21.01.2016
Die deutsche Migrationspolitik bewegt sich seit dem vergangenen Sommer außerhalb jeder rechtsstaatlichen Form
(Der Migrationsmythos, Teil X)
Merkels Protektorat
Es ist schon ein paar Monate her, da zitierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung (29.10.2015) den Bundesfinanzminister Schäuble mit folgender Äußerung: „Vielleicht ist es auch wahr, dass es nicht genügend gelungen ist, überall in der Welt kommunikativ hinreichend klarzumachen, dass wir nicht eine Dauerentscheidung, sondern eine Ausnahmeentscheidung gemacht haben.“ Nein, liebe Leser, ich will hier nicht Herrn Schäuble als möglichen Kandidaten einer Wende in der Migrationspolitik ins Spiel bringen. Um etwas ganz anderes geht es. Schäubles Satz machte schlagartig deutlich, dass hier eine Entscheidung völlig außerhalb von Recht und Gesetz getroffen wurde. Die Öffnung der deutschen Grenzen geschah durch die Kanzlerin (nach einem nächtlichen Telefonat mit dem österreichischen Bundeskanzler, so Merkel auf dem CDU-Parteitag). Bis heute ist nicht klar, ob es eine schriftliche Anordnung gibt. Ob es einen formellen Kabinettsbeschluss gibt. Auf jeden Fall gibt es keine Vorlage, die dem Bundestag zur Abstimmung vorgelegt worden wäre. Schon gar nicht gibt es eine Gesetzesvorlage. Spätestens hier hätte man ja festlegen müssen, für welche Dauer die „Maßnahme“ gilt. Und für welchen Personenkreis sie eigentlich gilt. Für alle Personen, die auf der Balkanroute unterwegs sind? Für alle Personen, die „aus Syrien“ kommen? Man fragt sich ja, auf welchem Weg die nordafrikanischen Gewalttäter nach Köln gelangt sind und auf welcher Grundlage sie in Deutschland aufgenommen wurden. Es ist also nicht so, dass Merkel nur ungenügend „kommuniziert“ hat, dass sie eine Ausnahmeentscheidung getroffen hat. Es liegt gar keine Ausnahmeentscheidung vor, sondern eine Generalanweisung ohne jegliche eingrenzende Festlegung. Zu dieser Generalanweisung hat Merkel sich selbst ermächtigt. In der Folgezeit hat sie zwei weitere generalisierende Erklärungen abgegeben: 1. Die deutsche Bundesgrenze ist gegenüber der illegalen Massenmigration nicht zu halten (Merkel per Fernsehinterview). 2. Die Öffnung der Bundesgrenze geschieht auf Grundlage eines „humanitären Imperativs“ (Merkel per CDU-Parteitag).
Die deutsche Migrationspolitik bewegt sich seit dem vergangenen Sommer außerhalb jeder rechtsstaatlichen Form. Sie ignoriert nicht nur die (mit dem Schengen-Abkommen verbundenen) „Dublin III“-Vereinbarungen, sondern steht auch in Widerspruch zu Geist und Buchstaben der Genfer Flüchtlingskonvention und zur verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Die Politik der Bundeskanzlerin führt zu einer politischen Parallelstruktur in Europa und in Deutschland – neben den regulären, durch Verfassungsrecht gebildeten und gebundenen staatlichen Strukturen. Sie ist eine Form der Protektoratspolitik, eine Politik ohne regulären Staat.
Der Balkankorridor
Das ist inzwischen zu einer physischen Realität geworden. Die Berichte, die uns von den Migrationsbewegungen auf sogenannten Balkanroute erreichen, zeichnen nicht das Bild eines chaotischen Rette-sich-wer-kann, sondern deuten auf ein regelrechtes Begleit- und Übergabesystem hin, das auf der Meerpassage zwischen der Türkei und Griechenland beginnt und bis zur deutschen Grenze führt. Wer angibt, dass sein Zielland Deutschland ist, wird (mehr oder weniger zuverlässig) transportiert, verpflegt und von Polizeikräften begleitet. Internationale Organisationen sind unterstützend tätig. Dabei handelt es sich nicht nur um eine einmalige Aktion für einen einzelnen Flüchtlingstreck, auch nicht um den Aufbau eines Auffanglagers im Südosten Europas, sondern um ein ständiges System der Migrationsunterstützung, um einen Korridor. Die generelle Aufnahmezusage der Bundeskanzlerin im September, die nach wie gilt, hat hier eine eigene Realität geschaffen. Inzwischen wird dieser Korridor auch von Migranten aus Mittelasien und verschiedenen Teilen Afrikas benutzt. Die gut funktionierende Grenzsicherung zwischen Marokko und Spanien wurde ausgehebelt.
Nun gibt es die Behauptung, diese Verhältnisse seien gar nicht auf eine Sondermaßnahme der deutschen Kanzlerin zurückzuführen, sondern durch das internationale Flüchtlingsrecht und das deutsche Asylrecht gedeckt. Der Korridor sei im Grunde sogar rechtlich geboten. An dieser Stelle sollte man sich nicht bluffen lasse, sondern einmal genau hinschauen. Ein Artikel in der FAZ vom 5.1.2016 über die neuen Grenzsicherungen von Schweden und Dänemark enthält einen Kasten zur Lage in Deutschland. Unter der Überschrift „Warum Flüchtlinge ohne Dokumente nicht abgewiesen werden“ gibt es vier Aussagen: 1. Wer als Ausländer ohne Pass nach Deutschland einreist, begeht nach § 95 des Aufenthaltsgesetzes eine Straftat; 2. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist das Strafverfahren auszusetzen, wenn nur durch eine Einreise in das Zielland ein Asylantrag gestellt werden kann; 3. Dies gilt das aber nur, wenn die Migranten „unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit“ bedroht werden (Artikel 31 der Genfer Flüchtlingskonvention); 4. Dennoch dürfen die an der Grenze ankommenden Personen nicht abgewiesen werden, weil sie gegen die Entscheidung der Behörden, dass sie nicht unmittelbar aus einer Bedrohung fliehen, vor einem deutschen Gericht Widerspruch einlegen dürfen. Der Autor der FAZ schreibt hier den Satz: „Daher werden Asylsuchende eingelassen, bis über ihren Antrag entschieden wurde.“ Und dann folgen noch zwei letzte Sätze, die den Leser nun ganz perplex zurücklassen: „Eigentlich hätte die deutsche Polizei nach § 18, Absatz 2 des Asylgesetzes die Möglichkeit, Asylsuchende an der Grenze abzuweisen, wenn sie aus einem sicheren Drittstaat kommen. Diese Regelung ist allerdings auf Anweisung des Bundesinnenministers derzeit ausgesetzt.“
Also gilt die Aussage Nr. 4 (man darf nicht abweisen, weil eine Klage vor einem deutschen Gericht möglich sein muss) doch nicht? Das legt auch der gesunde Menschenverstand nahe, der sich fragt, wie denn Schweden und Dänemark ihre Abweisungen an der Grenze hinkriegen. Offenbar hätte Deutschland diese Möglichkeit auch (und der Bundesinnenminister hat die entsprechende Regelung ausgesetzt und damit erst das Abweisungsproblem geschaffen). Die ganze Drittstaatenregelung wäre ja absurd, wenn jeder Staat erstmal alle Zuwanderungswilligen ins Land holen müsste, um mit ihnen die gerichtliche Überprüfung zu absolvieren. Der FAZ-Autor führt den Leser aber auch durch seine Formulierung „daher werden Asylsuchende eingelassen“ in die Irre, denn die meisten Leser haben bei „einlassen“ den Weitertransport ins Landesinnere Deutschlands vor Augen. Das wäre gar nicht zwingend notwendig. Es gibt die Möglichkeit, die gerichtliche Klärung in geschlossenen Transitzonen an der Grenze stattfinden zu lassen.
Der Missbrauch des Rechtsbegriffs „Flüchtling“
Aber warum werden die Migranten überhaupt bis nach Deutschland geführt? Es wird der Eindruck erweckt, sie seien solange auf einer „Flucht“, bis sie Deutschland angekommen sind. Dieser Eindruck ist eine Täuschung. Die oben zitierte Passage aus Artikel 31 der Genfer Flüchtlingskonvention besagt, dass das Zielland, in dem ein Asylantrag gestellt wird, vom Flüchtling nicht frei unter allen Ländern dieser Erde ausgesucht werden kann. Das Land seiner Zuflucht muss im unmittelbaren Umfeld seiner Bedrohung liegen. Es muss das erste sichere Land in der Nahbarschaft sein. Und bei dieser Festlegung geht es nicht darum, die Verantwortung für Krisen auf wenige Staaten abzuschieben. Dass sich entfernte Staaten bereit erklären, begrenzte Kontingente von Asylsuchende aufzunehmen (und die UNCHR hier Sorge tragen muss, dass die Bedürftigsten in die Kontingente kommen), ist ja unbenommen. Ebenso gehört es zur Pflicht der Staatengemeinschaft, die Nachbarstaaten von Krisengebieten zu unterstützen. Der Sinn der Regelung „das erste sichere Nachbarland“ besteht darin, das Recht auf Heimkehr der Flüchtlinge zu wahren. Und sie als Kraft für die Krisenbewältigung ihrer Länder zu erhalten. Alles andere wäre eine weltweite Exodus-Förderung und stände in krassem Gegensatz zu Geist und Buchstaben des Völkerrechts.
Deshalb ist die rechtliche Unterscheidung von Flüchtling und Migrant keine Spitzfindigkeit und auch kein Zeichen von Kaltherzigkeit. Wenn ein Flüchtling aus eigener Entscheidung das Nachbarland, in dem er als Flüchtling Aufnahme gefunden hat, verlässt und weiterwandert, verändert er seinen Status. Er positioniert sich anders. Er streift seine Rolle als Flüchtling gewissermaßen ab und wird zum Migranten. Er kann dann nicht mehr unter dem besonderen Schutz der Flüchtlingskonvention stehen. Gewiss steht er, wenn er vor seinem Weiterwandern eine Zusage seines Ziellandes (Visum) bekommt, unter einem neuen Schutz. Hat er aber diese Zusage nicht, ist er ein illegaler Migrant auf eigene Faust.
Die Migrationswelle, die sich seit mehr als einem Jahr auf Europa richtet, bewegt sich in der Grauzone zwischen Flüchtling und Einwanderer. Die 100000de, die den Balkankorridor nutzen, sind in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit Migranten auf eigene Faust. Der einzige Schutz, auf den sie sich berufen, ist die Schutzzusage der deutschen Kanzlerin. In diesem Sinn ist es keine Übertreibung, den Balkankorridor als Merkels Protektorat zu bezeichnen.
Und es gibt noch eine weitere Dimension dieser Grauzone, die erst allmählich – in dem Maße, wie nun der Ruf nach „Integration“ anschwillt – deutlich wird. Denn der Korridor ist an der deutschen Grenze nicht zu Ende, er setzt sich innerhalb von Deutschland fort. Die Migranten werden ins Land weitergeleitet und verteilen sich in immer feineren Verästelungen auf die Länder und dann auf die Kommunen. Die Logik der ungeklärten Migrationsansprüche lässt den Korridor zu einer territorialen Parallelstruktur werden, die die ganze Landkarte durchdringt. Denn schon werden Rufe laut, dass die „Integration“ nicht gelingen kann, wenn man größere Lager bildet, und man deshalb die Migranten feinkörnig in das Siedlungssystem einstreuen müsse – bis in jedes einzelne Wohnhaus, jeden Betrieb, jede Schule etc., etc. Erst hier wird Merkels Protektorat wirklich komplett. Es bekommt seine wahre Dimension und Dauer als Parallelstruktur.
Gerade in diesen Tagen überbieten sich die politischen Parteien mit „Integrationsprogrammen“, die im Grunde komplette Verdoppelungen der Normalaufgaben des Staates sind. Wohnungsbau, Bildungswesen, Arbeitsmarkt, Verwaltung, Polizei, Justiz – überall sollen gewaltige Investitionen getätigt werden. Das Personal soll erheblich aufgestockt werden. Die gesetzlichen Sozial- und Krankenversicherungen werden geöffnet. Alles Geld, das durch die schmerzhaften Einschnitte der vergangenen Jahre gewonnen wurde, wird nun in kürzester Zeit wieder verloren. Die Bürger bekommen das ganz direkt dadurch zu spüren, dass bei Sozialwohnungen, zusätzlichen Schulklassen, bei der Arbeitsvermittlung, beim Service in Bürgerämtern, bei Gerichtsverfahren nun „die Flüchtlinge“ vordringlich sind. Flüchtlinge, die in ihrer Mehrzahl noch nicht einmal eine Anerkennung als Asylant haben (und auch dann nur Aufenthaltsrechte für ein paar Jahre), werden behandelt, als wären sie Einwanderer – ohne dass der deutsche Souverän je eine Wahl bei der Zahl oder bei den Eigenschaften ins Land Gekommenen gehabt hätte.
„Integrationskultur“ ist die Steigerungsform von „Willkommenskultur“. Und eine perfekte Problem-Verschiebungs-Formel: Wo es in Deutschland inzwischen Ernüchterung und auch Erschrecken über diejenigen gibt, die auf illegalen Wegen ins Land hineingedrängt sind, heißt es nun: Es liegt an ungenügenden Integrationsanstrengungen in Deutschland. Ihr müsst noch mehr tun! Das Protektorat ist noch gar richtig aufgebaut!
Die Kontinuität der Bundesrepublik verteidigen
Erst allmählich wird die deutsche Öffentlichkeit gewahr, welche Auseinandersetzung gegenwärtig stattfindet. Erst allmählich wird der ganze Umfang der Rechtsgüter erkennbar, die im Gefolge von Merkels Grenzöffnung beschädigt werden. Wir beginnen gerade erst zu begreifen, dass hier ein in der Geschichte der Bundesrepublik beispielloser Einschnitt geschieht. Es geht inzwischen um die „verfassungsmäßige Ordnung“ und um die „Staatlichkeit als tragende Verfassungsvoraussetzung“, wie es der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio in seinem Gutachten für eine eventuelle Verfassungsklage der Bayrischen Landesregierung schreibt. Ausdrücklich sagt das Gutachten, dass die Berufung auf die Achtung und den Schutz der Menschenwürde „keine Ermächtigung zur Durchbrechung der verfassungsmäßigen Ordnung“ sei (vgl. FAZ v. 18.1.2016). Diese Stellungnahme und andere Stellungnahmen von Staatsrechtlern zeigen, dass die Auseinandersetzung um die Migrationspolitik eine neue Qualität gewinnt. Es wird immer klarer, dass die Massenmigration den Kernbestand unserer Staatlichkeit berührt. Die Bundesrepublik Deutschland läuft Gefahr, in eine diffuse globale Struktur, in der alles verhandelbar ist und auch Europa nicht mehr als eine „Clearingstelle Brüssel“ ist, aufgelöst zu werden.
Mancher wundert sich, mit welch ungerührter Kälte die Kanzlerin jede Korrektur ihrer Grenzöffnungs-Entscheidung zurückweist. Aber dies Vorgehen hat seine Logik, wenn man es als Teil eines Auflösungswerks versteht, das auf die Schwächung der politischen und geistigen Bindungen der Deutschen an ihre Republik hinausläuft. Diese Bindungen passen nicht ins Weltbild des Merkelismus, das sich eher an der Grenzenlosigkeit einer digitalisierten Weltvernetzung orientiert. Hingegen passt die gegenwärtige Migrationswelle sehr gut in dies Weltbild. Der Druck dieser Welle ist für die Auflösung unserer staatlichen Verfassung nützlich und willkommen. Damit er wirken kann, ist ein stärkeres Eingreifen nicht nötig, man kann ihn einfach wirken lassen. Hier erklärt sich Merkels ungerührtes Weiter-So. Ihr Protektorat ist wie ein weiter Deckmantel, so wie es der Satz „Wir schaffen das“ auch ist. Unter diesem Mantel kann auch eine mittelmäßige Persönlichkeit manchmal wie eine große Herrscherin wirken. Und scheinbar unantastbar weiterregieren.
Und doch verschieben sich nun die Kräfte. Es gibt nicht nur mehr Bürger, die nun skeptisch werden, sondern die Merkelsche Migrationspolitik ist auf einen Konfliktkurs mit der rechtsstaatlichen Ordnung Deutschlands geraten. Verschiedene Stellungnahmen zeigen eine zunehmende Skepsis staatlicher Führungskräfte gegenüber der Entwicklung. Das bedeutet für die Opposition im Lande, dass sie die Sache des Rechtsstaats zu ihrer Sache machen kann. Dass sie um die Autorität des Parlaments kämpfen kann. Dass sie, wenn andere versuchen, das wachsende Chaos im Alltag den Behörden und der Polizei anzukreiden, diesen Verständnis und Zusammenarbeit anbieten kann. Für die Opposition bedeutet das aber auch, dass sie nicht zu klein denken darf. Die Tonlage des Volksaufstands verfehlt das neu eröffnete Kampffeld. Es geht um die Verteidigung unserer Bundesrepublik. Nur in ihrer Kontinuität kann die beschädigte Rechtsordnung und der Landfriede wieder hergestellt werden. Also wohlan, wenn sich der Merkelismus von Recht und Republik verabschiedet, sollte man diese Positionen besetzen.
(Erschienen auf der Onlineplattform „Die Achse des Guten“ am 22.1.2016, in einer veränderten Version auch in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick“)