In der aktuellen Spannungssituation kehrt ein altes Vorurteil gegen die moderne Staatenordnung zurück: Führt das Nebeneinander souveräner Staaten unvermeidlich zu kriegerischen Auseinandersetzungen?

Sieg und Platz  

Zweifellos geht es in den internationalen Beziehungen um Macht. Aber „Macht“ ist keine besonders präzise Beschreibung. Um welchen Einsatz geht es? Ein verbreitetes Vorurteil vermutet, es gehe vor allem um die Führungsposition. Im Ringen zwischen souveränen Staaten ginge es um Sieg oder Niederlage. Mancher vermutet sogar, dass hier das Prinzip „The winner takes it all“ regiert. So wäre die moderne Weltordnung immer ein Kampf um Macht „oben“. Viele erklären sich die Katastrophe von 1914 mit dieser Logik. Doch zeigen die 100 Jahre bis zu unserem Jahr 2014, dass die moderne Weltordnung viel pluralistischer funktioniert. Sie ist viel stärker auf „Platz“ angelegt als auf „Sieg“. Es hat nicht nur eine Abwechslung von Führungsmächten stattgefunden, sondern auch eine starke Ausdehnung der Staatenwelt in der Breite. Dazu gehören die Beziehungen unter den klassischen, „hochentwickelten“ Nationalstaaten, die Entstehung und Beteiligung vieler neuer Staaten (zunächst als „Entwicklungsländer“) und dann auch die Bildung eines Mittelbaus in Gestalt der sogenannten „Schwellenländer“. Der Einsatz „Platz“ ist auch vor dem historischen Hintergrund der europäischen „Urkatastrophe“ von 1914 wichtig. Neuere Studien belegen, dass die Akteure nicht nur ihre Macht überschätzten, sondern auch die Möglichkeiten unterschätzten, den Krieg zu vermeiden. Es gab keine Zwangsläufigkeit, die auf den Krieg hinauslief. Es gab auch keinen Automatismus, der von dem Phänomen „Nationalstaat“ zum Krieg führte – so als ob das Nebeneinander souveräner Staaten über kurz oder lang immer in kriegerische Auseinandersetzungen münden müsste. Eine Zeitlang wurde der 1. Weltkrieg als Wettlauf um die Weltherrschaft gedeutet, der zwischen vier, fünf, sechs Titelaspiranten ausgetragen wurde (im Sinne der Fischer-These und anderer ähnlicher Analysen). Also als Auseinandersetzung um „Sieg“. Doch neuere Studien liefern viele Anzeichen dafür, dass die Sorge um „Platz“ der wichtigere Einsatz war (Vgl. u.a. Niall Ferguson, Der falsche Krieg, Stuttgart 1999). Die Vorgeschichte des 1. Weltkriegs war voller Krisen, die einen solchen Einsatz hatten (Balkan/Türkei/Krim, Russland-Japan, Marokko) und die man hätte entschärfen können. Aber auch im Geschiebe zwischen den Großmächten wären Arrangements denkbar gewesen, insbesondere auch zwischen Großbritannien und Deutschland. Doch in der damaligen Vorstellung von Weltordnung wurde diese Möglichkeit systematisch unterschätzt. Erst die Erfahrung zweier Weltkriege, die Entkolonialisierung und die Bildung von Schwellenstaaten lenkten den Blick auf die Möglichkeit eines Pluralismus von Nationalstaaten, die ihre Souveränität und Würde aus der Teilnahme  gewinnen. Die Überwindung des Alles-oder-Nichts-Weltbildes, das sich offenbar gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgebaut hat, ist eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts.

Die Weltsituation im Jahr 2014 liefert keinen Grund, eine Rückkehr zur Logik des Alles-oder-Nichts zu diagnostizieren und die Außenpolitik unter den Druck eines Aufstiegs zu globaler Gestaltungsmacht zu setzen. Zu dieser Logik muss auch das Weltbild der sogenannten „Triade“ mit einem amerikanischen, einem asiatischen und einem europäischen Machtkern gerechnet werden, das auch von der EU oft bemüht wird, um eine Zentralisierung von Kompetenzen zu begründen. Das relative Gewicht der „ersten fünf“ großen Mächte ist sehr viel geringer als vor 100 Jahren. Auch wenn gegenwärtig politische und wirtschaftliche Krisen verschiedener Schwellenländer von sich reden machen, lässt sich die Welt immer weniger in den einfachen Gegensätzen von reich-arm, mächtig-ohnmächtig, wissend-unwissend, entwickelt-unentwickelt abbilden.

Es ist deshalb gewiss richtig sich über die neuen Spannungen Sorgen zu machen, die im Laufe der Ukraine-Krise so bereitwillig angeheizt wurden. Aber es ist nicht unbedingt eine Kriegsgefahr, die im Raum steht. Hier spielt eine Veränderung der wirtschaftlichen und politischen Geographie, die sich in den letzten 100 Jahren vollzogen hat, eine Rolle. Im Jahr 1914 konnten noch bestimmte Schlüsselpositionen als Kriegsziele isoliert werden. An bestimmten Territorien, Meerengen, Bahnlinien, Häfen, etc. hing die Herrschaft über ganze Länder, Völker und Volkswirtschaften. Das ist heute viel weniger der Fall. Eine Kriegspolitik der Besetzung, der Stützpunktbildung oder auch der territorialen Erweiterung macht heute weniger Sinn

als früher. Auch im Gesamtüberblick scheint die moderne Entwicklung von Wirtschaft und Staat stärker auf eine räumliche Intensivierung hinauszulaufen als auf eine Extensivierung (vgl. D. Friedman, A Theory of the Size and Shape of Nations. In: Journal of Political Economy 85/1997; Gerd Held, Territorium und Großstadt, Wiesbaden 2005, S.97ff. S.127ff). Die Gefahr der „Überdehnung“ von Staaten ist heute viel größer, und sie ist den Akteuren auch bewusster. Es ist also letztendlich zweifelhaft, ob es starke Bestrebungen gibt, von welcher Seite auch immer, ein Land wie die Ukrainer zu annektieren.

Eine Dramatisierung der Ukraine-Krise zur allgemeinen Kriegsgefahr ist daher fehl am Platze. Eher gibt es die Gefahr, dass das Land in eine Spaltung getrieben wird. Oder das es in einer Wartesituation blockiert wird und dort auf Jahrzehnte hingehalten wird. Umso wichtiger ist es, an einem provisorischen Rahmen zu arbeiten, der Platz für beide Bindungen, nach Osten und nach Westen, bietet.

 

(Manuskript vom 25.März 2014, unveröffentlicht)