Der „Migrationspakt“ enthält ein großes Versprechen: Die Entwicklungsprobleme der Welt sollen mit „mehr Mobilität“ zu lösen. Doch die eigentliche Stärke der Moderne liegt in der Tragfähigkeit ihres institutionellen Baus. (Der Mythos der großen Wanderung, Teil II)
Über die Statik der modernen Welt
17. Dezember 2018
Im ersten Teil dieser Text-Folge wurde gezeigt, wie mit dem sogenannten „Migrationspakt“ die Weltordnung des gleichberechtigten Nebeneinander souveräner Nationalstaaten, wie sie in der Charta der Vereinten Nationen festgelegt ist, durch eine neue Weltordnung der grenzüberschreitenden Vermischung ersetzt wird. Den großen Wanderungsbewegungen unserer Zeit wird dabei eine globale Aufgabe anvertraut: Sie sollen die Entwicklungsprobleme der Welt lösen. Jene politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungsaufgaben, die bisher den Ländern und ihren souveränen Institutionen anvertraut waren, sollen nun durch „Offenheit“ und „Mobilität“ grenzüberschreitend und global gelöst werden. Die Auflösung aller festen, eindeutigen und begrenzten Verantwortlichkeiten schickt sich an, auf längere Zeit zur herrschenden Weltordnung zu werden. Diese allgemeine Mobilmachung zwingt uns, noch einmal tiefer über die Statik der modernen Zivilisation und der freiheitlichen Demokratie nachzudenken.
Ein Kernsatz des Migrationspaktes lautet: „„Migration war schon immer Teil der Menschheitsgeschichte, und wir erkennen an, dass sie in unserer globalisierten Welt eine Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung darstellt.“ Das ist ein Entwicklungsversprechen. Der Pakt erweckt den Anschein, ein Entwicklungsmodell für eine bessere Welt zu sein. Dieser Anspruch ist letztlich auf eine bestimmte Ressource gebaut: die Mobilität. Die Steigerung der Mobilität durch die Entgrenzung der Migrationsströme soll den Unterschied ausmachen, der gelungene Entwicklung von blockierter Entwicklung scheidet. Deshalb führen die Vertreter dieses Modells eine so erbitterte Freund-Feind-Kampagne gegen die „Abschottung“ und für die „Offenheit“. In dieser Offenheit liegt für sie das ganze Heil. Und diese Heilserwartung ist nur dann plausibel, wenn man alles auf die Ressource „Mobilität“ – auf die raum- und zeitüberwindende Fortbewegung also – setzt. Sie wird als der eigentliche Motor der modernen Zivilisation verstanden. Hinter dem Hype für die Migration steht also eine Überschätzung des Gesamtkomplexes der Mobilität. Diese Überschätzung findet sich auch dort, wo „neue nomadisierende Arbeitsformen“ zum Zukunftsmodell der wohlhabenden Länder erklärt werden. Und auch die sogenannten „vier Grundfreiheiten“ der EU (freie Bewegung von Personen, Waren, Kapital und Arbeit) sind Mobilitätsfreiheiten.
Wenn Mobilität mit Entwicklung verwechselt wird
Gewiss ist Mobilität eines der auffälligsten Merkmale der modernen Zivilisation und zu jeder Bebilderung dieser Zivilisation gehören Abbildungen ihrer Straßen, Schienen, Kanäle, Brücken, Häfen, Bahnhöfe, Flughäfen und der dort sichtbaren Bewegungen. Ganz zweifellos sind das Begleiterscheinungen der Moderne, aber etwas ganz Anderes ist die Behauptung, diese Begleiterscheinung sei die Grundlage der Moderne und sei ihr wesentliches Markenzeichen und ihre Stärke. Der Unterschied zwischen Mobilität und Entwicklung wird sofort deutlich, wenn man zum Beispiel folgende Passage liest:
Die spätmittelalterliche Welt war von zyklischen Abläufen geprägt. Auf das Bevölkerungswachstum der zwei vorausgegangenen Jahrhunderte folgten zwischen 1300 oder 1350 und 1475 Hungersnöte, Pestilenz und wirtschaftlicher Rückgang; auf einen zweiten Expansionszyklus von 1475 bis 1600 folgte im 17. Jahrhundert eine Kontraktion. Die Krise des siebzehnten Jahrhunderts breitete sich mit unterschiedlichen Ergebnissen über ganz Europa aus. England und die Niederlande wurden, wenn überhaupt, kaum davon betroffen, während Frankreich und insbesondere Spanien schwer darunter litten…Der Grund für die unterschiedlich hohen Wachstumsraten der werdenden Nationalstaaten Europas im 17. Jahrhundert ist im Wesen der Eigentumsrechte zu suchen, die sich in jedem von ihnen entwickelt hatten. Der jeweilige Typus von Eigentumsrechten war ein Ergebnis der je spezifischen Entwicklung jedes Nationalstaates.“
Diese Passage stammt aus dem Buch „Theorie des institutionellen Wandels“ des Wirtschaftshistorikers Douglass C. North aus dem Jahr 1988. Sie steht exemplarisch für die institutionelle Argumentation in Entwicklungsfragen. Diese Argumentation besagt, dass ein bestimmter Bau der Institutionen entscheidend ist – als Bedingung der Möglichkeit von Entwicklung. Sie setzt also nicht Entwicklung mit Mobilität gleich, sondern setzt auf ein statisches Element (den Bau und die Tragfähigkeit von Institutionen), um Entwicklung zu ermöglichen. Dies statische Element ist wichtig, weil es bei Entwicklung um etwas viel Breiteres und Komplexeres geht, als es einzelne Standortveränderungen sind. Ein ganzes Gefüge von Dingen und Menschen muss sich verändern.
Die Bedeutung der Eigentumsrechte
In der zitierten Passage geht es um die Aufsprengung des malthusianischen Bevölkerungskäfigs – das liegt recht nahe an dem Grundproblem der gegenwärtigen Migrationswelle. In den ersten Jahrhunderten der europäischen Moderne gelang es offenbar, die produktiven Kräfte und Mittel signifikant zu erweitern – gleichzeitig aber auch ein inneres, demographisches Regulativ zu entwickeln. Dabei, so North, spielten die Eigentumsrechte die Hauptrolle. Hier wird das, was „Institutionen“ leisten, konkret: Sie sind eindeutige und dauerhafte Zuordnungen von Verantwortung. Der Bau von Institutionen ist auch Entwicklung (und keine Ewigkeits-Festlegung), aber er ist komplexer als bloßes politisches „Steuern“, was nicht zufällig eine Begriffsbildung aus der Welt des Verkehrs ist. Die Institutionenentwicklung geschieht daher langsamer. Sie hat ihre eigene Geschichte und sie muss allen größeren Veränderungen von Technik, Arbeitsplätzen, Wissen, Unternehmen, Regierungen vorausgehen. Deshalb spielen bei der institutionellen Sicht der Moderne die Modernisierung der Verkehrsmittel oder die Wanderungsbewegungen eine nachgeordnete Rolle, sogar die gesamte industrielle Revolution wird dem institutionellen Bau nachgeordnet.
Durch Eigentumsrechte geschieht eine Zuordnung von Anstrengung und Ertrag. In diesem Sinn argumentierte schon John Locke im Jahr 1689: „So viel Land ein Mensch bepflügt, bepflanzt, bebaut, kultiviert und soviel er verwerten kann durch die Nutzung seines Ertrages, soviel ist sein eigen. Durch seine Arbeit grenzt er es gleichsam gegen das Gemeingut ab.“ (John Locke, Über die Regierung, Bd. II, § 32) Derjenige, der ein Stück Land bebaut und es gegen äußere Gefahren (Wetter, Krankheit, Raub) verteidigt, muss die Gewissheit haben, dass er den Ertrag dieser Anstrengung auch erntet. Sonst würde keine längerfristige Anstrengung mehr unternommen und die Gesellschaft würde von der Hand in den Mund leben.
Für die Entwicklung kommt es also nicht auf ein besonders schnelles Reagieren an oder auf ein besonders dichtes Netzwerk von Beziehungen, sondern auf eine Grundkonstruktion, die sich im Wandel behaupten, ihre Kontinuität wahren und in eine allmähliche Erweiterung ihres Baus umsetzen kann. Die Schilderung der modernen Institutionenbildung bei Douglass C. North zeigt, dass es die Langsamkeit ihres Baus nicht mit einer völligen Starre, die das Alte nur wiederholen kann, gleichgesetzt werden darf. Die Eigentumsrechte haben ihre eigene Evolution, die allerdings nichts mit der Geschwindigkeit räumlicher Fortbewegung zu tun hat. Ein klassisches Beispiel ist das kapitalistische Unternehmen. Es verkörpert das statische Element, das sich im Markt bewegt, wie „Klumpen in der Milchsuppe“ (wie es der Ökonom Ronald Coase in einem berühmten Aufsatz ausdrückte). Die Eigentumsrechte sorgen dafür, dass die Unterschiede in der Leistung von Arbeit, Technologie, Organisation und Finanzierung für das jeweilige Unternehmen zur Geltung kommen und sich auszahlen. Diese Unterschiede können erheblich sein. Das Beispiel einer vorwiegend agrarischen Wirtschaft, das John Locke vor Augen hatte, war in dieser Hinsicht noch sehr viel weniger entwickelt.
Die Statik der neuzeitlichen Welt
Hat man so den Blick für den Unterschied zwischen Mobilität und Statik in der Moderne geschärft, werden viele Vorgänge besser verständlich. Ein Blick in die neuzeitliche Technikgeschichte zeigt, dass nicht die Verkehrstechnologie (Eisenbahn) oder die Kommunikationstechnologie (Telefon etc.) die größte Wirkung hatten, sondern neue Entdeckungen in der Umformung der Stoffe (Handwerk – Manufaktur – große Industrie). Auch die zunehmende Rolle der Wissenschaft in der technischen Entwicklung fand auf diesem Feld statt. Man denke an Chemie- und Elektroindustrie.
Ebenso bedeutsam ist, dass die neue Form der Staatlichkeit, die mit der Moderne entsteht, eine Stärkung seiner Statik bedeutet. Der Staat wird mit dem „stehenden“ Heer, mit dem Aufbau einer kontinuierlichen Verwaltung, mit einem festen Staatsbudget (mit regelmäßige Bilanzierung), und mit einem wachsenden Umfang von technischen Infrastruktur (Straßen und Plätze, Kanäle, Häfen, Deiche, Eisenbahnen und Bahnhöfe) und Einrichtungen für Bildung, Gesundheit, Wissenschaft und Künste ein „stehender Staat“. Mit diesem Ausbau ist auch ein Rückbau verbunden. Der moderne Territorialstaat ist kleiner als die alten Reiche, aber er kontrolliert erstmals stringent seine Grenzen und Eingangstore. An die Stelle räumlich diffuser imperialer Gebilde tritt ein Pluralismus von Territorialstaaten, zwischen denen begrenzte Kooperationen bzw. Konflikte gibt. Die „Westfälische Ordnung“ (nach dem Friedensschluss im 30jährigen Krieg) wird zu Paradigma einer internationalen Ordnung, die auf der gegenseitigen Anerkennung unabhängiger Staaten besteht. Die pluralistische Statik dieser Ordnung ermöglicht – anders als bei einem übergreifenden Zwangsverband – eine Kontinuität auch bei wechselnder Prosperität und bei Ländern mit unterschiedlichem Entwicklungstempo.
Was bedeutet „konservativ“ in modernen Zeiten?
Gerade dies letztere Beispiel zeigt, wie irreführend das lineare Bild einer „immer schnelleren Welt“ ist, das in unseren Tagen so oft zur Beschreibung der modernen Welt bemüht wird. Ebenso falsch ist das Bild einer „immer flacheren Welt“ („flat world“), in der die unterschiedlichen Gegebenheiten der Geographie immer weniger ins Gewicht fallen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Moderne hat gerade die Statik des menschlichen Daseins auf Erden weiterentwickelt und diese Statik ist dadurch pluralistischer geworden. Die Statik der Moderne ist also nicht einfach das ewig gleiche „Alte“. Und der moderne Konservativismus ist kein Konservativismus der ewigen Wiederkehr, sondern ein Konservativismus der langsam „bauenden“ Entwicklung tragfähiger Institutionen.
Entwicklungsfragen hat Vorrang gegenüber Migrationsfragen
Der „Migrationspakt“ ist deshalb so verheerend, weil er auf einer Konfusion zwischen Entwicklung und Mobilität beruht. Es ist unzulässig und gefährlich, von der Mobilität – zum Beispiel von der Größe von Migrationsströmen – auf die Entwicklungsstärke zu schließen. Das führt zu einer Unterschätzung und Vernachlässigung der Entwicklungsaufgaben. Und die wichtige und vorrangige Frage unserer Zeit muss die Entwicklungsfrage sein. Wo die Voraussetzungen von Entwicklung durch Migration untergraben werden, muss die Migration zurückstehen und konsequent auf ein verträgliches Maß begrenzt werden.
Drei Schulen in der Entwicklungsfrage
Man kann drei Denkschulen in der Beantwortung der Entwicklungsfrage unterscheiden, wenn man die Komplexität ihrer Antwort betrachtet. Die institutionelle Schule geht sehr weit und bezieht die äußeren Bedingungen der Knappheit der Güter und auch der Knappheit des Wissens und der Moral der Menschen mit ein. Die klassische und neoklassische Schule ist hier weniger komplex und man hat ihr oft vorgehalten, von allzu einfachen Voraussetzungen auszugehen – zum Beispiel die Reduktion ihrer Modelle auf das Motiv der Nützlichkeit. Immerhin kennt diese Denkschule die Zusammenhänge und Erfordernisse, die das industrielle Fabriksystem und die großen Infrastrukturen mit sich bringen. Und sie geht auch richtigerweise von einer Welt aus, die ohne Wertschöpfung und (Arbeits-)Leistung nicht bestehen kann. Wo aber wäre nun die „Mobilitätsschule“ einzuordnen, die die Welt nach „Offenheit“ und „Abschottung“ unterscheidet und sie durch „mehr Offenheit“ und „mehr Fortbewegung“ verbessern will? Ist sie vielleicht komplexer als die beiden anderen Schulen? Oh nein, sie fällt sogar noch gegenüber der (neo-)klassischen Schule zurück. Ihre Antwort auf die Entwicklungsfrage – das Mantra der „Mobilität“ – ist die simpelste und leichteste aller Lösungen.
Der verheerende Rückschritt in der heutigen Entwicklungsdebatte
Wir hatten vor einigen Jahrzehnten einen durchaus hohen wissenschaftlichen Diskussionstand zu den Problemen der Entwicklung. Schon im Jahre 1973 publizierten Douglass C. North und Robert Paul Thomas das Buch „The Rise of the Western World“, das die Bedeutung der Institutionen und insbesondere der Eigentumsrechte in den Vordergrund rückte. Diese Aufmerksamkeit für die Rolle der Institutionen verstärkte sich, als das „sozialistische Lager“ im Laufe der 1980er Jahre in die Krise geriet. Auch die große Diskrepanz zwischen erfolgreichen und erfolglosen Entwicklungsländern verstärkte diese Diskussion. Gemessen daran ist die heute vorherrschende Entwicklungsdebatte ein verheerender Rückschritt. Der jetzt UN-weit lancierte „Migrationspakt“ steht exemplarisch – mit seinem kruden Geschichtsbild, seiner trivialen Pro-Migrationswerbung und der völlig fehlenden Reflektion der Entwicklungsaufgaben – für diesen Verfall.
(erschienen in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick“ am 19.12.2018)