(Das Griechenland-Abenteuer, Teil 3)

Was nicht zusammengehört

Nun scheint es doch so weit zu sein: Die griechische Regierung ist nicht mehr in der Lage, einem neuen internationalen Rettungspaket mit Auflagen zuzustimmen; die Geberländer sind nicht mehr in der Lage, ein neues, erweitertes Rettungspaket für Griechenland zu anzubieten. Diese europäische-griechische Beziehung ist zerbrochen. Eine unendlich erscheinende Geschichte findet ein Ende. In der Kritik an der europäischen Rettungspolitik schwang oft die Befürchtung mit, dass diese Politik doch irgendwie funktioniert. Funktioniert in dem Sinn, dass sie immer weitergeht und sich immer neue Drehs finden, um diese Politik zu verlängern. Dafür stand der Fall Griechenland und die absurden Brüsseler Tischrunden der letzten Wochen schienen die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Obendrein hatte die deutsche Bundeskanzlerin noch eine Durchhalteparole ausgegeben („Wo ein Wille ist, ist ein Weg“). Doch nun ist der Bruch da. Die unterschiedlichen Wege sind nicht mehr zusammenzubringen. Das ist eine gute Nachricht.

Das Nehmerland Griechenland vollzieht in diesen Tagen den Schritt, auf den es seit 6 Monaten systematisch hingearbeitet hat: Es verweigert die fälligen Raten der Kreditrückzahlung. Anfang Juni hatte die Regierung noch eine fällige Rückzahlung an den IWF auf Ende des Monats „verschoben“. Das hat sich nun als schlichter Betrug erwiesen. Mit den noch höheren Fälligkeiten europäischer Kredite im Juli wird es ähnlich gehen. Die Regierung hat ihre Insolvenz gezielt herbeigeführt, indem sie kaum noch Steuern einzog und gleichzeitig Neueinstellungen im (sowieso schon aufgeblähten) Staatsapparat vornahm. Griechenland ist nun im Modus der Zahlungsverweigerung. Natürlich will man „in der Euro-Zone bleiben“, weil man nur dann Zugriff auf das Geld der EZB hat. Das Referendum ist vor diesem Hintergrund eine Farce.

Auf der Geberseite findet eine entgegengesetzte Bewegung statt: Man besteht mit neuer Schärfe auf einem Vertrag, der wirklich Leistung und Gegenleistung definiert. Das liegt daran, dass die eigentlichen Träger der Rettungspolitik sich zu Wort meldeten: die Einzelstaaten. So wurden die Brüsseler Verhandlungsführer, die sich auf die erstaunlichsten Spielereien und Umarmungen eingelassen hatten, daran erinnert, dass ihr Treiben durch kein Mandat gedeckt ist. Der Versuch, die Angelegenheit zur Chefsache eines Direktoriums Merkel-Hollande-Juncker zu machen, scheiterte. Und der selbstherrliche Herr Juncker stand kurz davor, zu einem König Ohneland zu werden.

So ist die Beziehung, die mit dem merkwürdigen Konstrukt „Rettung gegen Reform“ begonnen hatte, auseinandergeflogen.

War das ein Unfall? Kam der Bruch dadurch zustande, dass die Affäre von irgendjemand ungeschickt oder leichtsinnig „an die Wand gefahren“ wurde? Gab es so etwas wie ein gemeinsames „Fahrzeug“, das nur falsch gesteuert wurde? Nein, ein solches gemeinsames Fahrzeug hat es nie gegeben. Ein echtes griechisch-europäisches Vertragsverhältnis hat nie wirklich existiert. Das hängt damit zusammen, dass das Konstrukt „Rettung gegen Reform“ eigentlich ein Widerspruch in sich ist: Entweder habe ich eine Situation, die eine Rettung erfordert – dann kann ich keine Gegenleistung verlangen. Oder ich habe eine Situation, wo ein blockiertes Land durch Reformen befreit werden muss – dann kann ich einen Vertrag auf Leistung und Gegenleistung abschließen.

Im griechischen Fall ist nie geklärt worden, was hier eigentlich vorliegt. Faktisch ist immer nur einseitig gerettet worden und es hat nie eine größere Eigeninitiative zur Gegenleistung gegeben. Das ist das Besondere des Falls Griechenland gegenüber anderen Fällen in Europa. Die Asymmetrie des Rettungsszenarios wurde nie verlassen, es gab immer nur eine einseitige Transferbeziehung. Griechenland hat die Klientel-Rolle des Geförderten nie verlassen – ohne dies offen einzugestehen. Und die Europäische Union und die Euro-Gruppe hat die eigene Rolle nie geklärt und die eigenen Maßnahmen eindeutig festgelegt und begrenzt.

Aber der Widerspruch entwickelte sich weiter und trieb zum Bruch. Indem Griechenland auf eine Insolvenz setzte, radikalisierte es seine Klientelbeziehung mit dem Euro-System. Indem umgekehrt die europäischen Staaten mit der Forderung nach Gegenleistungen Ernst machten, bestanden sie mit neuer Konsequenz auf der Vertragsbeziehung. So steht nun Klientelbeziehung offen gegen Vertragsbeziehung. Dieser Bruch ist mit irgendeinem „guten Willen“ nicht mehr zu heilen, er liegt in der Natur der Sache. Weder ein „griechisches Europa“ noch ein „europäisches Griechenland“ sind möglich. Die Stunde der Wahrheit ist angebrochen, auch wenn viele Akteure noch herumeiern. Es trennt sich, was nicht zusammengehört.

Hier läuft ein gesetzmäßiger Prozess ab, der sich weder durch höhere Moral noch durch irgendein smart management beherrschen lässt (auch die Verschwörungstheoretiker haben jetzt mal Pause). Der Widerspruch zwischen Klientelbeziehung und Vertragsbeziehung wirkt hinter dem Rücken der Akteure und man kann modellhaft beschreiben, wie er sich Stufe um Stufe verschärft.

  • Auf der Stufe 1 steht alles im Zeichen der Nothilfe und die Schieflage fällt nicht besonders auf. Der Helfende ist großzügig und auch der Bedürftige trägt seinen Teil bei – durch sein wirkliches Leiden und durch die Improvisation, mit der er seinen Alltag bewältigt. Dazu kommt, dass es auch Beziehungen gibt, die auf  echter Gegenseitigkeit beruhen, zum Beispiel bei Firmenniederlassungen im Nehmerland oder auch bei Vertragsmigration („Gastarbeiter“). Die guten Absichten, in Zukunft alles besser zu machen, sind auf dieser Stufe nach real. Auch Dankbarkeit ist spürbar, teilweise auch aufrichtiges Interesse an den Ländern, die helfen. Die Anzeichen, dass manche Hilfe auch schon in die falschen Hände kommt und als Ersatz für eigene bürgerliche Aufbauanstrengungen dient, werden zunächst großzügig übersehen.

  • Auf der Stufe 2 tritt eine Verhärtung ein. Die Beziehungen von Leistungen und Gegenleistungen kommen nicht voran. Der Aufbau einer eigenen Wirtschaft und eines effizienten Staatswesens macht keine Fortschritte. Die Bedeutung der Generation der Arbeitsmigranten nimmt ab, der Bildungsfleiß der Folgegeneration ebenso. Zugleich nimmt die Wahrnehmung der Hilfe eine Wendung: Sie gilt nun nicht mehr als Zuwendung des Gebenden, sondern als Recht des Nehmenden. Nun werden Ansprüche gegenüber den Geberländern erhoben, oft verbunden mit dem Vorwurf, sie seien an der Lage der Empfängerländer schuld – die Kreditgeber seien eigentlich die Schuldner der Kreditnehmer. Krediterleichterungen (zum Beispiel im Euro-System) werden als Transferzahlungen verbucht. Am Ende dieser Phase tauchen dann in den Empfängerländern die „Syriza-Milieus“ auf und können an die Regierung gelangen.

  • Auf Stufe 3 tritt wiederum eine Wendung ein. Während die Beziehungen von Leistung und Gegenleistung immer bedeutungsloser werden, werden die Klientelansprüche nun aggressiv und gewalttätig. Man greift zu Betrug und Raub. Man zerstört aktiv die Vertragsbeziehung und jedes Vertrauen. Die Clans und Seilschaften gewinnen die Oberhand, in der Außenpolitik sucht man neue Geldquellen und Patrone. Es verschärfen sich die inneren und äußeren Konflikte. Das Nehmerland verliert seine Vertragsfähigkeit. Mehr noch: Es verliert auch seine Möglichkeiten, Hilfe zu bekommen. Je mehr die Klientel-Rolle ausgedehnt und verlängert wird, umso mehr zerstört sie sich selbst.

In der Griechenland-Affäre stehen wir jetzt fassungslos vor einem Abgrund von Vertragsbruch, Lüge und krimineller Energie; vor Regierungsmaßnahmen, die den Tatbestand der Insolvenzverschleppung erfüllen; vor Drohungen mit Enteignung und Migrantenschleusung; vor einer Neuauflegung alter Feindbilder in Europa; vor Parlamentssitzungen mit volksverhetzenden Reden; vor einer gnadenlosen Selbstbedienung, bei der diejenigen, die etwas haben, profitieren, während die anderen nur die Knappheit der Lebensmittel zu spüren bekommen. Das ist die Stufe 3.

Und doch ist es wichtig, dass die Dinge bis hierhin kommen. Erst durch dies böse Ende wird deutlich, dass der Klientelismus nichts Stabiles ist, sondern in Elend und Gewalt führt. Es gibt keinen ewigen Klientelismus mit einer milden Dauerabhängigkeit und einer behüteten Unmündigkeit. Auf der Stufe 2 kann sich kein Land einrichten, es gibt keine unendliche Geschichte des Immer-Weiter-So. So darf man sich über die gegenwärtige Krise durchaus freuen. Lasst Tsipras und Co. mit Schwung gegen die Wand fahren – am besten mit einem so lauten Krach, dass man sein Echo noch in Jahrzehnten hören kann.

Aber dieser Krach ist nur hilfreich, wenn klar ist, welche Trennung hier zu vollziehen ist. Es geht nicht – man kann es nicht oft genug wiederholen – um eine Trennung zwischen Griechenland und Europa. Es geht um die Trennung zwischen zwei Arten von Beziehung: zwischen einer Klientelbeziehung, die aus schlecht abgegrenzten Rettungsmaßnahmen hervorgegangen ist, und einer Vertragsbeziehung, bei der Leistungen und Gegenleistungen zu Reformen führen. Das unselige Konstrukt „Rettung gegen Reform“, das diesen Unterschied verwischt, und das von Anfang an eine gezielte Bearbeitung des Falls Griechenland verhindert hat, muss aufgelöst werden. Wir brauchen eine klare, rechtlich fixierte Unterscheidung beider Sachverhalte. Wir brauchen einen neuen institutionellen Ernst. 

 

 

(erschienen am 2.7.2015 auf der Internetplattform „Die Achse des Guten“)