„Was wir über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, sagt der Soziologe Niklas Luhmann. Im Ernst? Dann wäre die Zeit, die wir an Arbeitsplatz, Schule, Theater, Stadion, Haus, Garten und auch unterwegs zu Fuß, Bahn, Auto verbringen, für unsere Kenntnis der Welt irrelevant geworden. Die spezifische Auswahl und Ordnung der Information, die Massenmedien vornehmen, wäre konkurrenzlos. Tatsächlich drängen sie sich heute stark in den Vordergrund. In dieser Situation könnte es schon eine Hilfe sein, wenn man „zwischen den Zeilen“ zu lesen versteht und dem nachspürt, was nur beiläufig in die Öffentlichkeit gelangt.

Stadtgeflüster

Die Stadt und der Müll – Der Jahreswechsel ist einer der Momente, an dem die Stadt sichtbarer als sonst mit ihrem Müll konfrontiert wird. Man kommt auch häufiger als sonst mit den Müllmännern ins Gespräch. „Bei denen werden doch alle Glassorten, die wir getrennt haben, schon beim Laden auf den LKW wieder zusammengekippt“, lautet ein geläufiges Vorurteil.  Falschmeldung. „Da ist innen eine Trennwand drin, Mensch“, knurrt der Orange-Mann. Zum Problem mit der Mülltrennung könnte er Einiges sagen, es liegt nicht nur auf Seiten der Unternehmen, den üblichen Verdächtigen bei vielen Dingen. Die Müllmänner haben Erfahrungswerte: „Stellt man die Mülltonnen für jedes Haus einzeln auf, gibt es viel falschen Müll in der falschen Tonne. Stellt man größere Tonnen für alle Leute an die Straßenkreuzung, wird dort weniger hingebracht und vieles, z.B. Flaschen und Kunststoffe, bleiben allgemeinen Hausmüll.“ Ein echtes Dilemma. Und bis heute nicht gelöst. „In den letzten Jahren lässt die Müllmoral nach“, sagt unser Mann in Orange. Er weiß mehr über die Stimmung der Stadt als die Abendschau-Berichte, für die neue Projekte und (einmalige) Sammelaktionen interessanter sind.

 

Zwischenbemerkung – Die obige erste Notiz zeigt schon, dass der berühmte Mann auf der Straße nicht immer Recht hat und Basisdemokratie oft besonders sachfremd ist. Es wäre daher ein Missverständnis, wenn „Stadtgeflüster“ als Rubrik für Volkes Stimme und als indirektes Plädoyer für mehr Bürgerbeteiligung verstanden würde. Eher geht es hier um Aussagen, die von Fachleuten (oder zumindest aus einer näheren Bekanntschaft mit einer Sache) kommen. Um leisere Stimmen also, die oft nur bruchstückhaft und zwischen den Zeilen den Weg in die Öffentlichkeit finden.

 

Warnschussarrest ohne Folgen? – Die Tageszeitung „Die Welt“ (3.1.2014) berichtet, dass Berliner Richter  den sogenannten „Warnschussarrest“ kaum anwenden. Das Instrument war im Jugendstrafrecht im März 2013 eingeführt worden und gestattete den Richtern, im Falle einer Verurteilung auf Bewährung einen Kurzzeitarrest zu verhängen. Die Jugendlichen sollten den Ernst einer Haftstrafe erfahren – Das war das Argument angesichts einer erheblichen Zahl von Tätern, die sich allein durch die Erfahrung eines Gerichtsprozesses nicht beeindrucken ließen. Doch nun stellt sich heraus, dass die Jugendrichter in Berlin von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen. Zwischen März und November 2013 musste nur ein Jugendlicher den Arrest antreten. Anwaltsverein, Richterbund und Justizpolitiker in Berlin, die den Warnschussarrest von vornherein als untauglich abgelehnt hatten, sehen sich jetzt bestätigt – heißt es in dem Artikel in der „Welt“, der unter der Überschrift „Warnschussarrest ohne Folgen“ im Blatt steht. Wieso „ohne Folgen“? Er wurde ja offensichtlich in Berlin gar nicht wirklich erprobt. Nicht der Arrest hat sich bei den Jugendlich als folgenlos herausgestellt, sondern das neue Instrument war unter Berliner Jugendrichtern folgenlos. Fast könnte man sagen: Der Warnschussarrest ist viel besser als die Berufsauffassung derjenigen, denen dies Instrument anvertraut ist.

 

Gutesser und Bösesser – Die Agrar- und Ernährungsmesse „Grüne Woche“ hat wieder Besuchermassen angezogen. Die „Berliner Zeitung“ (20.1.2014) bringt eine große Reportage aus den vollen Hallen. Doch merkwürdig: Der Text der Reportage verrät nur, dass die Autorin eigentlich auf die Mehrheit der Besucher nicht gut zu sprechen ist. Einige Erklärungen könnten die Besucher nachdenklich stimmen. Wenn sie denn nachdenken wollen“, schreibt sie. Und weiter „Ein Foto zeigt Hennen im Stall, die eng an eng stehen. Besucher könnten nun fragen, wo im vollen Stall Platz ist zum Scharren und Picken. Doch die meisten Menschen gehen wortlos vorbei“. Und so wird aus der Reportage über die Grüne Woche unter der Hand eine Anklage gegen diejenigen, die dort hingehen. Die Autorin ist offensichtlich gegen die agrarindustrielle Herstellung von Lebensmitteln und offensichtlich ist sie auch nicht bereit, sich mit den vielen Menschen zu befassen, die die Wahl ihrer Lebensmittel nach anderen Gesichtspunkten treffen. In einer Millionenstadt wie Berlin, die keinen Tag ohne Lebensmittelindustrie überleben könnte, ist diese Einstellung im Grunde kurios. Die Ernährung ist offenbar ein Bereich, in dem Wunsch und Wirklichkeit, das Reden über eine gute Ernährung und das alltägliche Verhalten besonders krass auseinanderfallen. In der Redaktion der „Berliner Zeitung“ wird es wohl wenige Menschen geben, die einen Großteil ihrer Lebensmittel jede Woche im Supermarkt erwerben und niemand käme auf die Idee, eine Reportage darüber zu schreiben, wie blind und wortlos die Kunden dort an den Regalen vorbeigehen. Aber die „Grüne Woche“ weckt offenbar nicht nur den Appetit vieler Menschen, sondern bei einigen auch die Suche nach einem sozialen Distinktionsgewinn: „Wir sind die Gutesser“.

 

Eine gute Nachricht – „Die Macht der Discounter wächst“ vermeldet die FAZ am 27.1.. Nach Berechnungen der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) steigerten die Discounter ihren Marktanteil (auf knapp 44%). In den Massenmedien, die um Aufmerksamkeit bemüht sind, herrscht die Immer-Mehr-Formel: „Immer mehr“ Menschen, so liest man, wenden sich den „qualitätvollen“ (soll heißen, den handwerklich-kleinbäuerlich) Lebensmitteln zu. Da ist die Meldung, dass im Moment des Einkaufs doch die industrielle Vernunft siegt, eine gute Nachricht.

 

„Wanderarbeiter“ – In Berlin macht eine Gruppe von 23 Männern von sich reden, die über Monate, teilweise Jahre auf dem Gelände einer Eisfabrik-Ruine gehaust haben, unter Duldung der Behörden. Sie mussten schließlich Ende des letzten Jahres das Gelände – aus baupolizeilichen Gründen – verlassen. Nicht, weil die zuständigen Politiker des Bezirks Mitte sich einen Ruck gegeben hatten, sondern weil ein Gerichtsbeschluss sie dazu zwang. Der Tagesspiegel vom 5.1. titelt „Wanderarbeiter ziehen weiter“ und erweckt damit den Eindruck, hier wären Arbeitskräfte auf der Suche nach Arbeit unterwegs. Aber der Artikel lässt andere Realitäten durchblicken: Nachdem die Gruppe, die vorher weder als Einwohner noch als Arbeitssuchende gemeldet waren und die man wohl eher als Obdachlose bezeichnen müsste, zunächst eine Nacht in einer Kirche untergebracht war (die Kirchenleute mochten sie offenbar nicht länger dulden), wurde sie mit Vermittlung und Geld des Bezirks in einem A&O-Hostel in Friedrichshain untergebracht, kurze Zeit später schon wieder in einem anderen Friedrichshainer Hostel. Das ist offenbar auch schiefgegangen. Der Chef des Hostels: „Uns hat das Ganze völlig überrascht, uns war die Brisanz auch nicht bewusst. Man wird dann unfreiwillig in eine politische Diskussion gedrängt“. Von der Berliner Zeitung (5.1.) wird er mit noch deutlicheren Worten zitiert: „Sie verstehen unsere Hausordnung nicht, besonders im Frühstücksraum gibt es Probleme. Wir sind keine soziale Einrichtung und können eine Betreuung von obdachlosen Bulgaren nicht leisten.“ Die „Abendschau“ des RBB berichtete am 5.1., dem Hostel-Besitzer sei die Herkunft der Gruppe, die er einquartieren sollte, vom Bezirk verschwiegen worden. Die Gruppe wurde also wie eine heiße Kartoffel weitergereicht, weil offenbar niemand auf die Realität von Obdachlosen-Migranten eingestellt war. Und weil die Politik offenbar nicht bereit war, sich zu einer Realität zu bekennen, die sie doch selber mitgestaltet hat: Es eine Betreuung der Obdachlosen, die auf eine Minimalhilfe begrenzt ist – aus durchaus guten Gründen. Aber merkwürdigerweise mag sie nicht dazu stehen, Migranten ausdrücklich und öffentlich an dies System zu verweisen, das sie doch anderen Obdachlosen zumutet. Stattdessen liest man Sätze wie jenen des zuständigen Stadtrats Stephan von Dassel (Bezirk Mitte, Partei Die Grünen): Er hoffe, laut Tagesspiegel, „die Bulgaren fänden schnell Arbeit und wären dann eigenständig“. Eine Politik, die das Gute hofft – das ist genau, was wir jetzt brauchen.

 

Schmutzige Schulen – Die Nachrichten, die uns normalerweise aus dem Schulsystem erreichen, erwecken den optimistischen Eindruck von „anspruchsvollen“ Zielen, von „innovativen“ Projekten und vom „gemeinsamem“ Lernen (nicht zufällig drei vielverwendete Textbausteine der Gegenwart). Doch im Januar 2014 ist in der deutschen Hauptstadt ein viel unangenehmeres Thema in die Schlagzeilen gekommen: die Verschmutzung der Schulen. Es geht dabei nicht nur um Staub, ungeputzte Fenster oder nicht geleerte Papierkörbe. Es geht um Toiletten- und Waschräume, die mit Fäkalien verschmiert sind. Um Pilzbefall und Keime. Das Schulamt und das Gesundheitsamt drohten einer Grundschule mit der vorübergehenden Schließung, weil die Toiletten dermaßen unhygienisch waren, dass sie den Kindern nicht mehr zugemutet werden konnten. Das ist kein Einzelfall. Im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wurde eine „Elterninitiative Reinigungsoffensive“ gegründet. Und natürlich ist wieder die fixe Idee zur Stelle, dass auch hier betrügerische Unternehmen am Werk sind, die eine zugesagte Putzleistung nicht erbringen und gleichzeitig ihre Angestellten mit Hungerlohn abspeisen. Eine Passage aus einem Interview der Berliner Zeitung (21.1.14) mit Henri Harder, Prokurist der Reinigungsfirma Schwarz-Weiss GmbH lässt da aufhorchen: „Die Putz-Intervalle sind von Bezirken heruntergefahren worden, um Geld zu sparen“ (Die DIN-Norm sieht ein tägliches Aufwischen der Klassenräume vor. Aber der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, so die Berliner Zeitung, habe den Rhythmus auf zweieinhalb Mal pro Woche heruntergefahren). Es ist eine merkwürdige Verdrängung bei Aufmerksamkeit und Mittelverteilung im Gange: Der Staat (er hat hier das Sagen) hat Auge und Geld für das Besondere, für PC-Anschaffung, Inklusions-Umbau, Theaterprojekte – und kriegt die Klos nicht mehr sauber. An solchen Schulen, so kann man wetten, bleibt auch das Lesen, Schreiben und Rechnen auf der Strecke.

 

Was Krankenstände erzählen – Ein Viertel der 160 Pankower Parkraumkontrolleure ist krank, berichtet die Wochenend-Ausgabe der Berliner Morgenpost vom 4./5.1. „Das ist nicht dem Winterwetter geschuldet. Es hat vor allem mit der Motivation der Mitarbeiter zu tun.“ Wer dabei an Winterkälte und lange Kontrollwege denkt, trifft offenbar nicht ganz die Hauptsache. „Wir haben eine zunehmende Aggressivität auf den Straßen“, sagt Stadtrat Torsten Kühne (CDU). Es kommt zu vermehrten Übergriffen gegen die Außendienstmitarbeiter. „Sie werden angefeindet. Es hat zweimal den Versuch gegeben, einen Mitarbeiter zu überfahren.“ War es 2012 zu schwer wiegenden Übergriffen gekommen, so wird die Zahl 2013 vermutlich auf 50 steigen. Auch in anderen Bezirken von Berlin soll es diese Tendenz geben. Gegenmittel? Hier nimmt der Artikel eine merkwürdige Wendung: Es ist von „Nachbetreuung bei Übergriffen“, „besserer Schulung und Weiterbildung“ und „Konflikttraining“ die Rede. Auch von einer „Imagekampagne“, um den Kontrolleuren mehr Respekt zu verschaffen. Merkwürdiger Staat, der sich nicht anders zu helfen weiß, als sie an (lange) Bildungsprozesse und (schöne) Bilder  zu delegieren.

 

Gerd Held, 31.1.2014