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Welche Erwartungen standen am Anfang der Kanzlerschaft Angela Merkels?  Gab es damals eine Vorahnung des neuralgischen Punktes unseres Landes? 

Über politische Redlichkeit

10. Dezember 2021

Am 5.Juni 2005, also vor jener Bundestagswahl, mit der die Serie der Kanzlerschaften von Angela Merkel begann, erschien in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung fünf kurze Beiträge zu der Frage „Was wohl kommt“. Neben Monika Maron, Hermann Lübbe, Dan Diner und Sonja Magolina kam ein Beitrag auch von mir, Gerd Held. Die Redaktion gab ihm die Überschrift „Fair und robust“, aber man hätte ihn besser mit „Mehr Redlichkeit“ überschreiben sollen. Hier mein Text vom Juni 2005 im Wortlaut:

„Als größter Trumpf einer neuen Regierung wird sich die Ehrlichkeit erweisen. Heute gebietet diesen zu sagen, dass wesentliche deutsche Positionen unhaltbar geworden sind. Ein großes Land kann nicht nur ein Land der hohen Löhne, Renten und Versicherungsleistungen sein. Das kommende Deutschland wird die große internationale Spannbreite der Einkommen und Normen ein gutes Stück weit in seinem Inneren aufnehmen müssen. Ebenso gebietet die Ehrlichkeit das Eingeständnis, dass wir gegen den Terror keine anderen Waffen haben als die Stärke des Leviathan-Staates – dass wir daher unsere Einflussgrenzen abstecken und unsere Bündnisse pflegen müssen.
Als Land der Besserverdienenden und Besserwisser können wir nicht bestehen, auch nicht moralisch. Deutschland wird seine Möglichkeiten erst entdecken, wenn es zuvor seine unhaltbaren Positionen räumt. Auf diese Reihenfolge kommt es an, und da liegt ein altes deutsches Problem. Im 19. Jahrhundert mussten erst die großdeutsch-idealistischen Gebäude einstürzen, bevor – Jahrzehnte verzögert – die Räder von Industrie und Großstadt rollten. Heute sind die Renten- und Bildungsversprechen nicht mehr finanzierbar. Aber die Vorstellung, es als Exportweltmeister doch noch zu schaffen, verhindert Entscheidungen. Die Ahnung, dass dieser Feldzug schon verloren ist, erzeugt den vielbeschworenen Vertrauensverlust.
Etwas anderes wird erst gelingen, wenn diese Nation nicht mehr in nervös-faszinierter Heilserwartung auf die berühmten Kanzler-Geschäftsreisen starrt, sondern nach dem zu fragen beginnt, was uns daran hindert, im eigenen Land endlich zu Hause zu sein. Diese neue Ehrlichkeit könnte zu einem Patriotismus führen, der weniger rührselig ist, sondern robuster im Einstecken und fairer im Austeilen – weil er zu jenen bescheideneren Positionen zurückgefunden hat, die mit Gewissheit unsere eigenen deutschen Bestände sind.“

Der Beitrag brachte die Erwartung zum Ausdruck, dass Deutschland sich seiner Lage bewusster wird, und insbesondere seinen begrenzten Möglichkeiten ins Auge sieht. Es ist ganz anders gekommen. Die politische Sprache ist heute in einem Maße, das damals noch gar nicht vorstellbar war, von der Vorstellung durchtränkt, dass auch die größten, weltumspannenden Aufgaben, die noch nie in der Geschichte lösbar waren, nun für das „Machen“ bereitliegen. Dass sie den Menschen verfügbar sind.
Das Gegebene wird so entmächtigt, dass es dem menschlichen Machen gar keinen großen Widerstand bietet. Es muss dabei gar nicht um Fehlinformationen („Fake news“) gehen, sondern die Verfälschung der Wirklichkeit ist subtiler. Man kann wahre Zahlen nennen, und doch kein wirkliches Lagebild geben. So können Zwänge und Dilemmata verborgen werden. Das geschieht auch, wenn diese Zwänge und Dilemmata verharmlost werden, indem man nur von „Herausforderungen“ spricht (als wäre es mit dem „Heraus“ schon getan), oder indem man davon spricht, dass „ein Zeichen gesetzt“ wurde oder dass alles „auf einem guten Wege“ ist.
So wird die Realität so zugeschnitten oder „gerahmt“ („framing“), dass sie in bestimmtes Gesamtbild passen und die Entscheidungen der Menschen schon im Voraus in einen bestimmte Richtung lenken. Damit hat das sorgfältige Beobachten und Berichten seinen eigenständigen Wert und seine Freiheit verloren. Es wird der Aufgabe untergeordnet, den Menschen „Orientierung zu geben“. So wird in unserer Gegenwart das alte Goethe-Wort wieder aktuell: „Man fühlt die Absicht, und man ist verstimmt“.
Was wäre der Gegenbegriff, der hier ins Feld geführt werden müsste? Ist es „Ehrlichkeit“? Nein, das trifft es nicht wirklich. Denn „ehrlich“ kann jemand etwas meinen und fühlen, ohne dem Gegebenen Aufmerksamkeit und Sorgfalt zu schenken. „Ehrlichkeit“ ist nur eine subjektive Tugend, die mit gröbster Fahrlässigkeit und Rücksichtslosigkeit gegenüber dem objektiv Gegebenen dieser Welt einhergehen kann. So kann auch die größte Bindungslosigkeit sich als „Ehrlichkeit“ drapieren.
Nein, der Gegenbegriff zum grassierenden Wirklichkeitsverlust unseres Zeitgeistes ist jene typisch bürgerliche Tugend der „Redlichkeit“, in der ein starker Realitätssinn sich mit prüfender Sorgfalt verbindet.
In diesem Dezember 2021, in dem die Kanzlerschaft Angela Merkels zu Ende ist, ist die Wiederentdeckung der Redlichkeit eine Grundvoraussetzung, um aus der Sackgasse, in die Deutschland geraten ist, herauszufinden.

(unveröffentlicht)