Im Hinblick auf die Wahlen der Jahres 2017 wird alles getan, damit das alte Parteienspektrum auch das neue Parteienspektrum bleibt. Doch die politische Meinungsbildung ist darüber schon hinaus. 

Repräsentative oder formierte Demokratie?

Noch sind nicht alle Personalentscheidungen auf Seiten der etablierten Parteien CDU, CSU, SPD, Grüne, Linke, FDP gefallen, aber mit großen Überraschungen ist nicht mehr zu rechnen. Keine der Großentscheidungen, die in den letzten Jahren getroffen wurden – von der Energiewende über die Politik des billigen Geldes bis zum Masseneinlass illegaler Migranten – steht zur Revision an. Auch die Veränderungen, die sich in anderen europäischen Ländern und in den USA abzeichnen, werden schroff zurückgewiesen. Das hierzulande etablierte Spektrum der „richtigen“ Politik weiß es besser.

Deutschland soll in einer veränderten Welt als Land des Weiter-So positioniert werden. Und dies Weiter-So bekommt immer aggressivere Züge: Eine partei- und medienübergreifende Koalition versucht, jeder Opposition gegen die getroffenen Großentscheidungen die Qualifikation „politisch“ abzusprechen. Das geschieht in der Feindbild-Kampagne „Rechtspopulismus“. Das geschieht auch, wenn einer solchen Opposition von vornherein die Fähigkeit abspricht, mit Fakten zu argumentieren. So wird Merkels Wort von der „Alternativlosigkeit“ ihrer Politik erst in diesem Wahljahr 2017 in seiner tiefen Demokratie-Feindlichkeit deutlich. Eine Demokratie ist nur repräsentativ, wenn die wirklichen Probleme eines Landes präsent sind. Wenn es also eine uneingeschränkte und redliche Repräsentativität gibt.

Die Bundestagswahlen 2017 sind die ersten bundesweiten Wahlen, die nach einer Reihe von Systembrüchen stattfinden. Es geht nicht um diese oder jene Einzelmaßnahme, sondern es wurden allgemeine Grenzen, Haltelinien und Sicherheitsvorkehrungen abgeräumt – rechtlich und physisch. Doch genau diese Schutzvorrichtungen werden in einer veränderten Weltlage wichtiger. Die Systembrüche in Deutschland passen also nicht zur allgemeinen Entwicklung. So ist es kein Wunder, dass sich in der Bevölkerung der Eindruck verbreitet, dass da etwas nicht stimmt. Nicht jeder entschließt sich sofort zur Opposition. Aber er stellt sich Fragen. Grundlegende Fragen, politische Fragen. Wie können sie beantwortet werden? Nur im Rahmen eines offenen Richtungsstreits zwischen den gegensätzlichen Antworten, die in so einer Lage entstehen. Das wäre die Aufgabe eines Bundestags, der uneingeschränkt und redlich repräsentativ ist.

Gegenwärtig muss man von einer eingeschränkten Repräsentativität sprechen: Am Ende einer Großen Koalition und einer Bundestags-Opposition, die die Systembrüche noch extremer treiben möchte, hat das politische (und das mediale) Leben der Bundesrepublik eine massives Repräsentativ-Problem. Auch eine Neuauflage des bekannten Gegenübers von „Schwarz-Gelb“ gegen „Rot-Grün“ kann die Probleme und Lösungsalternativen nicht mehr abbilden. Das ist die Ausgangslage im Wahljahr 2017.

Für eine uneingeschränkte und redliche Repräsentativität

Das etablierte Parteiensystem hat verschiedene blinde Flecken. Ein solcher Fleck ist die Schutzaufgabe des Staates gegenüber Verbrechen, Terror, Krieg. Die Wehrhaftigkeit der Bundesrepublik wurde durch eine Reihe von Maßnahmen herabgesetzt, man denke an die Abschaffung der Wehrpflicht, die Aussetzung des Grenzschutzes, die Nicht-Anwendung von Gesetzen zur Ausweisung, die Duldung von Formen der Paralleljustiz mit kulturellen oder religiösen Begründungen, den Verzicht auf Videoüberwachung und vieles mehr, vor allem in der alltäglichen Praxis der Wehrhaftigkeit. Das passt sichtlich nicht zur Gefahrenlage im Land, die nicht nur in der Spitze (dem Terroranschlag), sondern auch in der Breite wächst. Und es passt überhaupt nicht zu den Aufmerksamkeiten und Aktivitäten des gegenwärtigen Bundestags – so sehr nun auf einmal in den letzten Monaten dieser Legislaturperiode das „Thema Innere Sicherheit“ geflaggt wird. Auf diesem Feld muss ganz offensichtlich die politische Spannweite des Parlaments (des Gesetzgebers) erweitert werden. Es muss eine Partei präsent sein, die der Wehrhaftigkeit der Republik von vornherein einen höheren Rang einräumt – und die nicht erst durch Extremfälle und hohe Opfer mühsam zum Handeln bewegt werden muss.

Eine solche Erweiterung des Spektrums des nächsten Bundestags sollte auch für diejenigen einsichtig sein, die in ihrer Wahlentscheidung am Ende doch bei einer der etablierten Parteien bleiben. Eine wichtige politische Auseinandersetzung findet also im Vorfeld der Wahlentscheidung statt. Es ist ein Kampf um Anerkennung. Um die Anerkennung einer politischen Aufgabe in Gestalt einer politischen Partei. Es ist auch ein Kampf um die Offenheit des Parteienspektrums, gegen ein „vorsortiertes“ und „gefiltertes“ Spektrum. Ja, es geht um die repräsentative Demokratie (und nicht um deren Abschaffung). Aber es geht um eine uneingeschränkte Repräsentativität.

Die Parteien als Treuhänder

In der gegenwärtigen Situation gibt es viele Wähler, die mit ihrer Wahl dazu beitragen wollen, dass Probleme offen zur Sprache kommen und eine Konkurrenz von Lösungen stattfindet. Das sind keine „Protestwähler“, sondern kühl und rational kalkulierende Bürger. Sie suchen eine Partei als Treuhänder für ihre Anliegen und für eine freie Konkurrenz der Argumente. Sie sehen auch das Problem, dass dieser Treuhänder auch wirklich treu ist, und suchen dafür nach einem Unterpfand, dass dies – soweit überhaupt möglich – verbürgt. Dies Redlichkeits-Problem der Repräsentativität ist jetzt, in Zeiten neuer Entwicklungen und größerer Entscheidungen, nicht einfach mit Verweis auf die Vergangenheit zu beantworten. Denn die Gefahr, dass die Repräsentation unzuverlässig wird, stellt sich nicht nur bei neuen Parteien wie zum Beispiel der AfD, sondern vor allem bei CDU/CSU, SPD, Grünen, Linken, FDP. Diese haben ja erwiesenermaßen Grundpositionen preisgegeben, die sie vorher noch für unveräußerlich erklärt hatten. Im Fall des Atom-Ausstiegs hat eine schwarz-gelbe Regierung sogar das Gegenteil dessen getan, was sie vorher im Wahlkampf angekündigt hatte. Aber auch der Grenzschutz-Ausstieg durch Order der Kanzlerin ist ein eklatanter Fall. Dieser Grundzug von Willkür, der in die deutsche Politik Einzug gehalten hat, hat der repräsentativen Demokratie einen massiven Vertrauensverlust eingebracht. So haben die etablierten Parteien – viel stärker als die „populistischen“ Neuankömmlinge – dafür gesorgt, dass die deutsche Demokratie unter dem Generalverdacht der Treulosigkeit steht.

Es mag den ein oder anderen geben, der nach dem CDU-Parteitag in Essen glaubt (oder glauben machen will), dass in der Merkel-Partei etwas in Bewegung gekommen ist. Dass sich die Kanzlerin gerade „neu erfindet“. In Wirklichkeit hat sie einen neuen Beweis ihres völlig willkürlichen Verhältnisses zum gesprochenen Wort geliefert. Was soll man von ihrem Satz halten, dass eine Massenzuwanderung wie 2015 „sich nicht wiederholen darf“? Wie ist denn für das Nicht-Wiederholen gesorgt? Es gibt keine Vorkehrung, weder rechtlich noch physisch, die im Falle eines neuen Massenandrangs diesem gewachsen wäre: keine funktionierende Zurückweisung an den Außengrenzen, keine funktionierende Abschiebungspraxis, keine funktionierende Wohnsitzauflage. Die Mittel des wehrhaften Staates sind in einem Zustand der Verwahrlosung – weil die Regierungsweisheit lautet, dass man sich überall da heraushält, wo es weh tut. Aber auch geistig-moralisch ist nichts geregelt. Wenn die Bundeskanzlerin eine neue große Einlassaktion wirklich vermeiden wollte, müsste sie ja zuerst ihr Wort vom „moralischen Imperativ“ zurücknehmen, mit dem sie Deutschland in einen Stand-By-Ausnahmezustand versetzt hat. Aber nichts ist zurückgenommen.

Noch nie haben wir in der Bundesrepublik vor einer Regierungspartei gestanden, die so treulos mit ihrem Wort umgeht. Der CDU-Parteitag hat davon eine neue Probe abgelegt, indem er alle möglichen Signale und möglichst viele Fährten legte. Mit dieser CDU soll sich der Wähler alles vorstellen können. Sie ist die postfaktische Partei par excellence. Oder soll man die Absichtserklärungen zu „Burka“ oder „Lager in Nordafrika“ schon unter Fakten verbuchen? Von einer Partei, die im gleichen Augenblick erklärt, sie könne sich eine Koalition mit den Grünen vorstellen – wo doch klar ist, dass ein schwarz-grüner Koalitionsvertrag nur das genaue Gegenteil der Parteitagsvoten enthalten kann.

Das etablierte Parteiensystem rückt von der Mitte des Landes ab

Ein bekannter und guter Treuhand-Grundsatz für das politische Handeln lautet: Erst das Land, dann die Partei. Die Umkehrung (Erst die Partei, dann das Land) gilt zu Recht als schändlich. Aber es gibt eine Variante dieser Umkehrung, die besonders in den Merkel-Jahren hoffähig wurde. Sie lautet „Erst die Koalition, dann das Land“.

Wir werden von einer Großen Koalition regiert, die keineswegs eine Koalition der Mitte ist. Sie hat Maßnahmen und Brüche zu verantworten, die durchaus die Bezeichnung „extrem“ verdienen. Dazu passt, dass die sogenannte „Opposition“ im deutschen Bundestag (Grüne und Linke) mit den extremen Maßnahmen der Regierung im Grundsatz einverstanden ist und sie nur noch etwas steigern möchte. Das Wahlvolk sieht sich also einem Spektrum von Repräsentanten gegenüber, das völlig einseitig verschoben ist. Und diese Verschiebung aus der Mitte des Landes ist das bestgehütete Geheimnis der medialen Öffentlichkeit.

Was gerade noch gut bundesrepublikanisch war (eindeutige Staatsbürgerschaft, Vertragsfreiheit statt Quoten, Mix der Energieträger, Strafbarkeit des willkürlichen Grenzübertritts), ist nun „rechtspopulistisch“.

Die Kanzler von Bedeutung, die den Weg der Bundesrepublik wirklich geprägt haben, zeichneten sich dadurch aus, dass sie das Format hatten, schmerzhafte Entscheidungen zu treffen und gegen Widerstände durchzustehen. So Adenauer und Erhard (Westbindung und Marktwirtschaft), so Schmidt und Kohl (Nachrüstung) und nochmal Kohl (Wiedervereinigung), so Schröder (Agenda). Sie waren bereit, daran auch ihre Kanzlerschaft zu knüpfen und sich offen dem Votum des Wahlvolks auszusetzen. Die langjährige Kanzlerschaft Merkels kennt diesen Freimut nicht. Sie hat an keiner Stelle (Atomenergie, Schuldenkrise, Migranten) den harten Weg gesucht. Sie ist Konfrontationen und unschönen Bildern tunlichst aus dem Weg gegangen. Sie hat „Zeit gekauft“ (und immer mehr Zahlungsverpflichtungen aufgehäuft). Sie hat die deutsche Außengrenze aufgelöst (und dafür flächendeckende Sicherheitsrisiken im Landesinneren erzeugt). Mit welchem Argument hat Merkel ihre erneute Kandidatur unterlegt? Nicht mit einer Bilanz ihres Tuns. Nicht mit einer eindeutigen Verteidigungslinie der Republik – sondern mit ihrer „Erfahrenheit“. Ja, da kann sie punkten: Was auch geschah, sie ist immer dabei gewesen.

 

 

(erschienen am 20.1.2017 bei „Tichys Einblick“)