Zum 25. Jahrestag des Mauerfalls richten sich alle Augen auf Berlin. Da kann ein Blick aus größerer Distanz nicht schaden. Ein Bericht mit biographischen Anklängen

Valencia, im November 1989

 

Meine Erinnerung an den 9. November 1989 ist noch sehr präsent. Ich saß – es war kurz vor 10 Uhr abends – in meinem alten Passat auf einem ziemlich staubigen Parkplatz vor einer Schule am südlichen Stadtrand von Valencia und wartete auf eine spanische Freundin, die dort gerade einen Aushilfsjob begonnen hatte. Auch für mich war der Herbst 1989 ein Beginn: Ich war nicht nur auf Urlaubsreise in Spanien, sondern wollte dort definitiv meinen Wohnsitz nehmen – nach 34 Jahren in Deutschland und 4 Jahren in Frankreich. An diesem 9. November war es gerade zwei Wochen her, dass ich endlich eine Mietwohnung gefunden hatte, und überhaupt war ich mit meinen Gedanken ganz woanders als in Deutschland. Plötzlich wurde die Musik im Autoradio unterbrochen und eine recht aufgeregte spanische Stimme sagte etwas, von dem ich nur verstand, dass in Berlin etwas passiert war. „Ha caido el muro de Berlin“ war der Kernsatz, den ich erst später richtig entziffern konnte. Doch dann wurde Originalton von einer Grenzstelle aus Berlin eingeblendet und ich hörte die Jubelschreie und Fetzen glücklicher deutscher Sätze. Die Berliner Mauer war gefallen. Unglaublich, herzzerreißend, wunderbar. In den folgenden Stunden erlebte ich, 2000 km Luftlinie entfernt von Berlin, eine sehr bewegte Nacht in einer Bar meines neuen Stadtviertels, in der auch die spanischen Nachbarn gebannt auf den Fernseher schauten und alles lautstark kommentierten. Als sie mitbekamen, dass ich Deutscher war, wurde es noch lauter und das Wort „Sympathie“ gibt nur sehr schwach die Stimmung im Raum wieder. Am nächsten Morgen rief der Vater meiner spanischen Mitbewohnerin an und sagte mir „Lo mereceis“ (Ihr verdient es). Er meinte damit, dass die Deutschen in den Jahrzehnten nach dem Kriege viel Gutes geschafft hätten und dies der Lohn sei. Das war aus seinem Munde keine Kleinigkeit, denn er gehörte zur Opposition gegen die Franco-Diktatur und hatte einige Zeit im Gefängnis gesessen. Es gab damals in Spanien ein tieferes Mitgefühl mit den Deutschen und weniger Bedenken als in anderen europäischen Ländern, was sicher mit der spanischen Geschichte von Bürgerkrieg und Diktatur zu tun hat.

Auch Matilde, die Freundin, teilte dies Mitgefühl und auch das war keine Kleinigkeit. Denn sie hatte ursprünglich eine Vorstellung von der deutschen Teilung, bei der die DDR eigentlich der bessere, demokratischere, fortschrittlichere Teil Deutschlands sei. Doch das war schon anders geworden, nachdem wir 1988 Sylvester einen Besuch bei Freunden in Berlin gemacht hatten. Ich erinnere mich noch an die Bahnfahrt und den Grenzübertritt in Helmstedt. Matilde schaute aus dem Abteilfenster und ich sah, wie fassungslos sie auf die Wachtürme, die Zäune, die Scheinwerfer und die Soldatentrupps mit ihren Schäferhunden starrte. „Was ist das?“ fragte sie und ich musste ihr mehrmals wiederholen, dass ich ganz sicher war, dass das die Anlagen und Leute der DDR waren. Sie ist dann auf der Fahrt von Helmstadt nach Berlin, vorbei an den düsteren Ortschaften, immer stiller geworden. Die damalige Reise war für Ihr Deutschlandbild ein Einschnitt. Nun, im Herbst 1989, konnte sie das Befreiende des Falls der Mauer nachempfinden.

Ganz unvermeidlich hat mich der Fall der Mauer tief berührt. Er hat mir meine Bindungen an die deutsche Nation vor Augen geführt. In den folgenden Wochen und Monaten gab es immer wieder Hoffnungen und Sorgen über den weiteren Gang der Dinge. Und dennoch wurde ich nicht völlig von den Ereignissen mitgerissen.

Mein Umzug nach Spanien stand ja nicht in Frage und die Gründe, die mich zu diesem Schritt bewogen hatten, bestanden fort. Mein Anfang in Valencia lag also seltsam quer zu dem Fokus der historischen Großereignisse. Ich war gleichsam auf der Gegenfahrbahn unterwegs. Während alles nach Osten schaute, war ich nach Süd-Westen gezogen. Die deutschen Dinge gingen mir von nun an nicht nur näher als zuvor, sondern sie lagen mir zugleich auch ferner. Das galt nicht nur geographisch. In Spanien lief etwas ab, das sich von den Umwälzungen in Osteuropa und Ostdeutschland deutlich unterschied. Auch hier gab es ein Entwicklungsproblem und es gab durchaus gelungene und bedeutsame Entwicklungsschritte. Aber der historische Rhythmus war anders und auch die Stimmung schien sich anders anzufühlen – soweit ich das damals vergleichen konnte.

Spanien befand sich seit dem Tod des General Franco (1976) in einem Übergangsprozess, der sogenannten „transicion“. Im wirtschaftlichen und kulturellen Leben kann man diese Transition sogar schon von 1959 an datieren, als eine gewisse wirtschaftliche Öffnung nach Außen und kulturelle Freiräume im Innern entstanden. Es gab also nicht den einen großen, revolutionären, historischen Moment („Wende“, „friedliche Revolution“). Es gab nicht das eine große Bild (die „Ikone“), in denen sich die ganze Veränderung kristallisierte und symbolisierte. Die spanische Transition hatte kein Datum wie den deutschen 9.November (oder wie Frankreich den Sturmtag des 14. Juli hat). Stattdessen gab es einen langsamen, zähen Prozess, voller wirtschaftlicher Einbrüche und politischer Unsicherheit. Einen Prozess voller „Halbheiten“ und Kompromisse. Auch voller Rücksichtnahmen,  um einen Rückfall in den Bürgerkrieg der 30er Jahre zu vermeiden.

Das war „mein“ Spanien, das ich 1989 vorfand. Die iberische Halbinsel kam mir damals – so schrieb ich damals in einem Zeitschriftenartikel – wie ein nur äußerlich an Europa angehängter „Balkon“ über einem Abgrund voller Gefahren vor. Das fügte sich mit meiner persönlichen Situation zusammen, denn mein Anfang in Valencia beruhte nicht auf einem guten Job oder dem Schutz einer Familie. Ich kam also nicht gerade als Repräsentant eines saturierten Nordens nach Südeuropa und vielleicht konnte ich deshalb die Gefahren und die Notwendigkeit von Kompromissen in Spanien besser verstehen und nachfühlen. Und hatte ich ein solches Land nicht auch gesucht, als ich von Paris (und vom deutsch-französischen Kerneuropa) fortging, weil es mir zu „fertig“, zu „besetzt“ und auch zu umständlich vorkam. Da erschien mir Valencia als eine „offene Stadt“, wo es viele Dinge zu entdecken und zu tun gab. In der  Realität der folgenden Jahre erwies sich dies Tun dann doch etwas schwieriger. Aber zugleich erwies es sich auch auf eine unerwartete Weise zauberhaft, auf eine frivole Weise. Ja, die spanische Transition hatte damals, anders als die mit dem großen Gepäck einer „Revolution“ angetretene „Wende“, mehr Humor und weniger Selbstmitleid bei Schwierigkeiten. Einige Eindrücke aus dem Herbst 1989 können das illustrieren.

 

Eindrücke aus einem Transitionsland

 

Der Grenzübergang zwischen Frankreich und Spanien war Ende der 80er Jahre noch deutlich markiert. Man trat sichtbar in ein anderes Land ein. Die Grenzkontrollen waren teilweise sehr genau. Ich erinnere mich noch an die dunklen, steifen Kappen, die wohl noch aus der Franco-Zeit stammt. Doch waren die Gesten der Grenzwächter nicht willkürlich, zynisch und angsteinflößend, sondern bei aller Bestimmtheit doch irgendwie „cool“. Auch glaubte ich, in der Beziehung zwischen den Grenzgängern und Grenzwächtern so etwas wie gegenseitige Vorsicht und Respekt zu erkennen. War es eine Sorge vor Eskalation? Auch in anderen Dingen fiel mir, der ich des öfteren Italien bereist hatte, in Spanien eine stärkerer Ordnungssinn und eine größere Kalkulierbarkeit auf: pünktliche Züge, Briefzustellung, Müllabfuhr; leichter Geldumtausch an den Banken; Normverträge für das Anmieten einer Wohnung.

Unsere Wohnung in der Nähe der „Torres Quart“ am alten Stadtzentrum war groß, ziemlich alt und sehr preisgünstig. Ich musste die Miete am Anfang jeden Monats in bar in der Apotheke unserer Straße, die vom Hausbesitzer geführt wurde, abgeben. Aber jedes Mal bekam ich eine sorgfältig ausgefüllte Quittung.

Ich erinnere mich an einige Nachbarn: Der Friseur arbeitete mit zwei alten Stühlen und zwei, drei einsamen Haarwasserflaschen im Hausflur eines Wohngebäudes. Der Automechaniker hatte seine Werkstatt in einer einfachen Garage im Parterre gegenüber eingerichtet (und kam mit meinem betagten Passat Diesel bestens zurecht). Der Bäcker, der seine Laden und seine Backstube in unserem Haus hatte, sorgte für wunderbare Düfte von frischem Brot im Haus und für Rußpartikel, die vom uralten Schornstein auf unserer Wäsche landeten – ich hatte mich schon gewundert, warum die Nachbarn trotz besten Sonnenwetters immer Plastikfolien über ihrer Wäsche ausbreiteten. Zu diesem Bäcker kamen gegen Mittag immer einzelne hochbetagte, schon sehr gebrechliche Frauen in Pantoffeln und mit einem Kochtopf unterm Arm. Auf meine Frage erklärte mir der Bäcker, dass sie im Ofen der Bäckerei ihr Mittagsessen aufkochen ließen – ein damals üblicher Service der Stadtteilbäcker. Das junge Ehepaar, das die Bäckerei führte und nicht aus dem Stadtteil stammte, hatte solche Nachbarschaftspflichten in Valencia selber erst lernen müssen. Später erzählten sie mir, dass es auch zu diesen Pflichten gehörte, praktisch ohne Grenze Schulden  zu akzeptieren und das Brot auf Pump abzugeben. Nach drei Jahren war ihre Schuldenkladde so dick geworden, dass es bedrohlich für ihre Existenz geworden war.

Das Dach über unseren Köpfen hatte anfangs ein paar Lecks. Das schien angesichts des Valencianer Wetters eigentlich kein größeres Problem, aber im Herbst 1989 gab es zwei extreme Regenwochen hintereinander. In diesen Wochen machte in der Stadt das Wort vom „Beirut espanol“ die Runde, weil in der Altstadt eine ganze Reihe leerstehender Häuser mit kaputten Dächern sich so mit Nässe vollgesogen hatten, dass sie einstürzten (Beirut lag damals wegen des Bürgerkriegs in Schutt und Asche). So lernte ich gleich in den ersten Wochen, dass es große Städte gibt, in denen das Problem nicht die Bedrängung des Zentrums durch reiche Investoren ist, sondern im Gegenteil nicht genügend Kapital durch die Zentren angezogen wird. Später fand ich ein ähnliches Entwicklungsproblem auch im bergigen Hinterland der Region. Überhaupt sah man in den Weiten der iberischen Halbinsel überall Brachen, aufgegebene Häuser und eine scharf gezogene Kante zwischen der intensiven Nutzung der Küstenebene und den ungenutzten Hanglagen. Wie bringt man da bloß Kapital, Arbeit und Zivilisation in die schwierigeren geographischen Lagen? Wie bringt man sie „den Berg hoch“?

Und dann der Straßenverkehr: 1989 gab es eine Menge kleiner Autos (aus der ersten Seat-Generation) und noch mehr kreischende kleine Motorräder. Ferner gab es eine schier endlose Kolonne großer und kleiner Lastwagen, die sich durch das Stadtzentrum quälte, weil es noch keine Umgehungsautobahn gab. Damals hieß Valencia „el semaforo rojo de Europa“ (die rote Ampel von Europa). Nun könnte der deutsche Leser vermuten, dass die Bewohner der Stadt unendlich unter dieser Situation litten und der physische und psychische Krankenstand Rekordhöhen erreichte. Doch das Verblüffende war, wie sich die Leute mit diesen Umständen abfanden und dabei durchaus guter Laune waren. Manchmal schien es mir so, als hätte sie sich zum Ziel gesetzt, die Lautstärke der Motoren durch ihre eigene Art der Kommunikation noch zu übertreffen. Ja, die Stakkato-Dialoge kamen mir bisweilen vor wie jene knatternden Motorräder, die unter meinem Fenster entlangpreschten. Jedenfalls zeigten die Valencianer eine große Fähigkeit, die Dinge, wie sie nun einmal waren, mit guter Laune hinzunehmen – mit einer sehr kurzen, explosiven, frivolen, spöttischen Form des Glücklich-Seins. Aus dem protestantischen Norden Deutschlands kommend sah ich mit Staunen, dass sich an religiösen Feiertagen lachende Umzüge im Rhythmus des Pasodoble bewegten – wo ich eher strenge Prozessionen der heiligen Inquisition erwartet hatte. Solche Verhaltensweisen sind nicht nur bemerkenswert und können manch wissenschaftliche Erkenntnis über das angeblich „Unerträgliche“ und „Traumatisierende“ relativieren. Sie können auch ansteckend wirken. Ich begann, ein bisschen teuflisch zu denken und am krachenden Spanien Gefallen zu finden.

Neben der explosiven guten – und manchmal auch schlechten – Laune machte ich aber noch eine andere Beobachtung, die dazu ziemlich quer lag: Viele Spanier waren erstaunlich zähe, ausdauernde Charaktere. Mitten durchs Bild des lebensfreudigen, genießenden mediterranen Daseins lief eine erstaunliche Zahl von Ausdauersportlern. Sie joggten durch das alte Flussbett des Rio Turia und auch entlang mancher Hauptverkehrsstraße. Am Sonntag waren große Gruppen von Rennrad-Fahrern aller Altersklassen unterwegs. Später wurde ich Mitglied des Clubs „Correcaminos“ („roadrunner“), eines reinen Laufclubs, wo ich Bekanntschaft mit der Trainingsdisziplin meiner Valencianer machen konnte.

Noch eine Detail fiel mir gleich zu Beginn auf, ohne dass mir dessen tiefere Bedeutung gleich klar war. Inmitten des Verkehrsgewühles gab es eine ganze Reihe alter amerikanischer Straßenkreuzer, die als Taxis dienten. Sie waren ein Überbleibsel aus jener Zeit, als Spanien sehr viel stärker unter amerikanischem Einfluss stand als in den späteren „europäischen“ Zeiten. Die ersten wirtschaftlichen Öffnungen der Diktatur vollzogen sich unter amerikanischer Ägide. Auch kulturell waren es amerikanische Melodien und Filme, die das strenge Moralregime der katholischen Kirche durchbrachen. Nach dem Tode Francos erfolgten alle jene vorsichtigen Schritte des Übergangs (unter dem Regierungschef Suarez und dem König Juan Carlos) zunächst unter dem Schutz der USA. Auch die Niederschlagung des Tejero-Putsches Anfang der 80er Jahre ist – abgesehen von der eigenen Leistung der Spanier – viel eher dem Einfluss der USA als dem Einfluss der damaligen Europäischen Gemeinschaft zuzurechnen. So waren die Chevrolet-Taxis die Spur eines frühen Abschnitts der langen Geschichte der Transition, die im Jahr 1989 schon allmählich verblasste.

Aber auffällig war nicht nur das Alte, das „noch“ da war. Es gab Veränderung und Fortschritt, aber nicht auf jener breiten Front und in jenem hohen Tempo, das mit dem Modell „Wende“ verbunden wird. Oft waren es einzelne Neuentwicklungen, die erst allmählich aus ihren Kinderschuhen herauswuchsen. Im Verkehr waren schon mehr deutsche Mittelklassewagen zu sehen und der 170er Mercedes, der „Baby-Benz“, war bei der jüngeren, mittelständischen Unternehmergeneration beliebt. Ein modernistischer Museumsbau und postmoderner Musikpalast waren schon fertig und kündigten die spätere futuristische Valencianer Bauwut an. In der Altstadt gab es die ersten neuen Cafés, die von jungen Leuten betrieben wurden. Sie haben sich nicht als letztes Aufgebot im Verfall erwiesen, sondern als Vorhut der heute weitgehend sanierten Altstadt. Auch das Dach unseres Hauses war ein Jahr später repariert und 1992 bekam der Bäcker einen neuen Schornstein…

Und doch gibt es aus den Novembertagen 1989 ein Bild, das mir als Korrektiv gegenüber jedem naiven Modernisierungsglauben haften blieb: Ich war mit einigen Freunden zum Abendessen auf einem Berg in der Umgebung der kleinen Industriestadt „Elda“ gefahren, im Binnenland rund hundert Kilometer südöstlich von Valencia. Wir sahen die Lichter der Stadt wie eine kleine, einsame Insel im Dunkel der unzähligen kahlen Berge der Gegend. Diese Lichtinsel in der nächtliche Mondlandschaft wirkte auf mich wie ein Sinnbild für die spanische Grundsituation – die  iberischen Halbinsel war nicht flächendeckend „durchentwickelt“ und das lag nicht an der Unfähigkeit der Menschen oder des politischen Systems. Hier regierte eine fundamentale Knappheit, angesichts derer jeder Glaube an Machbarkeit und jeder Appell, doch „mutig“ zu sein, hohl und lächerlich klingen musste. Dies Bild vom einsamen Elda war auch ein Sinnbild für den schmalen Grat, auf dem sich die spanische Transition bewegte. Und doch war dieser Anblick erhebend und magisch.

 

Transition und Wende

 

Dies grundlegende Entwicklungsproblem, das die spanische Realität aufwarf, hat mich in den folgenden Jahren – auch nach meiner Rückkehr nach Deutschland – nicht losgelassen und ist für mich auch zu einem wissenschaftlichen Thema geworden. Es gab damals Ansatzpunkte für eine industrielle Entwicklung durch lokale und regionale Netze von Klein- und Mittelbetrieben („Industriedistrikte“). Es wurden Bücher publiziert, die die Flexibilität von Kleinbetrieben und Heimarbeit (auch das Ausweichen vor zu teuren Normen in die Schattenwirtschaft) als Chance sahen und diese, in der Region häufig anzutreffende Industrieformen als Brücke zu den Entwicklungs- und Schwellenländern verstanden. Zugleich wurden sie als Fortsetzung eines längeren, ins 18. Jahrhundert zurückreichenden Entwicklungspfades gedeutet.[1]

Was ich im Herbst 1989 nur intuitiv spürte, aber nicht aus den Eindrücken herauslesen konnte, ist auf diese Weise klarer geworden. Ich hatte, in einer Momentaufnahme, einen tieferen Entwicklungsprozess berührt, der sehr wenig mit dem „europäischen Sozialmodell“ zu tun hatte und in vieler Hinsicht an Schwellenländer erinnert. Und ich hatte eine recht gelungene Version dieser zähen, langsamen und insgesamt begrenzten Entwicklung kennengelernt. Die spanische Transition wies eine hohe Fähigkeit zur Relativierung von Ansprüchen und zum Kompromiss auf, eine durch bittere geschichtliche Erfahrung genährte Vorsicht vor radikalen Anklagen und Feindbildern. Und eine zivilgesellschaftliche Autonomie, die schon im Schatten des Franco-Regimes weiter entwickelt war, als dies für die kommunistisch bevormundeten und bis in den Alltag kontrollierten und durchsetzten Länder galt – insbesondere auch für die DDR. Eine Zivilgesellschaft, die nicht so sehr von hohen moralischen Ansprüchen geleitet war, sondern eher auf ein kräftiges, sarkastisches und bisweilen frivoles „Trotzdem“. Dass auch das eine Nation bilden kann, die politische und ökonomische Reformen und Durststrecken bewältigt, ist mir erst später klargeworden.

Die spanische „Transition“ und die deutsche „Wende“ unterscheiden sich erheblich. Man muss von zwei Entwicklungsmodellen sprechen. Und so sehr wir uns in diesen Tagen freuen, die Wiedervereinigung geschafft zu haben und so sehr wir den Mut derjenigen bewundern, die die Flucht gewagt haben oder im Lande auf die Straßen gingen, so sollte man sich doch hüten, die „Wende“ und die „friedliche Revolution“ zum Universalmodell zu erklären. Die Schwächen dieses Modells sind inzwischen unübersehbar. Vor allem war es die große Erwartung einer raschen, vollständigen Veränderung, die später zu einer großen Enttäuschung und zu anhaltendem Unbehagen geführt hat. Die Wende hat auch ein sehr großes Idealbild der „Einheit“ erzeugt, das nun zu einer Überempfindlichkeit gegenüber Ungleichheiten geführt hat – die mit der modernen Trennung von Wirtschaftsleben, Staat, Kultur, Religion und Privatsphäre auf Kriegsfuß steht. Aber auch in anderen Ländern, in denen deutlich das Schema der Wende Pate stand – in den „Platzrevolutionen“ des Tahir (Ägypten), Taksim (Türkei) und Majdan (Ukraine) zum Beispiel – haben sich die zerstörerischen Effekte überzogener Erwartungen und realitätsferner sozialer Akteure – deutlich gezeigt.

Demgegenüber zeigen sich die Vorzüge der paktierten Lösungen des Transitionsmodells. Die spanische Transition hatte weniger destruktive Effekte und führte nicht in einen neuen Bürgerkrieg. Sie hat auch manche Krise und große Arbeitslosigkeit (zum Beispiel in der ersten Hälfte der 80er Jahre) überstanden, ohne einen Missmut zu erzeugen, wie er in Wendeländern zu beobachten war und ist.

Hat das Modell der Wende und das Faszinosum der Einheit nach einer brutalen Trennung durch eine Diktatur die Tugenden der schrittweisen, kompromisshaften Transition entwertet und verdrängt? Hat dies auch bei der Veränderung des Charakters der Europäischen Union[2] eine Rolle gespielt? Eine solche Verbindung zu sehen, ist nicht ganz abwegig. Denn es gibt zumindest eine Strukturverwandtschaft zwischen der Vereinigungsdynamik der Wende und der Vereinigungsdynamik der neueren EU-Politik. Wird der normative Maßstab der Einheit allzu absolut gesetzt, kann er Länder an der südlichen oder östlichen Peripherie davon ablenken, auf die eigenen Bedingungen zu schauen und das langsamere Tempo eines eigenen Wegs (nach dem Modell der Transition) zu akzeptieren. Hat das Modell der Wende eventuell in diesem Sinn eine fatale Wirkung in Europa bekommen? Sicher ist es nicht der einzige Faktor für die problematische, neuere Entwicklung Europas. Aber ein Faktor war und ist das Wende-Vorbild zweifellos, besonders dort, wo dies Vorbild zum Jahrhundertmodell hochstilisiert wird. Vielleicht wäre es besser, im Jahr 1989 – bescheidener, aber nicht geringschätzig – den Abschluss der totalitären Versuchungen des 20. Jahrhunderts zu sehen. Und die Tugenden der Transition neu zu entdecken.

 

(Gerd Held, 6.11.2014, unveröffentlichtes Manuskript)

 

 

 



[1] Ich habe vor diesem Hintergrund meine Dissertation über die „Schuhstadt“ Elche (im Süden der Region Valencia) geschrieben: Gerd Held (1998), Potentiale der kompakte Stadt. Eine institutionenökonomische Studie über die spanische Schuhstadt Elche. Dortmund.

[2] siehe mein Homepage-Beitrag über den Farbwechsel der EU in diesem Monat