte zum Sitz des Bundespräsidenten. Die Spree fließt vorbei, der Tiergarten beginnt direkt hinter der S-Bahn-Station. Und dann erst die Fernbahngleise: Sie kommen von weither und führen sehr weit weg, denn über diese kleine, unscheinbare Überführung läuft die Eisenbahnstrecke Paris – Moskau. Bisweilen sieht man einen Zug mit sibirisch anmutenden Waggons und Lokomotiven. Wie kosmopolitisch das klingt.

Solche Geschichten, die einen Ort gleichsam von Ferne mit Weltbedeutung aufladen, erzählt man gerne seinen Gästen. Und man gibt auch vor sich selber damit an: Ich wohne an einem ganz besonderen Ort, auf den sich viele Augen richten. Und doch, bei genauerem Nachdenken, ist es nicht das, was diese Kreuzung zu meinem Ort macht. Die Dinge, auf die es dafür ankommt, müssen nicht unbedingt Weltruhm beanspruchen. Ihre Einzigartigkeit ist auch nicht von der exotischen Art. Eine Kreuzung wie diese gibt es sicher einige Tausend Mal auf der Welt. Die kleine Aufzählung, die ich am Anfang dieses Textes gemacht habe, enthält Dinge, die es millionenfach gibt: Asphalt, Bordstein, Eisengeländer, Ampeln… Sie sind nicht die besten, durchdachtesten, schönsten Produkte, aber sie sind mir nah. Und sie sind, in zeitlicher Hinsicht, für mich „groß“ – weil ich eine beträchtliche Zeit meines Lebens mit ihnen zubringe. Mein Ort ist auf seine Art einzigartig. Ich würde ihn immer sofort wiedererkennen. An einigen Details, an der Anordnung der Dinge. An den Reparaturspuren auf der Straße, an den beiden Bäumen zur Linken und dem Lichtmast zur Rechten. Der Ort ist „aus krummem Holz“ wie es mein Leben ist.

Ich erinnere mich noch an das erste Mal an diesem Ort. Das war vor ziemlich genau 8 Jahren, im Dezember 2005. Ich bekam eine Teilzeitstelle in Berlin, eine Wohnung musste her. Eine Zweitwohnung, meine Frau arbeitete noch im Ruhrgebiet. Die Wohnung durfte nicht zu teuer sein. Es gab ein Angebot am Holsteiner Ufer, es sah auf dem Stadtplan nicht schlecht aus. Das Rendezvous mit dem Verwalter war auf 8 Uhr festgesetzt, ich kam an der S-Bahnhaltestelle „Bellevue“ an und ging zum ersten Mal die Bartningallee herunter, nicht ahnend, wie oft ich das in den nächsten Jahren noch tun würde. Ich bog um die Ecke ins Holsteiner Ufer und war erstaunt, wie umstandslos ich am richtigen Ort gelandet war. Das Haus war eher von der schlichteren Art, aus den Notbauzeiten der 50er Jahre. Zum Rendezvous war noch etwas Zeit, ich sah mich um. Und dann war da dieser merkwürdige Moment, wo die Dinge innehielten. Sie schienen sich um mich zu versammeln, nicht aufdringlich, eher mit gelassener Distanz standen sie da und blickten auf mich: die älteren Häuser auf der einen Seite, die Neubauten des „Spreebogens“ gegenüber. In der Mitte die Spree, winterkahle Bäume, eine Brücke mit Bären, ein paar Gaslaternen von exakt der gleichen Art, wie sie in der Straße meiner Kindheit an der Osnabrücker Illoshöhe standen. Von Ferne hörte man ab und zu einen Zug vorbeischleifen. Diese Versammlung schien mir irgendwie „Guten Morgen“ zu wünschen. „Das könnte es sein“, antwortete ich. Das Holsteiner Ufer 38 wurde meine erste Berliner Wohnung.

Vielleicht ist mir dieser Moment so erinnerlich, weil mein ganzes Leben damals gerade auf „hochmobil“ gestellt war: neue Arbeit, neue Stadt, Pendlerexistenz zwischen dem Ruhrgebiet und Berlin. Da erschien dies Stillstehen wie eine besondere Veranstaltung, wie ein echtes Kunststück. Inzwischen lebe ich mit meiner Frau gänzlich in Berlin. Wir sind zweimal umgezogen, einmal im gleichen Wohngebäude, dann auf die andere Spreeseite. Aber wir können von unserem heutigen Standort noch zu unseren alten Fenstern herüberschauen.

Mit der Zeit gab es ein zweites Entdecken meines Ortes. Genau getrachtet: Erst jetzt rückte wirklich die Kreuzung, von der hier die Rede ist, Es hat einige Zeit gedauert, bis mir auffiel, wie viel mir gerade dieser Ort bedeutete. Es kam nun häufiger vor, dass, während ich zur S-Bahn ging, die Straße nicht nur rechts und links an mir vorbeifloss, sondern innehielt und auf einmal nicht mehr selbstverständlich und banal erschien. Der Ort wurde zu einem Präsentierteller, zu einer Plattform und Szenerie, die sich immer mehr füllte. Das ist wohl ein Vorteil der Wiederholung. Wie oft schaut man auf ein Haus, bevor man auf einmal irgendeine merkwürdige Figur sieht oder entdeckt, wie schön man „eigentlich“ seinen Anstrich findet. Oder man sieht Spuren großer Trends, die dadurch eine ganz andere Wirklichkeit bekommen – weil man sie als „Allgemeine“ nur aus der Zeitung kennt: Im Gebäude mit dem verstaubten Charme der 70er Jahre, in dem jahrelang ein aus der Zeit gefallenes Möbelgeschäft auf Kundschaft wartete, sind im Laufe weniger Monate alle Parterre-Flächen neu vermietet. An ein Maklerbüro, an den HDI und an die Organisation „Weißer Ring“.

Noch länger hat es gedauert, bis ich versuchte, etwas über den Ort zu Papier zu bringen. Dafür eine Sprache zu finden, die auf der Höhe der Wahrnehmungen ist, ist gar nicht so leicht. Man schreibt oft zigmal eine Formel hin, die gerade zur Hand ist – bis man darauf kommt, dass etwas anderes hervorgehoben werden muss. Was macht diese Kreuzung zu meinem Ort? Ist es das „Bodenständige“, drückt sich hier eine versteckte Suche nach Sesshaftigkeit aus? Eine Altersmüdigkeit? Doch bei näherem Hinsehen ist die Bellevue-Kreuzung nicht einfach gemütlich-ruhig und natürlich-erdverbunden. Sie hat etwas Aufgewecktes. Etwas Aufrechtes. Und es ist kein organisches Wachstum, das den Stein und Stahl aufgerichtet hat, der nun gewaltige Lasten hoch hält. Es ist Zivilisation. Wenn Rilke in einem Gedicht (über den Herbst) schrieb, dass überall und in allem „ein Fallen“ sei, so könnte man hier sagen: „Es ist ein Heben in allem“. Arbeit in der Vertikale, Arbeit an der Schwerkraft. Nicht Vermeidung des Schweren und Flucht ins Leichte der digitalen Fingerspitzen-Welt. Man findet diese Hebearbeit in den Stahlträgern der Überführung, in den Ziegelmauern, im Laternenmast, im erhöhten Bürgersteig und selbst in der Tragkraft des Asphalts.

Nicht das horizontale Element der zurückgelegten weiten Strecke der Fahrzeuge beeindruckt hier. Die Stadt ist ein Hebewerk. Es muss gar nicht die maximale Wolkenkratzerhöhe sein, um zu spüren, welche gewaltigen Kräfte in der Statik einer Stadt wirken und welche Hebearbeit hier die gebaute, künstliche Umwelt verrichtet. Eine Arbeit im physikalischen Sinn, die Stein und Stahl auch an dieser Kreuzung in jeder Sekunde verrichten. Eine Arbeit, die dem aufrechten Gang der Menschen verwandt ist, die ihn begleitet, erleichtert, animiert. Auch ausdauernder macht, denn das urbane Hebewerk ist unermüdlich und ganz ungefragt einfach da.

Doch steckt das Hebewerk offenbar auch in einem Problem. Die schmuddelige, düstere Unterführung, mit ihren staubbedeckten Lampen, mit ihren Resten von Pisse auf dem Bürgersteig, mit der verklebten, verschmierten roten Klinkerwand und den kaputten Fahrrädern, die hier monatelang vor sich hin rosten, wirkt nicht so, als wäre das Werk in unserer Gegenwart besonders geschätzt. Man findet im Umfeld der Kreuzung Bäume, an denen Menschen Zettel angebracht haben, die sich über das Fällen von Straßenbäumen beklagen. Noch nie habe ich einen solchen Zettel an einem Träger, einer Tür, einer Wand gesehen, die über die dortige Verwahrlosung empört waren. Dazu passt die Tatsache, dass der Zustand der Straßen, Brücken, Leitungssysteme in der ganzen Stadt (und in Deutschland insgesamt) sich allmählich verschlechtert, weil der Erhalt der technischen Infrastruktur nicht mehr so geachtet ist und gegenüber allem, was direkt an „den Menschen“ adressiert ist, zweitrangig geworden ist. Es geht nicht einfach um Fehlentscheidungen der Politik. Der Gesellschaft insgesamt scheint in unserer Gegenwart der Sinn für die Objektdimension ihrer Stadt abhanden gekommen zu sein. Sie ist nur noch „soziale“ Stadt im intersubjektiven Sinn. Man läuft zwischen den Bauwerken, die vor 100 Jahren das große Berliner Stadtthema waren, so gleichgültig und fremd herum, wie es ein paar Jahrhunderte vorher die Römer zwischen ihren halbverschütteten antiken Säulenresten taten.

Und doch: Vor kurzem waren Malena und Tim aus Castrop-Rauxel zu Besuch. Das erste, was Tim auf dem Bellevue-Bahnsteig mit dem Handy machte, war eine Tonaufnahme der S-Bahn, um das aufjaulende Anfahrgeräusch der S-Bahn festzuhalten. Das Hochfahren der Triebwerke ist irgendwie doch ein Kultgeräusch in Berlin. Ein unaufhörlicher Weckruf für die Stadt. Der Spruch „Ah, die S-Bahn ist auch schon unterwegs“ gehörte von Anfang an zu unserem frühmorgentlichen Ehe-Morgengruß.

Aber kann man eine solche Kreuzung lieben? Ist das nicht maßlos übertrieben, ein gekünsteltes Romantisieren? Vielleicht sollte es heißen: „Sie ist mir ans Herz gewachsen“. Denn es gibt ein merkwürdiges Phänomen: Etwas, das keine Schönheitskonkurrenz gewinnen kann, keinen Wettkampf um Höher-Weiter-Schneller, keinen Preis für besondere Vielfalt, kann doch für Menschen eine immense Bedeutung bekommen. Wir halten treu zu unserer provinziellen Heimatstadt, zu unserem mittelmäßigen Fußballverein, zu unserem störrischen WauWau und zu unserem kitschigen T-Shirt. Wir sagen „Für diesen Menschen würde ich (fast) alles tun“, obwohl wir wissen, dass es, allgemein betrachtet, in der Gattung Mensch vielleicht bessere Exemplare gibt. So ist mir gerade „diese“ Kreuzung ans Herz gewachsen, obwohl es ein paar Straßen weiter genauso gut ist und wahrscheinlich sogar noch besser.

Dabei geht es nicht nur um ein gemütliches Gewohnheit-Sein. Denn bei dem Ans-Herz-Wachsen ist durchaus etwas Größeres im Spiel. Es geht um „Wirklichkeit“ im buchstäblichen Sinn. Ein Gesicht, das uns faszinierend-vertraut ist, wird groß wie ein Gebirge. Weil es in seinem Dasein uns nahe gekommen ist und uns ganz anders beeindrucken kann, ist es konkurrenzlos „wirklich“. Die Vogelperspektive des „allgemein betrachtet“ zeigt hier ihre Schwäche. Sie bietet nur gedämpfte Wirklichkeiten.

Was dieser Bindung Kraft verleiht, ist nicht ganz leicht zu erklären. Offenbar geht es nicht in erster Linie um das „ich“ – es sind ja Objekte, die an Wert gewinnen und Macht über mich bekommen. Offenbar geht es auch nicht so sehr um ein ausschließliches „mein“ – denn ich teile die Straße ja mit vielen. Vielleicht geht es um die Fähigkeit, ein „dies“ und „dieser“ zu sagen und zu empfinden: Etwas Bestimmtes, auf das ich mich festlege und das dann für mich riesengroß werden kann. Ich lege mich fest, weil ich ein endliches Wesen bin. Die Suche nach dem Optimum eines Dings, eines Ortes, eines Menschen, eines Landes, einer Welt ist etwas für unendliche Wesen. Allerdings liegt es in der Natur des Sich-Festlegens, dass sich niemand durch Argumente zur gleichen Wertschätzung bringen lässt. Für einen Unbeteiligten wird „mein Ort“ durch kein Argument zu seinem Ort.

Es geht um ein „Ankommen“. In einer Welt, die viele Freiheitsgrade hat, die viele Angebote macht, ist die erste Schlussfolgerung, dass man viel unterwegs sein muss. Immer Neues, immer Vorwärts. Oder noch weiter gedacht: Dass man sich möglichst viele Optionen offen halten soll und ein möglichst „virtuelles“ Leben pflegen soll. Man kann sich immer etwas vorstellen, was „auch interessant“ ist. Deshalb gibt es in unserer Gegenwart eine starke Neigung, sich alles möglichst offen zu halten (Man denke nur an die delikate Entscheidung „Kinder haben“). Auch die Festlegung auf einen Ort hat diese Nachteile. Auch sie hat erhebliche Opportunitätskosten – jede Festlegung kostet die Gelegenheiten, die dann nicht mehr erreichbar sind. Aber es gibt auch Opportunitätskosten des „virtuellen“ Lebens: Dies Leben kann an keinem Ort wirklich warm werden und kein Ort kann im Rahmen dieses endlichen Lebens wirklich groß werden.

Gewiss ist es eine Errungenschaft, dass die moderne Welt viele Möglichkeiten bietet, und man möchte sie nicht missen. Man möchte niemand raten, diese moderne Welt, in der es viele Alternativen gibt, nicht auch auszuprobieren. Bis zu einem gewissen Grade jedenfalls. Aber wenn man diese Grundtatsache akzeptiert, gibt es eine paradoxe Konsequenz: Es wird nun interessant, die Fähigkeit zu entwickeln, sich festzulegen und dabei zu bleiben. Das „immer-weiter“ reicht nicht, man muss auch mal irgendwo ankommen. Anzukommen ist kein Zeichen irgendeiner Lebensmüdigkeit, sondern eine kluge Antwort auf die Endlichkeit des Lebens und die Wirklichkeit der Welt. Freiheit will nicht nur Vielfalt, sie will auch Wirklichkeit.

 

 

Gerd Held, 20.1.2014