„Europa ist die Lösung“ ist der Tenor einer allzu selbstgewissen politischen Rhetorik beim Gedenken an den Ausbruch des 1. Weltkriegs vor hundert Jahren. Die Möglichkeit verantwortlich handelnder Nationalstaaten wird gar nicht mehr ernsthaft erwogen

Nachdenken über 1914

Gerd Held

Die These, dass „Europa“ die beste Sicherung gegen eine Wiederholung von „1914“ sei, ist in diesem Sommer, zum Jahrhundert-Gedenken an den Ausbruch des 1. Weltkriegs, vielfach wiederholt worden. „Europa“ soll heißen: die Europäische Union. Sie soll mit neuer Erhabenheit das Gemälde einer hoffnungslos kriegerischen Vergangenheit überstrahlen. So wird versucht, das Gedenken an die „Urkatastrophe“ des 20.Jahrhunderts (George F. Kennan) zur Legitimation einer stetig wachsenden europäischen Politikverflechtung zu instrumentalisieren. Auf der gemeinsamen deutsch-französischen Gedenkveranstaltung im elsässischen Wattweiler am 3. August erklärte der Bundespräsident (vgl. FAZ v. 4.8.2014): „Das blutige zwanzigste Jahrhundert soll uns nicht vergeblich mahnen, entwickeln wir eine Kultur des Vertrauens in ganz Europa.“ Zugleich wird er mit der Aussage zitiert, Europa sei die „Institution gewordene Lehre aus der Geschichte“. Joachim Gauck hielt es für angebracht, auf der Gedenkveranstaltung ausdrücklich auf „populistische antieuropäische Strömungen“ hinzuweisen und damit zu unterstellen, dass die EU-Kritik des Jahres 2014 eine Affinität zur Kriegstreiberei von 1914 habe. Das ist eine recht vordergründige Indienstnahme eines erschütternden historischen Ereignisses.

In ihrem Gehalt ist die Lektion, die hier erteilt werden soll, ziemlich vage und zweideutig. Denn der Bundespräsident navigiert zwischen den Begriffen „Kultur“ und „Institution“. Auf der einen Seite fordert er eine „Kultur des Vertrauens“ und bezieht sich damit auf Haltungen, Mentalitäten, Einstellungen. Auf der anderen Seite spricht er davon, dass die Lehren von 1914 zu Institutionen geworden seien, und bezieht sich damit auf Verträge, Normen, Organe und Behörden der Europäischen Union. Damit bewegt er sich nicht nur in zwei ganz unterschiedlichen Dimensionen von „Europa“, sondern auch in zwei Deutungsrichtungen des 1.Weltkriegs.

Kulturfrage oder institutionelle Frage?

Wenn man 1914 als Folge kultureller Fehlentwicklungen deutet, denkt man an einen allgemeinen Hang zu Egoismus, Misstrauen, Neid, Selbstüberschätzung, Leichtsinn, Taumel, usw.. Gegenüber einem solchen Hang ist man geneigt, auf die Soft Power kultureller Orientierungen zu setzen und so Kulturtatsachen durch Kulturtatsachen zu bearbeiten. Wenn Gauck von einer „Kultur des Vertrauens“ spricht, engt er diese soft power allerdings ein. Er reduziert sie auf die Äußerlichkeit kultureller Sozialbeziehungen (das Miteinander-Reden, also Kommunikation) und folgt dabei einer häufig zu findenden Unart, wenn das Kulturelle von der Politik beschworen wird. Substantielle Kulturtatsachen, die ein Gegengewicht gegen Hybris oder kleinliche Vorteilssuche bilden könnten, werden gar nicht benannt. Welche Kulturerrungenschaften der Gegenwart sind denn stark genug, um mit ihnen Konflikte einhegen zu können und kriegerische Eskalationen vermeiden zu können? Wo bilden sie einen so festen Orientierungspunkt oder eine so große Erzählung, dass sie konfliktträchtige Themen und Interessen relativieren können? Ein Verweis auf das kulturelle Erbe Europas ist hier wenig hilfreich, denn es war ja schon 1914 präsent und bot offenbar in entscheidenden Momenten kein wirksames Gegengewicht.

Ein paar Sätze weiter wechselt Gauck das Register und spricht nun von Institutionen. Die Lehren von 1914 seien zu gemeinsamen europäischen Institutionen geworden, die damit Sicherheit gegen Verirrung und Verführung böten. „Gemeinsam“ wird hier offenbar als „übergreifend“ verstanden: Denn die Sicherheit gegen kriegerische Konflikte, die mit Institutionen in Aussicht gestellt wird, erfordert eine irgendwie zwingende Macht, die die möglichen Kriegsparteien übergreift und ihre Souveränität einschränkt. Diese übergreifende Macht sieht der Bundespräsident offenbar in den Gemeinschaftsinstitutionen der EU. Dann allerdings ergibt sich die Frage, wie real die Kraft dieser Institutionen ist und inwiefern sie Spannungen, wie sie 1914 vorlagen, überhaupt bearbeiten oder gar beherrschen können. Ist hier von den bestehenden Regelungskompetenzen der EU die Rede? Doch inwiefern verhindern Montan-Kartelle, Agrarsubventionen, regionale Förderfonds und Ökodesign-Richtlinien Kriege? Oder setzt man auf die befriedende Kraft der Wohlstandsgewinne durch den gemeinsamen Markt? Oder doch wieder auf die Tatsache, dass „die Politiker in Europa heute viel mehr miteinander reden“ (die Bundeskanzlerin), also auf soziokulturelle Bindungswirkungen?

So volltönend der politische Gedenkdiskurs „Kultur“ und „Institution“ beschwört, so schwach erweisen sich die kulturellen und institutionellen Realitäten des heutigen „vereinten“ Europa – jedenfalls dann, wenn man sie sich einmal gedanklich in die großen sozialen und nationalen Verschiebungen und Konflikten vor hundert Jahren versetzt. Vieles von dem, was heute als Lektion und Lösung gepriesen wird, gab es durchaus schon 1914, zum Beispiel internationale Verträge, Vereinigungen und Regelungen. Ebenso gab es vielfältige kulturelle Transfers in Europa und ein vielfaches Miteinander-Reden europäischer Politiker, das sich dann als erschreckend machtlos erwies.

Soll man wirklich einen europäischen Souverän wollen?

Aber vielleicht zielt die Rede des deutschen Bundespräsidenten darauf, die Institutionen der EU umzubauen und für sie eine übergeordnete Stellung zu beanspruchen, die dann gegen kriegerische Tendenzen echte Unterdrückungsmaßnahmen treffen könnte. Will Gauck also einen europäischen Souverän? Wenn dem so ist, sollten die Implikationen nicht verschwiegen werden, die mit der Aufrichtung eines solchen Souveräns verbunden sind. Es geht um eine mehrfach in Europa gemachte Erfahrung: Bei der Bildung der Nationalstaaten wurden Souveräne errichtet. Realpolitisch war das ein gewaltsamer, opferreicher, langdauernder Prozess, bei dem ein bestehendes regionales „Schwergewicht“ sich schließlich zum unbestrittenen Machtzentrum gegen konkurrierende regionale Mächte durchsetzte. Man könnte hier, in Anlehnung an den englischen Staatsphilosophen Hobbes vom „Leviathan-Prozess“ sprechen. Auf diesem Wege wurden tatsächlich jahrhundertelange Kriege beendet und begrenzte, säkular-nationale Territorialstaaten gebildet. Wenn also hinter dem Versuch, das Datum „1914“ für eine neue Qualität europäischer Einigung zu nutzen, die Sehnsucht nach einem europäischen Souverän steht, dann müsste die Frage nach dem führenden Zentrum gestellt werden. Also die Frage nach einer Führungsmacht im europäischen Maßstab, vergleichbar mit der Rolle Kastiliens in Spanien, der Ile-de-France in Frankreich, Englands in Großbritannien oder Preußens in Deutschland. Soll man das ernsthaft für Europa wollen? Oder ist der Nationalstaat der äußerste, immer wieder zu überprüfende und notfalls zu verkleinernde Rahmen, in dem eine übergreifende Macht erträglich und legitimierbar wäre? Dann wäre die Friedenssicherung doch eine Sache der Außenpolitik und die Lehren von 1914 müssten institutionell von einem Pluralismus souveräner Staaten ausgehen.

Die heutigen Anhänger „starker europäischer Institutionen“ möchten meistens weder eine einheitliche Souveränität noch eine pluralistische Mehrzahl von Souveränitäten. Sie stellen eine übergreifende Macht in Aussicht, die immer wieder neu aus Verständigungsprozessen am runden Tisch hervorgeht. Dann geraten sie freilich in einen logischen Zwiespalt: Sie wollen eine Macht, die übergreifend (d.h. auch ohne Zustimmung aller Seiten) Konflikte einhegen kann, aber sie wollen die Höhe dieser Zentralmacht mit einem ständigen egalitären Miteinander (also mit ständiger Zustimmungsabhängigkeit) bauen. Das Vertikale soll aus horizontalen Elementen bestehen – so etwas kann man sich ad-hoc in einzelnen Situationen vorstellen, aber eine solche situative Lösung kann nicht die Stetigkeit und Festigkeit beanspruchen, die mit dem Begriff „Institution“ verbunden ist. Diese Lösung ist also im Grunde anti-institutionell. Zudem müssen die Anhänger einer zugleich egalitären und übergreifenden Europäischen Union auch kontrafaktisch gegen die Erfahrungen von 1914 argumentieren: Damals wurde die vorhandene Autorität, die das Miteinander der Staatenlenker in den vorherigen Jahrzehnten aufgebaut hatte, von der Stärke der neuen Verwerfungen in wenigen Wochen und Tagen zerrissen.

Deutschland als kontinentaleuropäischer Hegemon?

Man hat nicht den Eindruck, dass dem Bundespräsidenten – und anderen Fürsprechern eines „starken, demokratischen Europa“ – die Entscheidungszwänge einer Neuordnung Europas, die wirklich institutionell ist (und nicht nur „Fahren auf Sicht“), klar sind. In jüngster Zeit sind in manchen Kommentaren erstaunliche Wendungen aufgetaucht, ohne dass man den Autoren gleich üble Absichten unterstellen müsste. Reinhard Müller unterläuft in einem Kommentar zur deutsch-französischen Gedenkveranstaltung (auf der Titelseite der FAZ vom 4.8.) n einem Nebensatz die Aussage, dass Deutschland „nach der totalen Niederlage 1945 wieder zur zentralen Macht Europas aufstieg“. Demnach wäre Deutschland heute die zentrale Macht Europas. Gewiss ist es wahr, dass Deutschland ein besonderes Gewicht im Vergleich aller Mitgliedsländer der EU hat, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht. Aber man darf eben nicht den Sachverhalt „besonderes Gewicht“ mit dem Sachverhalt „die zentrale Macht“ verwechseln.

Angesichts solcher Zweideutigkeiten ist es durchaus vernünftig, einen Moment lang die Option „Errichtung eines europäischen Leviathan“ ins Auge zu fassen und sie einmal realhistorisch zu prüfen. Der britische Historiker Niall Ferguson hat in seinem Buch „The Pity of War“ (die deutsche Ausgabe trägt den Titel „Der falsche Krieg“) die These vertreten, dass Großbritannien 1914 die Wahl hatte, ob es Deutschland kriegerisch schwächen oder ob es Deutschlands „Übermacht auf dem Kontinent akzeptieren“ sollte (vgl. Interview in der FAZ vom 4.8.14). Ferguson vertritt die Ansicht, dass Großbritannien mit einer solchen kleineuropäisch-kontinentalen Hegemonie Deutschlands hätte leben können. Er hat offenbar eine Teilhegemonie Deutschlands in Europa im Auge und sieht darin für 1914 die Chance, dass eine Alles-oder-Nichts-Steigerung der Konflikte hätte vermieden werden können. Eine solche kleineuropäisch-kontinentale Hegemonie Deutschlands mag manchem, der heute auf eine stärkere Führungsverantwortung Deutschlands in Europa dringt, sinnvoll erscheinen und man muss hier nicht gleich „Weltherrschaftspläne“ unterstellen. Dieser Bogenschlag von 1914 nach 2014 klingt bei Niall Ferguson an, für den die Einigung Europas unter deutscher Führung durch den ersten Weltkrieg „nur um 90 Jahre verzögert wurde“ und für den damit die englische Hegemonie durch eine deutsche abgelöst wird (so jedenfalls wird Ferguson in einem Interview von Andreas Kilb mit Herfried Münkler in der FAZ vom 24.1.2014 gedeutet).

Dennoch handelt es sich um einen Irrweg. Er verkennt den wachsenden Pluralismus in Europa, der zwar Staaten von unterschiedlichem Gewicht kennt und daher asymmetrisch („aus krummem Holze“) ist, aber mit fortschreitender Geschichte immer weniger hegemonisierbar ist. Deshalb sollte man strikt auf dem Unterschied zwischen einem „besonderen Gewicht“ Deutschlands in Europa und einer Leviathan-Position, die Deutschland in Europa von mancher Seite angedient wird, beharren. Dabei muss man gar nicht unterstellen, dass Deutschland von dieser Position einen bösen Gebrauch machen würde. Auch bei dem Versuch, von dieser Rolle einen guten, friedensstiftenden, fürsorglichen Gebrauch zu machen, würde Deutschland sich überheben. Europa ist zu weit in Richtung Pluralismus entwickelt, als dass hier irgendeine übergreifende Souveränität sinnvoll ist. Auch das „kontinentale Kleineuropa“ ist dafür schon viel zu komplex. Das gilt für 1914 und sogar schon für das (napoleonisch nicht beherrschbare) kontinentale Europa von 1814. Erst recht gilt es für 2014. Auch die Stimmen, die einen wie auch immer gearteten „Führungskern“ aus einem kleinen Staatenkreis bilden möchten, sind in den letzten Jahren leiser geworden. Ebenso die Vision eines deutsch-französischen „Motors“ von Europa. Das alles sind Indizien, dass Europa nicht auf dem Weg zur Ausbildung eines – wie auch immer gearteten – einheitsstiftenden Zentrums ist.

Die irrige Verquickung von Souveränitätsanspruch und Hegemonialanspruch

So kommen wir noch einmal auf den Ausgangspunkt der angeblich en „Lektion von 1914“ zurück. Er bestand in der Grundannahme, dass die Konsequenzen sich auf jeden Fall gegen den Nationalstaat richten müssten. Deshalb blickte man von vornherein nur in die Richtung von etwas ganz Neuem, etwas ganz anderem. Die Moderne (und damit auch Europa) sollte ganz neu erfunden werden. Die Ergebnisse solcher postnationalen Denkversuche sind ernüchternd, und dies zeigt sich gerade vor dem Hintergrund der schweren Krise von 1914. Sie sind entweder zu kleinkariert-egalitär oder zu hegemonial-hierarchisch – auf jeden Fall in ihren Ansprüchen widersprüchlich und erschreckend unausgegoren. Gemessen an dem hohen Stand der vorliegenden historischen Forschungsarbeiten – und hier hat das Jubiläumsjahr 2014 tatsächlich viel zu bieten – sind die Beiträge der Politik oberflächlich, monoton und von der Rhetorik des guten Willens geprägt.

Der tiefere Grund für die Unfruchtbarkeit der postnationalen 1914er-Debatte liegt darin, dass hier von vornherein nur ein polemisches Zerrbild des Nationalstaats im Spiel ist. Verkannt wird, dass diese Staatsform ein Werk der politischen Vernunft ist, die eine Mitte zwischen hierarchischen und egalitären Ansprüchen sucht und deshalb zu einem Gebilde kommt, dass die herkömmlichen Provinzen und homogenen Landsmannschaften überragt und zugleich seine äußeren Grenzen enger fasst als die vormodernen Reiche. Zu einem Gebilde, das strikt trennt zwischen Innenpolitik und Außenpolitik und dabei die Stärke der Geltungsansprüche, die sie nach innen oder nach außen erhebt, unterscheidet. Jede Souveränität braucht („will“) andere Souveränitäten. Das ist ein selten betonter, aber ganz wesentlicher Teil der modernen Gewaltenteilung. Nur durch diese Unterscheidung ist eine pluralistische internationale Staatenordnung denkbar. Dieser Unterscheidung ist offenbar ein praktisch-politischer und historisch langsamer Scheidungsprozess, in dem sich die entstehenden Nationalstaaten von zahlreichen Geltungsansprüchen und Überlegenheitsvorstellungen trennen müssen. Dabei ist die Grenze zwischen legitimer Einflussnahme und Wahrung eigener Interessen auf der einen Seite und hegemonialer Bevormundung und Verdrängung anderer Staaten nicht immer leicht zu bestimmen.

Von den vielen Informationen und Erkenntnissen, die die historische Forschung zur Weltlage vor 100 Jahren inzwischen erbracht hat, legt manches die Annahme nahe, dass damals die Entwicklung moderner Nationalstaaten – sowohl der älteren wie der jüngeren – noch keineswegs vollendet war und die Trennung zwischen legitimen und illegitimen Geltungsansprüchen sich in vieler Hinsicht noch nicht zu einer festen Staatsräson ausgebildet hatte. Das gilt nicht nur im Verhältnis zwischen England, Deutschland und Frankreich, sondern auch im Verhältnis zur östlichen und südlichen Peripherie Europas und in der Kolonialfrage, wo gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch ein neuer Schub von Hegemonialansprüchen stattfand. Dazu kommt, dass nicht nur eigene Ansprüche kriegstreibend wirkten, sondern auch die Erwartungen fremder Ansprüche, denen man dann präventiv zuvorkommen wollte. Diese schlechte Verquickung von Souveränitätsanspruch und Hegemonialanspruch, die 1914 zweifellos am Werk war, liegt aber nicht in der Natur des Nationalstaates. Sie ergibt sich nicht aus der Logik der Souveränität. Vielmehr zeugt sie von einer Unreife der Nationalstaatsbildung.

Dafür kann ein historischer Sachverhalt als Beleg gelten, der in der 1914-Debatte erstaunlich selten angesprochen wird: Bei der Vorstellung, die verschiedenen Nationalstaaten wären, gleichsam wie Eisenbahnzüge, in immer schnellerer Fahrt unaufhaltsam aufeinander zu gerast, wird übersehen, dass zwischen den europäischen Hauptmächten einige existenzielle Konflikte schon relativiert waren. Zwischen Frankreich, England und Deutschland waren Hegemonialansprüche, die 1814 noch im Raum standen, ein Jahrhundert später erheblich abgeschliffen. Hier war ein Verdrängungskrieg um Alles oder Nichts im Grunde historisch überholt. Was für die nationale Frage gilt, gilt auch für die soziale Frage. Die schlimmsten Auswüchse des Fabrikelends und der großstädtischen Verwahrlosung waren schon behoben, zumindest war längst ein reformerischer Weg zu ihrer Behebung sichtbar. Dieser Weg wurde auch von der Arbeiterbewegung aktiv mitgestaltet, z.B. von der deutschen Sozialdemokratie. Auch in der sozialen Frage waren die Staaten nicht unbedingt Getriebene, die die Flucht in ein Kriegsabenteuer brauchten. Die Nationalstaaten waren also zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon auf einem guten Weg, die Gefahrenpotentiale, die im Pluralismus souveräner Gebilde liegen, einzuhegen und zu beherrschen. Das Ereignis „1914“ hat von diesem Weg weggeführt. Es wurde zur historischen Zäsur. Doch aus dieser Zäsur kann man nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass der Weg ein Irrweg sei und die Lösung „nationalstaatlicher Pluralismus“ ein Ding der Unmöglichkeit sei.

Fazit

Es geht also nicht allein darum, die postnationale Lösung durch die Europäische Union schlechtzureden, sondern positiv deutlich zu machen, dass es logisch und historisch gute Gründe gibt, auf die Weiterentwicklung der nationalstaatlichen Souveränität zu vertrauen und an ihrer Trennung von falschen, hegemonialen Ansprüchen zu arbeiten. Diese Arbeit ist durchaus knifflig, denn der Unterschied von legitimer außenpolitischer Einflussnahme und Interessenvertetung einerseits und einer illegitimen hegemonialen Weltgouvernance liegt nicht immer auf der Hand. Die Dringlichkeit einer solchen Unterscheidung, ist in unserer Gegenwart, in der die Schattenseiten von internationalen Interventionen, von „nation building“ unter fremder Führung oder von weltweiten ökologischen oder sozialen Normierungen sichtbarer werden, kaum noch von der Hand zu weisen. Der Unterscheidungsaufgabe kann sich im Übrigen auch die Europäische Union nicht entziehen: Bei den wichtigsten Krisenherden der Gegenwart hilft der EU ihr innerer „Friedensraum“ nicht weiter; vielmehr muss auch sie eine Außenpolitik entwickeln, die als begrenzte Souveränität mit anderen Souveränitäten umgehen muss. Wenn also sowieso an der Trennungslinie zwischen Souveränität und Hegemonie gearbeitet werden muss, dann kann man auch wieder auf die Grundeinheit der Souveränität, den säkular-territorial verfassten Nationalstaat, zurückkommen. Jedenfalls gibt es keinen Grund, sich durch „1914“ so einschüchtern zu lassen, dass man nur noch die Flucht in ganz neue politische Gebilde sieht.

 

(Manuskript vom 20.8.2014, unveröffentlicht)