Weil das Rechtssystem der Europäischen Union keine verbindliche und verantwortliche Souveränität kennt, wird es zum Deckmantel für den Separatismus
Warum die katalanischen Separatisten auf die EU hoffen
15.März 2018
Der katalanische Separatismus, der auf seinem Höhepunkt im September 2017 unaufhaltsam erschien und die Straßen Barcelonas dominierte, hat eine merkwürdige Wendung genommen. Führende Separatisten, insbesondere der seines Amtes enthobene Regionalpräsident Puigdemont sind nach Brüssel geflüchtet und haben versucht, von dort aus den Unabhängigkeitsprozess zu führen. Trotz eines bestehenden europäischen Haftbefehls konnte sich ein ganzer Stab von Politikern und Mitarbeitern in Brüssel installieren und von dort in den Wahlkampf zu den Wahlen vom 21.12.2017 eingreifen. Anfang 2018 hatte Puigdemont den Plan, sich in Abwesenheit – per Videokonferenz zugeschaltet – vom katalanischen Regionalparlament erneut zum Regionalpräsidenten wählen zu lassen. Dieser Plan wurde dann doch nicht umgesetzt, ebenso wie der Plan, in Brüssel eine Art „verfassungsgebende Versammlung“ und „Exilregierung“ zu installieren, die im Namen Kataloniens sprechen und auf europäischer Bühne Verhandlungen führen sollte.
Eine Art ferngesteuerter Separatismus also. Das ist insofern eine bizarre Wendung, als man von einer Unabhängigkeitsbewegung eigentlich erwartet, dass sie von ihrem regionalen Territorium aus operiert und dort besonders stark ist. Diese Stärke wird ja auch ins Feld geführt, um den Separatismus zu legitimieren. Doch nun waren die Separatisten auf einmal nicht die besonders dicht an der Basis präsente politische Kraft, sondern eine Kraft, die in Brüssel noch weiter von Katalonien entfernt war als es das verhasste „Madrid“ war. War das nur eine Notlösung angesichts der Haftbefehle des Verfassungsgerichts gegen führende Separatisten? Nein, denn eine wirklich stark verankerte Unabhängigkeitsbewegung hätte ohne weiteres andere Politiker aufbieten können, um als reguläre Regierung für die Region zu arbeiten.
Offenbar ist es mit dieser Verankerung doch nicht so weit her. Zwar hatten die verschiedenen separatistischen Parteien in den Wahlen vom 21.12.2017 eine knappe Mehrheit der Sitze errungen, aber dies war schon ein hohler Sieg: Denn die Separatisten hatten nicht die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten, sondern nur auf Grund der Wahlkreis-Zuschnitte gewonnen. In den 10 bevölkerungsreichsten Bezirken (darunter Barcelona) hatten die Gegner einer Trennung von Spanien die Mehrheit. Schon seit Oktober 2017 war es auch mit der einseitigen Vormacht der Separatisten auf der Straße vorbei – Demonstrationen für die weitere Zugehörigkeit zu Spanien konnten nun ihrerseits Hunderttausende mobilisieren. So war den Separatisten ihr moralisches Monopol auf Engagement und Leidenschaft schon abhandengekommen.
Umso stärker die Neigung, auf ein Großsystem zu setzen, mit dem man den Nationalstaat Spanien auszuhebeln hofft. Und tatsächlich ist an dieser Möglichkeit etwas dran. Das zeigt allein schon die Tatsache, dass Politiker, gegen die in Spanien ein Haftbefehl wegen Verfassungsbruch besteht, in Brüssel unterkommen können und sich frei politisch betätigen können – so wenig zählen im Rechtssystem der Europäischen Union die demokratischen Institutionen der Mitgliedsstaaten. Das Immer-Enger-Vereint gilt offenbar nicht für die gegenseitige Respektierung der höchsten Gerichte der Mitgliedsstaaten.
Von Beginn an hatten die katalanischen Separatisten gefordert, dass die EU als „Vermittler“ zwischen Katalonien und Spanien auftrete. Damit wäre indirekt eine Gleichrangigkeit von Katalonien und Spanien vorweggenommen worden. So weit wollte die EU nicht gehen, obwohl es im europäischen Parlament durchaus Stimmen gab, die – unter den Stichworten „Mäßigung“ und „Dialog“ – schon auf diese Gleichrangigkeit zusteuerten.
Auch wenn dieser Weg kurzfristig versperrt scheint, ist die Gefahr eines Kurzschlusses zwischen dem regionalen Separatismus und einem europäischen Immer-Enger-Vereint nicht aus der Welt. Das liegt insbesondere an der spezifischen Konstruktion des Rechtsgebildes „Europäische Union“. Es gibt inzwischen juristische Stellungnahmen, die aus dem EU-Recht einen Rechtsanspruch auf die Gründung eines Separatstaates ableiten. Wenn man ihnen folgt, könnte die Europäische Union als Schutzmacht Kataloniens eingreifen und die Lostrennung decken. Ja, sie hätte sogar die Rechtspflicht, dies zu tun.
Am 26.Oktober 2017 erschien in der FAZ unter der Überschrift „Brüchige Fassade“ ein längerer Beitrag von Bardo Fassbender, seines Zeichen Professor für Völkerrecht, Europarecht und Öffentliches Recht an der Universität St. Gallen. Der Autor beruft sich auf eine neue Qualität, die das Völkerrecht durch das europäische Vertragssystem erhalten habe. Das Unionsrecht könne unmittelbar, ohne Vermittlung durch die Mitgliedsstaaten, Rechte und Pflichten von Einzelnen begründen. Es gebe also ein Durchgriffsrecht der Gemeinschaftsinstitutionen – an den Mitgliedsstaaten vorbei. Dazu zitiert Fassbender aus einem Urteil, das der Europäische Gerichtshof schon im Jahr 1963 gefällt hat. Demnach sei schon die damalige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft „eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts, zu deren Gunsten die Staaten …ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechts Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind“. Dies wird als Teil „einer sich grundsätzlichen wandelnden Völkerrechtsordnung“ gedeutet, in deren Rahmen auch die weiteren EU-Verträge als fundamentale Ermächtigungsverträge von Verfassungsrang gedeutet werden. So begründet nach Fassbender der Vertrag von Maastricht (1992) und der Vertrag von Lissabon (2007) eine eigenständige „Unionsbürgerschaft“, die neben der bisherigen nationalen Staatsbürgerschaft bestehe – es wird also ein paralleles Staatsvolk konstruiert. Im Namen dieses Staatsvolks fordert der Jura-Professor nun ein Eingreifen der EU-Kommission zu Gunsten der Bewegung für die Unabhängigkeit Kataloniens. Im Vorgehen des spanischen Verfassungsgerichts und der spanischen Regierung sieht er eine Verletzung von EU-Grundrechten der Bürger, die im Rahmen des spanischen Staates nicht geschützt werden und deshalb eine Lostrennung von Spanien erlauben. Exakt das ist die Linie, mit der sich die Separatisten als Vertreter von Menschenrechten präsentieren, die schwer verletzt würden. So wird im Handumdrehen aus den allgemeinen Menschenrechten eine allgemeines Recht zur Gründung von Separatstaaten.
Bei genauerem Hinsehen wird der Taschenspieler-Trick sofort klar: Bei der Gründung handelt es sich mitnichten nur um einen Akt freier Meinungsäußerung oder um die Bildung von Vereinigungen zur Verfolgung eines politischen Ziels. Niemand bestreitet den Separatisten das Recht, ihre politischen Ziele öffentlich vorzutragen und entsprechende Vereine oder Parteien zu bilden. Aber die Gründung eines Clubs ist etwas ganz anderes als eine Staats-Gründung: Diese schafft das Recht, in einem bestimmten Gebiet für jedermann verbindliche Gesetze zu beschließen. Sie ersetzt eine bisherige verbindliche Zugehörigkeit durch eine andere verbindliche Zugehörigkeit. Die Gründung eines Separatstaates stellt alle Bürger der Region vor einen Entscheidungszwang: Entweder Ihr schließt Euch diesem Staat an oder Ihr müsst gehen. Die Berufung auf die Menschenrechte ist also eine grobe Irreführung, die der Verschleierung einer Erpressung dient. In Katalonien wird der Zwangscharakter der „Befreiung von Madrid“ besonders deutlich, weil die Separatisten nur eine ganze knappe Mehrheit der Abgeordnetensitze haben und nicht einmal die Mehrheit der Wähler hinter sich haben.
Am Ende seines Artikels orakelt Fassbender: „Die Katalonien-Krise des Jahres 2017 könnte für die Zukunft der EU als Rechtsgemeinschaft bedeutender sein, als man dies gegenwärtig in Brüssel und Straßburg zu realisieren scheint.“ Ja, das stimmt. Aber ganz anders, als es der Professor aus St. Gallen meint. Sollte die EU so weit gehen, die Lostrennung Kataloniens von Spanien zu unterstützen, würde sie im gleichen Zug die Staatlichkeit aller ihrer Mitgliedsstaaten aufheben.
(unveröffentlicht)
Ein Nachtrag am 24.3.2018:
Inzwischen ist klar, dass es den verschiedenen Separatistenparteien nicht gelingt, im Regionalparlament eine regierungsfähige Mehrheit zu bilden. Der Kandidat Jordi Turull ist am 22.März nicht gewählt worden, weil die einen eine Bekräftigung der Unabhängigkeitserklärung vom Herbst 2017 nicht vornehmen wollten, während die anderen unbedingt zur Tat schreiten wollten. Der Separatismus hat seine historische Chance vor Ort, so sehr sie sich schon verkleinert hatte, vertan. Das bedeutet aber, dass er noch mehr Feindschaft gegen Madrid verbreiten wird und auf einen „europäischen Umschwung“ hofft.