Die Berliner Mahnwache für die Opfer des Charlie-Hebdo-Attentats in Paris zeigt, dass das „Zeichen setzen“ eine Sache ist, und die handfesten Auseinandersetzungen in Stadtteilen und Schulen eine ganze Sache

Solidarität und Realität

Der 12. Januar sollte ein Tag der deutschen Solidarität mit Frankreich sein. An diesem Tag sollte eine große „Mahnwache“ für die Opfer der Pariser Januar-Morde stattfinden – in der deutschen Hauptstadt, am Brandenburger Tor. Alle hatten zur Teilnahme aufgerufen, der Bundespräsident, die Kanzlerin, die im Bundestag vertretenen Parteien, der Berliner Senat, Religionsgemeinschaften, Sozialverbände, Medien – wer in Deutschland für sich in Anspruch nimmt, dies Land zu repräsentieren und zu bewegen, hatte aufgerufen. Man hätte eine machtvolle Kundgebung erwarten können und zweifellos gab es in der deutschen Öffentlichkeit ein starkes Solidaritätsgefühl angesichts des Terrors gegen unser Nachbarland.

Doch dann ist etwas geschehen, was man kaum für möglich gehalten hätte: Die Würdenträger auf dem Podium fanden sich vor einem nur dürftig gefüllten Platz wieder. Es seien 10000 gewesen, hieß es später. Die FAZ meldete 4000 Teilnehmer. Eine peinliche Schlappe. Man hatte zwei muslimischen Verbänden den Vortritt gelassen, als Hauptveranstalter aufzutreten, wohl mit dem Gedanken, eine beträchtliche Zahl muslimischer Bewohner Berlins zu mobilisieren. Aber sie waren kaum vertreten.

Der Bericht der Berliner Zeitung, die der Veranstaltung durchaus wohlgesonnen war, lässt zwischen den Zeilen erkennen, welche bittere Stunde der Wahrheit hier stattgefunden hat: „Bei Nieselregen ist der Pariser Platz nicht ganz gefüllt. Umso drangvoller wirkt die Enge auf der kleinen Bühne….“ Über Aiman Mayzek, des Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime: „Aber ist er nicht vielleicht auch ein wenig enttäuscht darüber, dass er sich so gut präsentiert, und so wenig Muslime auf den Platz gekommen sind…?“ Dann über die Stimmung unter den Versammelten: „Man spürt in der Menge, dass sechs Tage nach dem Attentat, nach dem ersten Schock, viele zu ihren eigenen Anliegen zurückkehren. Da wehen die Flaggen … als Zeichen der Solidarität und in eigener Sache. Dazwischen wird auf Schildern gegen Atomkraft geworben, Pegida der Mittelfinger gezeigt, Frieden in der Ukraine gefordert. Als sich schließlich auf der Bühne alle einhaken, macht kaum einer in der Menge mit. Vielleicht ist die Vielfalt in Berlin zu sehr Alltag, als dass man sich zu solch überschwänglicher Geste hinreißen lassen müsste. Wie sie hier nebeneinander stehen, könnten sie sich schließlich auch in der S-Bahn begegnen: die jungen Touristen, die Büroarbeiter, die älteren Herren in teuren Mänteln, die Mädchen mit Kopftüchern.“

Gerade in einem Moment, in dem man sich durchaus einig in der Verurteilung eines monströsen Terroranschlags war, ist ein Spalt zwischen dem offiziellen Deutschland und dem realen Deutschland sichtbar geworden. Weder sind die Menschen, die nicht gekommen sind, gleichgültig, noch waren die gehaltenen Reden schlecht. Aber der Spalt ist da. Das „Zeichen setzen“ mobilisiert nicht. Die Regierenden erreichen die Bürger nicht, die Bürger erwarten anderes als Reden. Wer die führenden Repräsentanten da auf ihrer Bühne zusammenstehen sah, konnte sich eines mulmigen Gefühls nicht erwehren. Und eines Verdachts: Dass hier nur ein bestimmtes Milieu mit sich selbst sprach.

Eine zweite peinliche Begebenheit unterstreicht das. Von der großen Pariser Demonstration am 10. Januar sind Bilder gesendet worden, die den Eindruck erweckten, die Demonstranten würden von einer illustren Schar internationaler Staatsoberhäupter angeführt. Nachher stellte sich heraus, dass die Bilder der Politiker auf einem anderen Platz aufgenommen waren, wo sie unter sich waren und zum Schein für die Kameras ein paar hundert Meter gingen. Die Bilder waren dann in die laufende Berichterstattung einmontiert worden. Aus Sicherheitsgründen, erklärte man. Aber warum inszeniert man dann eine Schmierenkomödie der Führung auf der Straße? Verrät das nicht, auf welch schwachen Beinen die politische Führung in den Ländern des heutigen Europa unterwegs sind? Und wie sehr diese Leute in Inszenierungen denken?

Es wäre jedoch falsch, hier nur an eine Handvoll „Machthaber“ zu denken und in antiautoritäre, plebeszitäre Reflexe zu verfallen. Es geht um ein gesellschaftliches Phänomen – das meint der Begriff des „sozialen Milieus“. Ein Milieu umfasst immer eine Teilgruppe der Gesellschaft, die eine bestimmten Art zu leben, zu arbeiten, zu wohnen eint, aber auch bestimmte Vorstellungen von Gut und Böse, von schön und hässlich, ein bestimmtes Bild der Welt, ein bestimmtes Verhältnis zur Welt. Offenbar gibt es in der heutigen Gesellschaft große Sektoren, die Probleme nur von Ferne kennen und daran gewöhnt sind, sie von Ferne zu bearbeiten: mit Gesten des guten Willens, mit Zeichen. Sie nehmen ihr Land vor allem als eine Art Zeichen-Land wahr. Wenn sie dann wirklich einmal in einen „Problemstadtteil“ oder eine „Problemschule“ gerade, erfasst sie oft ein jähes Entsetzen. Und sie können und wollen sich absolut nicht vorstellen, in solchen Umständen täglich und auf Dauern zu leben und zu arbeiten.

Aus Frankreich wird gemeldet, dass an zahlreichen Schulen Schüler mit arabisch-muslimischem Migrationshintergrund die Schweigeminute für die Opfer des Pariser Attentats boykottiert haben und oft die Trauernden sogar offen verhöhnt haben.




(15.1.2015, unveröffentlicht)