Deutschland braucht nicht nur eine „stabile Regierung“, sondern eine Stabilisierung des Landes. Doch das regierende Parteienspektrum ist nicht fähig, den Ernst der historischen Situation zu erfassen.

Merkels letztes Aufgebot

1.Dezember 2017

Über dem deutschen November 2017 steht ein „Nein“. Es war ein plötzliches und sicher nicht von langer Hand vorbereitetes Nein, aber es hat befreiend gewirkt. Es hat gezeigt, dass man sich der Sogkraft einer selbsternannten „Mitte“ entziehen kann. Dies Nein hat die FDP gesprochen und das ist ein Verdienst. Nach den Erfolgen der AfD zeigt sich nun auf der liberalen Seite des Parteienspektrums, dass es neue politische Kraftlinien in Deutschland gibt, die dem bisher herrschenden Politik-Management entgleiten. Dass dies Management nun noch stärker vor der „Verantwortungslosigkeit“ warnt und eine Art Mitregierungspflicht der Parteien predigt, darf nicht verwundern. Es wird noch eine Weile „weiter so“ gehen. Aber die Versuche einer Koalitionsbildung werden immer krampfhafter. Der Merkelismus, der sich lange Zeit als „die Mitte“ gleichsam unsichtbar und unantastbar gemacht hat, muss sich nun stärker exponieren. Die Entzauberung eines Regierungssystems hat begonnen.

Der „Jamaika-Plan“ der schon arg gerupften Kanzlerin, versuchte noch einmal in extremis, die Macht der Merkel-Mitte auszureizen. Die schwarz-grün-gelbe Koalition sollte ein Unternehmen mit allen möglichen Projekten sein, für deren Gemeinsamkeit nur der Nonsens-Satz „Wir schaffen aus den Gegensätzen etwas ganz Neues“ gefunden wurde. Das war eine ähnlich fromme Glaubensformel wie das Wort von der „ganz neuen Erzählung“, die Europa brauche. Keine realhistorische Entwicklung legte diese Koalition nahe und gab ihr Kraft. Die Politik-Fiktion namens „Jamaika“ brachte nur das Fremdeln mit der eigenen Nation auf den Begriff. Die Fiktion ist auch in einem Symbol anschaulich geworden: dem Balkon des Reichstagspräsidenten-Palais in Berlin. Das war die freischwebende Bühne, auf der wochenlang die Eitelkeiten Winke-Winke machten, während die zunehmende Verwahrlosung des Landes und seiner Hauptstadt schon unübersehbar ist.

Das Versailles-Syndrom

In dieser Situation kann einem ein Stichwort in den Sinn kommen: „Versailles“. Nicht das Versailles des 17. Jahrhunderts, das die Kraftlinien der französischen Nation bündelte, sondern das Versailles des ausgehenden 18. Jahrhunderts, das die Veränderungen im Lande und in der Welt nicht mehr wahrnahm. Es gibt ein Buch, das in wunderbar anschaulicher Weise schildert, wie die höfische Gesellschaft in Versailles diese Realitäten auf eine geradezu bizarre Weise verkannte und deshalb politisch versagte. Das Buch ist Stefan Zweigs „Marie Antoinette“ – kein wissenschaftliches Buch, sondern eine literarische Biographie, die aber sehr sorgfältig und mit einem Blick für Details recherchiert ist. Zweig geht es weder um eine große Anklage noch um eine große Entschuldigung des Ancien Regime, sondern er zeigt, wie den Hauptakteuren das Milieu, das sie für „die Gesellschaft“ halten, und der Ort, den sie für „die Welt“ halten, zur Falle wird. „Gelangweilt und verständnislos stehen sie alle vor der mächtig anströmenden Zeit“, heißt es an einer Stelle. Vielleicht könnte man vom Versailles-Syndrom sprechen.

In dem Buch findet sich auch jener bizarre Tagebuch-Eintrag des Königs vom 14.Juli 1789, in dem diese Blindheit eines ganzen Herrschaftssystems zum Ausdruck kommt. Stefan Zweig schreibt: „Die nächsten Tage sind in unvergänglicher Schrift in die Weltgeschichte eingemeißelt; freilich, in einem einzigen Buch darf man sie nicht nachzulesen versuchen, nämlich in dem handschriftlichen Tagebuch des unselig ahnungslosen Königs. Dort steht am 11. Juli nur: `Nichts. Abreise des Herrn Necker´, und am 14. Juli, dem Tag des Bastille-Sturms, der seine Macht endgültig zertrümmert, abermals dasselbe tragische Wort `Rien´ (Nichts) – das heißt: keine Jagd an diesem Tage, kein erlegter Hirsch, also kein bedeutendes Ereignis.

Doch im Grunde noch wichtiger sind jene Buch-Kapitel über die Vorgeschichte dieser Zuspitzung. Über die Entzauberung eines alten Königshauses und seiner höfischen Gesellschaft, die noch kurz zuvor unantastbar und „alternativlos“ das Wesen Frankreichs verkörperten. Zweig markiert sehr präzise die Stellen, an denen dies Ancien Regime seine Bewährungsproben verfehlte und seine Rolle nicht mehr wahrnahm. Wie es zugleich leichtsinnig Ressourcen vergeudete, und, selbstgefällig, die Zeichen des Zorns im Lande ignorierte.

Der Bluff der „Aufbrüche“

Stefan Zweigs „Marie Antoinette“ – er schrieb das Buch 1932 – kann für den heutigen Leser ein doppelter Gewinn sein. Es kann uns, und schon das ist wertvoll, hineinversetzen in die damaligen Ereignisse; und zugleich kann es auch den Blick für unsere heutige Situation schärfen. Bei dem Lesen ist man an etlichen Textstellen geneigt, ein „Genau wie heute“ zu murmeln. Allerdings kann das historische Vergleichen auch leicht fehlgehen. Angela Merkel als Marie Antoinette – das trifft es nicht. Ein Vergleich bietet sich in einem allgemeineren Sinn an: Ein regierendes Milieu, das sich für die Mitte der Welt hält, isoliert sich und nimmt nicht wahr, dass die Kraftlinien der Geschichte woanders verlaufen.

Doch was sind die Kraftlinien, die heute von den Mächtigen ignoriert werden? Hier müssen wir uns vor einer platten Übertragung des Revolutionsschemas von 1789 hüten. Es geht im Jahre 2017 nicht darum, sich einer ganz neuen Ära mit völlig neuartigen politischen, wirtschaftlichen, kulturell-technischen Kräften und sozialen Schichten zu öffnen. Das versucht man uns ja gegenwärtig dauernd zu suggerieren. Das gibt dem herrschenden Diskurs in Politik und Medien diesen penetrant animierenden und erziehenden Sound. Was war der Oberbegriff für Jamaika? Eine Koalition des „Aufbruchs“ sollte es sein. Genau in dieser Manie, den Leuten immer wieder „etwas ganz Neues“ vor die Nase zu hängen, schrieb Thomas Schmid am Tage nach der Jamaika-Pleite in der Tageszeitung „Die Welt“: „Jamaika wäre aber nicht nur atmosphärisch, nicht nur des guten Klimas wegen ein schöner Fortschritt gewesen. Sondern auch in der viel beschworenen Sache. Es gibt ein paar Themen, bei denen Deutschland ein Sprung nach vorne guttäte. Das Land, das so prosperiert, hat das Zeug und die Aufgabe, einmal wieder Großes in die Hand zu nehmen.“ Und dann kommen die schon bekannten Sprechblasen des vermeintlichen Aufbruchs: „Digitalisierung“, „Verkehr“, „Infrastruktur“, „europäische Einigung“ und „Migrationsdruck“. Das ist der Bluff. Der „Sprung nach vorn“ sitzt gemütlich auf seinen hohlen Phrasen. Der Fortschritt ist eine Buchhalter-Liste geworden. Den Bürger vor „Herausforderungen“ zu stellen, ist die Verwaltungs-Ideologie unserer Tage. Man bemerke den Platzwechsel: In der heutigen Zeit besteht das höfische Zeremoniell nicht darin, das Alte zu beschwören, sondern das ständige „Modernisieren“.

Die wirkliche politische Aufgabe: Konsolidierung

Doch was ist die geschichtliche Alternative? Unter welchem Oberbegriff müsste sich eine Koalition formieren, die der realen Lage Deutschlands gerecht würde? Dieser Oberbegriff müsste meines Erachtens die „Konsolidierung“ sein. Unter diesem Oberbegriff lassen sich die meisten praktischen und dringlichen Aufgaben fassen: Sanierung der Staatsfinanzen durch Abbau der Überschuldung; Sicherung des Industriestandorts Deutschland; Befestigung der Grenzen gegen den zunehmenden Druck willkürlicher Massenmigration; Wiederherstellung des deutschen Energiemixes; Sicherung eines ordnungsmäßen Schulbetriebs mit festem Bildungskanon, leistungsgerechten Noten und Schulstufen; Einrichtung eines wirksamen Schutzes des öffentlichen Raumes gegen Gewalt; Wahrung der Errungenschaften unseres Grundgesetzes wie zum Beispiel der Trennung von Kirche und Staat. Konsolidierung ist auch vielfach im Nahraum der Arbeitswelt und des Privatlebens gefragt – wie viele Menschen im Lande sind jeden Morgen vor allem mit der Sorge beschäftigt, dass ihre Mannschaft halbwegs vollständig und pünktlich überhaupt an Deck ist!

Aber ist Konsolidierung nicht langweilig? Wäre eine solche politische Agenda nicht eine Agenda ohne Ehrgeiz? Ganz im Gegenteil. Denn an diesen Stellen laufen heute die wirklich harten Auseinandersetzungen. Die Beschwörung einer „ganz anderen“ Zukunft ist billig. Wir sind in einer historischen Situation, wo die am härtesten umkämpfte Front dort verläuft, wo es darum geht, das Niveau zu halten und unsere Errungenschaften zu wahren. Diese Aufgabe der Selbstbehauptung gilt auch für die Außenbeziehungen unseres Landes – in einer zunehmend pluralistischen Welt, in der sich die Macht auf mehr Akteure verteilt hat, geht es nicht darum, unter neuen Vorzeichen noch einmal mit der alten Führungsrolle Europas zu liebäugeln. Es geht darum, unseren Platz in einem unwiderruflich vergrößerten Kreis entwickelter Länder zu behaupten. Die Idee von einer neuen „Führungsrolle in der Welt“, die ja in der Globalisierungs-Idee immer mitschwingt, ist eine Idee von gestern. Sie ist das Ancien Regime unserer Tage. Europa hat nun definitiv mit einer Welt zu tun, die viel größer ist als es selbst. Da ist sie, die „mächtig anströmende Zeit“ (Stefan Zweig) unserer Tage.

Wir müssen lernen, dem trügerischen Versprechen immer neuer Aufbrüche zu widerstehen. Es lenkt von der Abbruchbewegung ab, die das wirkliche Problem unserer Zeit ist. Von der großen Destruktionsbewegung, die durch die „frühen“ Nationen der Moderne geht. Ja, es gibt eine Relativierung der früheren Vormachtstellung dieser Nationen. Aber die postmoderne und postindustrielle Verabschiedungs-Mentalität, die daraus im Westen entstanden ist, ist eine ganze falsche (und unnötige) Antwort auf diesen Verlust. Wir müssen lernen, dass die Konsolidierung der „frühen Nationen“ der Moderne mit ihren vielfältigen inneren Kräften unsere Hauptaufgabe in diesem Jahrhundert ist. Und dass sie eine lösbare und ehrenvolle Aufgabe ist. Es ist bedauerlich, dass diese Konsolidierungs-Agenda in der Politik der Regierung May in Großbritannien und der Regierung Trump in den USA noch so wenig erkennbar ist.

„Stabile Regierung“? Stabilität des Landes!

Aber in Deutschland ist man noch nicht einmal annähernd bei der Konsolidierungs-Aufgabe angekommen. Nach der „Jamaika“-Pleite wurde in Windeseile landauf, landab erklärt, nun sei die Bildung einer „stabilen Regierung“ das Gebot der Stunde. Niemand dürfe sich diesem Gebot entziehen. Kein neues „Nein“ wäre hier zu dulden. Mitmachen wäre nun die erste Bürger- und Parteienpflicht. Damit hatte man das Problem auf die Frage verkürzt, welche Konstellation von Politikern und Parteien die richtige sei. Eine Minderheitsregierung, eine Große Koalition, eine zweiter Jamaika-Versuch oder vielleicht Neuwahlen? Im Handumdrehen hatten die Experten für Regierungsbildung das Feld besetzt. Von der Stabilität des Landes war nicht mehr die Rede. Um die Was-Frage zu vermeiden, warf man sich begeistert auf die Wer-Frage. Als ob es irgendeine geheime Logik gäbe, nach der eine bestimmte Mehrheits-Minderheits-Komposition der Regierung automatisch die Stabilisierung des Landes im Gepäck hätte. Wir haben ja gerade eine sehr stabile Große Koalition erlebt, die zu einer beispiellosen Destabilisierung Deutschlands geführt hat.

Solange nicht geklärt ist, was denn das regierende Paradigma des politischen Handelns in der gegenwärtigen Situation sein muss, ist es völlig egal, ob wir Minderheitsregierung, Neuwahl oder die nächste Groko bekommen. Umgekehrt wären dann, wenn die Gesamtaufgabe „Konsolidierung“ sich durchsetzen würde, viele Regierungs-Konstellationen denkbar. Denn es wäre ja kein parteipolitisches Thema, auf das nur eine Partei ein Monopol beanspruchen könnte. Die Konsolidierung des Landes wäre eine neue Gesamtorientierung der Politik und könnte einen neuen Wettbewerb unter den Parteien um die beste Lösung anstoßen.

Aber solange die Frage der Gesamtorientierung nicht geklärt ist, bleibt das Parteiensystem im Ancien Regime des Merkelismus gefangen. Und die Kräfte des Landes werden in Merkels letztem Aufgebot noch weiter verheizt werden.

(erschienen bei „Die Achse des Guten“ am 5.12.2017)