Beim deutschen Pflegesystem ist schnell von Misshandlungen und Menschenrechtsverletzungen die Rede. Doch das lenkt von den Grundproblemen ab

Von der Arbeit spricht niemand

Der Fall sorgte für Aufsehen: Anfang des Jahres stand in Berlin ein Pflegehelfer vor Gericht. In einem Pflegeheim war eine 91 Jahre alte Seniorin an den Verbrühungen gestorben, die der Pfleger ihr irrtümlich zugefügt hatte, als er ihre Dusche falsch einstellte. Ein schlimmer Fall. Und sofort ist von „Misshandlungen“ oder gar „Verletzungen der Menschenrechte“ die Rede, wie es nun eine beim Bundesverfassungsgericht anhängige Klage behauptet. Doch der Berliner Fall zeigte etwas anderes. Denn der Angeklagte, ein 33 Jähriger Mann, zweifacher Vater,  war bekannt als Kollege, der die Pflegearbeit mochte und sich Mühe gab. Man merkte ihm an, wie sehr ihm das schreckliche Geschehen nahe ging. So wurde seine Vernehmung zu einem jener seltenen Momente, wo das zur Sprache kam, was tagtäglich in den Heimen an Arbeit getan wird. Er hatte im September 2012 in der Einrichtung angefangen und kam gleich in die Etage mit den an Demenz erkrankten Patienten. Die „schweren Fälle“, hatte man ihm gesagt. Nach einer Woche war er oft schon allein mit der Grundpflege für die ganze Etage befasst. Dann geschah das Unglück beim Duschen der Patientin. Er drehte das Wasser auf und fand es zu warm. Er schob den Hebel nach rechts. „Da ist immer kalt, ich wusste nicht, dass es an der Armatur anders war.“ So stellte er die Frau unter die kochend heiße Dusche und begriff erst gar nicht, was geschah. Da liegt sein Fehler: Er hätte vorher mit seiner Hand die Temperatur prüfen müssen. Eine einzige Fehlhandlung, mit schwersten Folgen.

Diese Geschichte gibt zu denken. Denn weder die radikalen Anklagen noch die großen Umbaupläne greifen hier. Die Probleme sind elementarer. Es gehört fast schon zur Normalität, dass eine einzige Pflegekraft – oft ist es eine Hilfskraft oder ein Pflegeschüler – über Stunden allein für eine ganze Etage zuständig ist und von Patient zu Patient hastet. Die Arbeit am Bett, an den unmittelbaren, unaufschiebbaren Bedürftigkeiten der Menschen ist nicht mehr gewährleistet. Was hilft es da, in einer solchen Situation noch zusätzliche Ziele wie die „Mobilisierung individueller Potentiale“  draufzusatteln? Auch eine Höherqualifikation hilft hier nicht, denn es ging um einen einfachen Fehlgriff mit schwersten Folgen. Das Problem liegt in der Pflegearbeit, die mit zwei Anforderungen fertig werden muss. Einerseits häufen sich hier die anstrengenden, unangenehmen und ermüdenden Tätigkeiten, andererseits muss diese Arbeit doch mit Sorgfalt, Aufmerksamkeit und Ausdauer verrichtet werden, weil sonst schwere Unfälle drohen. Wie wenig hat dies Profil mit jener neuen schönen kreativen Arbeitswelt zu tun, in der es abwechslungsreich, öffentlichkeitswirksam und freizeitfreundlich zugeht! Man sollte ehrlich sein: Die Pflege passt nicht in das gegenwärtig in Deutschland herrschende Zukunftsbild der Arbeit. Doch in dieser Zukunft warten immer mehr hochbetagte Menschen mit erheblichen körperlichen oder geistigen Gebrechen, denen mit solchen Arbeitsvisionen nicht zu helfen ist.

Kürzlich, am „internationalen Tag der Pflege“, besuchte die Bundesministerin Schwesig die Pflegeinrichtung „Lazarushaus“ in Berlin. In der Pressemitteilung heißt es, sie habe „mit Beginn der Frühschicht den Arbeitsalltag von Altenpflegefachkräften begleitet“. Die Ministerin, so heißt es, sei beeindruckt von dem, was „die Pflegefachkräfte tagtäglich leisten“. Ein solcher Besuch ist löblich, allerdings ist auch ein leichter Misston im Spiel. In der Pressemitteilung wird das Wort „Fachkraft“ wohl zehnmal wiederholt, während Beschäftige wie der Pflegehelfer aus dem eingangs zitierten Fall gar nicht vorkommen. Gewiss ist es gut, wenn in Deutschland der Wert der Arbeit wieder ein Thema wird. Doch der Respekt für die Arbeit fängt da an, wo ihr mühevoller, sich wiederholender Alltag zur Sprache kommt. Umso mehr Gewicht bekommt dann auch die Qualifikation. Und es gibt sie tatsächlich, die Berufstätigen, die der Pflege in allen ihren Aspekten etwas abgewinnen können und sie deshalb über Jahrzehnte leisten. Um ein Pflegeheim zu verstehen, sollte eine Ministerin ruhig auch einmal mit einem Pflegehelfer oder einer Pflegehelferin sprechen. Sie werden vielleicht einfache Dinge sagen. Zum Beispiel dass sie an ihrem Beruf die greifbaren Resultate schätzen – wenn eine Etage versorgt ist und alle ihr sauberes Bett und ihr Frühstück haben; wenn Patienten sich über ein schmackhaftes Essen freuen und dankbar für irgendein Detail beim Zimmeraufräumen sind; oder wenn in der Arbeitsplanung der Abteilung auch die Helfer-Aufgaben zählen und zur Sprache kommen. Manch anderes Thema ist ihnen vielleicht zu lang, zu speziell, zu weit weg. Sie brauchen Handfestes, um Sinn in der Arbeit zu finden. Ist das ein Fehler? Nein, in der Pflege ist es auch eine Stärke, denn es ebnet den Weg ans Bett und zu den Patienten. Natürlich repräsentieren die Pflegehelfer bei weitem nicht die ganze Leistung eines Heims, aber wenn ihre Arbeit verachtet wird, gerät alles auf eine schiefe Bahn. Auch die qualifizierten Kräfte müssen sich etwas von diesem elementaren Pflegesinn bewahren, sonst wird ihnen die Realität der Station fremd und sie fliehen nach einigen Jahren aus dem Beruf. Ist es erst so weit gekommen, hilft keine bessere Bezahlung mehr.

In der Diskussion über ein zukunftsfähiges Pflegesystem in Deutschland gibt es eine merkwürdige Diskrepanz. Auf der einen Seite gibt es große Umbaupläne, die von abstrakten Größen wie einem „neuen Pflegebegriff“ ausgehen und die Zahl der Pflegestufen erhöhen wollen. Auf der anderen Seite gibt es wachsende Schwierigkeiten in den Heimen und in der ambulanten Versorgung, überhaupt den täglichen Betrieb aufrechtzuerhalten. Aufwendige Neubauten werden geplant, während zugleich das Bestehende auf Verschleiß gefahren wird. Verschlissen werden dabei die Beschäftigten, aber auch die wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Einrichtungen. Damit bahnt sich hier ein ähnlicher Konflikt an wie im deutschen Schulsystem. Dort gibt es massiven Widerstand gegen immer neue Systemumbauten und die Forderung, stattdessen endlich die Probleme im Unterrichts-Alltag anzupacken. Soweit ist es im Pflegesystem noch nicht. Abgesehen von einzelnen Skandalen gilt das Thema noch als Expertenthema. Aber die Skepsis gegenüber dem großen Umbau wächst. Es wäre zu wünschen, dass dem Pflegesystem die kostspieligen Irrwege des Bildungssystems erspart bleiben.

(Manuskript vom 18.5.2014, erschienen als Essay in der Tageszeitung „Die Welt“ am 12.6.2014 unter der Überschrift „Der tägliche Verschleiß“)