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Die Silvesterereignisse haben gezeigt, dass man sich auf der Straße nicht mehr auf den Schutz der Polizei verlassen kann. Die folgende „politische Debatte“ zeigte dann, dass die Regierenden diesen Schutz auch gar nicht mehr wollen. 

Wo bleibt das Gewaltmonopol des Staates? 

20. Januar 2023

Die Bilanz der vergangenen Silvesternacht ist verheerend.  Die zahlreichen Berichte, die inzwischen vorliegen, zeigen eine erschreckende Herrschaft der Gewalt. Ihr Schauplatz war der Straßenraum. Diese Gewalt zielte direkt auf Leib und Leben von Bürgern, Feuerwehr, Rettungskräften. Sie suchte das Duell mit den Polizeikräften, sie lockte sie in Hinterhalte und zwang sie oft auch zum Rückzug. Diese Gewalt hatte ihre eigene Organisation: Sie erfolgte aus der Deckung von Zusammenrottungen heraus und zog sich bei Bedarf wieder in ihren Schutz zurück. In bestimmten Teilgebieten unserer Großstädte war sie in der Lage, eine Übermacht herzustellen. Die Polizeikräfte wirkten demgegenüber oft wehrlos. Sie waren nicht mehr Herr der Lage, sondern Getriebene. Über dem ganzseitigen Bericht auf Seite 3 der „Berliner Zeitung“ am 2.Januar stand ein höhnisches Zitat aus den Reihen der neuen Machthaber: „Die Polizei hat hier nichts mehr zu melden“ Das Gewaltmonopol des Staates war in der deutschen Hauptstadt schwer angeschlagen.    

Aber noch verheerender als diese Bilanz der Silvesternacht ist die Bilanz ihrer „politischen Aufarbeitung“. Wer gedacht hatte, dass man sich nun ernsthaft mit der Niederlage befasste, die das Gewaltmonopol des Staates auf der Straße erlitten hatte, hatte sich getäuscht. Wer von den Regierenden hören wollte, welche Maßnahmen nun ergriffen werden, damit diese offene Wunde im Lande möglichst schnell geschlossen wird, ging leer aus. Denn anstatt zu fragen, welche Gegengewalt nun aufgeboten werden muss, damit der Straßenfriede wiederhergestellt wird, wurde eine spekulative Debatte eröffnet. Alle möglichen Psychologen und Soziologen beugten sich über die Täter und gaben vor, auf diese Weise sogenannte „tieferen Ursachen“ der Gewalt zu finden. Und mit dieser Ursachenforschung war ein kolossales Versprechen verbunden: Eine weitere Ausbaustufe von „Sozialarbeit“ könnte etwas leisten, was die Polizei und überhaupt das staatliche Gewaltmonopol niemals erreichen würde. Damit könnte die Gewalt nachhaltig aus der Welt geschaffen werden – indem die „Sozialarbeit“ eine Art Selbstbefriedung der Gesellschaft herbeiführt. Das Gewaltmonopol des Staates wäre also im Grunde überflüssig.   

Die Erfüllung der Schutzaufgabe wird verschoben 

Dabei verschwieg man freilich ein kleines hässliches Problem dieser Strategie. Sie hilft erstmal auf der Straße nicht weiter. Sie tastet die willkürliche Gewalt nicht dort an, wo sie nun einmal da ist Sie schlägt sie nicht auf derselben Straße zurück, auf der sie ausgeübt wird. Die Psycho- und Sozial-Strategie läuft darauf hinaus, dass die Bürger es erstmal hinnehmen müssen, dass sie auf der Straße nicht mehr sicher sind. „Erstmal“ sollen die Bürger solche Straßen halt meiden. Genauso sollen sie in der Nacht die Durchquerung einer städtischen Parkanlage oder die Benutzung bestimmter U-Bahnhöfe vermeiden. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung gilt also „erstmal“ nur noch eingeschränkt. Während die Regierenden über „die Jugendgewalt“ debattieren und optimistische Perspektiven ausmalen, bleibt ihre eigentliche Botschaft an die Bürger ungesagt: „Erstmal“ müsst ihr damit leben, dass Eure Freiheiten nicht mehr geschützt werden. 

Wehret den Anfängen 

Die Gewalt lässt sich nicht aus der Welt schaffen, insbesondere nicht in den Großstädten dieser Welt. Hier leben Menschen auf engem Raum zusammen, ohne dass es ein näheres Einander-Kennen und ein miteinander Vertraut-Sein gäbe. Die „solidarische Großstadt“ ist ein Trugbild, das als politisches Ziel nicht taugt. Umgekehrt ist aber auch die wehrlose Großstadt, die zwangsläufig zu einer neuen Barbarei führt, ein Trugbild. Die Tendenz zu Verwahrlosung und Gewalt muss nicht die Oberhand gewinnen. Ihre Macht kann eingehegt werden – wenn ihr rechtzeitig handfest begegnet wird. Das ist ein Eckstein moderner Großstadt-Politik. Die heute in Politik und Massenmedien dominierende Rede von „Urbanität“, will davon nichts mehr wissen. Sie singt das hohe Lied auf „Vielfalt“ und „Offenheit“ – und fällt dann aus allen Wolken, wenn Verwahrlosung und Gewalt auf einmal die Macht ergreifen. Wird der Kurs geändert? Nein, auch diesmal dauerte es nur ein paar Tage, bis die alten Utopie-Experten wieder die Mikrophone besetzten und zum x-ten Mal „ganz neue Ansätze“ der Psycho- und Sozialbetreuung in Aussicht stellten. Unterdessen geht das willkürliche Wuchern der Gewalt weiter. 

Das Gewaltmonopol des Staates muss operativ sein 

Heute hat sich in vielen Großstädten, nicht nur in Deutschland, ein soziales Gemisch gebildet, das in der Lage ist, bestimmte Territorien in Beschlag zu nehmen und punktuell eine Herrschaft der Gewalt zu errichten. Was bringt es da, sich nun über einzelne sozialen Gruppen oder Individuen zu beugen, und rückblickend zu erforschen, was sie auf diesen Weg gebracht hat. Es genügt ein realistisches Menschenbild, das skeptisch gegenüber der „Besserung“ des Menschen ist, und das davon ausgeht, dass die Gewalt-Drohung ganz einfach da ist. Und dass sie dort geschlagen werden muss, wo sie zur Tat schreitet. Das waren ja die ersten, intuitiv richtigen Fragen nach den Silvester-Ereignissen: Wie kommt man aus der ohnmächtigen Lage heraus, in der sich Bürger, Feuerwehr, Rettungskräfte im Angesicht der Gewalt befanden? Wie wird insbesondere die Schwäche der Polizeikräfte auf der Straße überwunden? 

Da ist ja die Schlüsselsituation, ohne deren Bewältigung jegliche Einhegung der Gewalt eine Illusion bleibt. Zu Recht wird gefordert, dass es harte Strafen für die Täter geben muss, und dass die Bestrafung schnell erfolgen muss. Aber damit ist noch nicht die Straße befriedet. Wenn das staatliche Gewaltmonopol nicht nur eine Theorie sein soll, sondern ein praktisch wirksames Dispositiv, müssen die Täter schon im Moment der Tat den Gegenschlag des Staates spüren. Gewiss kann der Staat nicht gleichzeitig überall sein. Aber er muss dort, wo er eingreift, in der Lage sein, den Angriff der Gewalt zurückzuschlagen und die Täter unschädlich zu machen. Zu Recht wird gefordert, Polizeibeamte mit Kameras am Körper auszurüsten, um Straftaten und Täter zu identifizieren. Aber in der Silvesternacht wurden Polizei und Rettungskräfte aus der Menge heraus mit Distanzwaffen angegriffen – mit Steinen, Molotow-Cocktails, Pyrotechnik und wohl auch mit Schusswaffen. Mehrfach waren Polizeikräfte gezwungen, sich vor einem Mob zurückziehen, der offenbar auch vor Angriffen auf das Leben der Beamten nicht zurückscheute. Da helfen die Body-Cams wenig. 

Lösungsvorschläge, die um den heißen Brei herumtappen 

Man muss sich immer wieder die dramatischen Berichte und Bilder vor Augen führen, die unmittelbar im Anschluss an die Silvesternacht zirkulierten, zum Beispiel beim Berlin-Brandenburgischen Sender BBR. Aber nicht nur in der deutschen Hauptstadt fanden solche Auseinandersetzungen statt, für die die Bezeichnung „Kampf um die Macht“ nicht übertrieben ist. In einem Bericht der FAZ vom 2. Januar wird aus Bochum berichtet:

„In Bochum wurden Polizisten von rund 300 Personen eingekesselt und unter anderem mit illegalen `Polenböllern´ beworfen. Es grenze an ein Wunder, dass niemand zu Schaden gekommen sei, sagte ein Polizeisprechen. Die Polizisten hatten zuvor einem 26 Jahre alten Mann und einem 17 Jahre alten Jugendlichen eine Waffe abgenommen, mit der diese zuvor Feuerwerkskörper auf Passanten abgefeuert haben sollen. Danach wurden die Beamten von der Menge umzingelt.“ (FAZ, 2.1.2023)

Sicher gibt es polizeiintern eine Diskussion über die prekäre Situation der Polizei angesichts der wuchernden Straßengewalt. Sicher kommen dabei auch die Bewaffnung und der Waffengebrauch der Polizei zur Sprache. In der Öffentlichkeit ist das noch ein Tabu-Thema. Es wäre schon viel gewonnen, wenn das anders würde. Der Rechtsstaat kann nur bestehen, wenn er sich gegen jede Tendenz zur Ausbreitung willkürlicher Gewalt wendet. Dazu muss er selber zu einer Gewalt werden. Das Gewaltmonopol des Staates wird zwar hier und da in Worten beschworen. Aber es ist gegenwärtig offenbar nicht hinreichend operativ. Die konkreten Maßnahmen, die sich daraus ergeben, werden nicht benannt. Die Lösungsvorschläge tappen um den heißen Brei herum. 

Eine Politik ohne Staat? 

Ja, dieser Beitrag ist eine Forderung nach „mehr Staat“. Die Vorstellung, alle Probleme dieser Welt könnten durch die Selbsttätigkeit „der Gesellschaft“ (oder neudeutsch: „der Zivilgesellschaft“) gelöst werden, führt in die Irre. So sind wir heute auf dem Weg zu einer Politik ohne Staat, bei der die Politiker vor allem in den Medien unterwegs sind und alles Mögliche „fordern“ – so als hätten sie gar kein Regierungsamt und keine Verantwortung für Maßnahmen. Politik ist dann nur noch eine Art „Gesellschaftsbegleitung“, bei der es darauf ankommt, die jeweiligen Trends aufzugreifen und nirgendwo anzuecken. Eine solche Politik kennt keine festen Rechtsbestände mehr, und keine festen Sach- und Wissensbestände mehr. Sie regiert das Land ohne bestimmte fachliche Qualifikation. Sie kennt keine Bilanzpflicht für ihre Entscheidungen. Stattdessen erklärt sie, zu einer „ganz neuen“ Zukunft unterwegs zu sein – und der größte Schuldenberg wird im Handumdrehen zur „Zukunftsinvestition“. Eine solche Politik ohne Staat ist deshalb auch eine wuchernde Politik. So hat man auch die Silvester-Gewalt auf das weite Feld der „Jugendprobleme“ geleitet – als würde man dadurch der Einhegung der Gewalt auch nur einen Flohsprung näherkommen.

Das Beharren auf dem Gewaltmonopol des Staates ist demgegenüber eine ziemlich harte Lösung, und sie liegt in den Händen einer von der Gesellschaft „abgehobenen“ Institution, der Polizei. Aus der Sicht unserer Gesellschafts-Moderatoren ist das ein ziemlich unfreundlicher Vorschlag. Er hat allerdings einen Vorzug: Er grenzt das Gewalt-Problem sachlich ein und bearbeitet es direkt also solches. Hier geht es um eine Vorne-Verteidigung. Die Lösung „Gewaltmonopol“ versucht nicht, die Persönlichkeit der Beteiligten in ihrer ganzen Tiefe zu beeinflussen. Sie will nicht ihr ganzes Verhalten und Denken ändern. Diese Gewalt ist keine erziehende Gewalt. Auch keine ächtende Gewalt, die den Stab über ganze Menschen oder Menschengruppen bricht. Sie befasst sich nicht mit Biographien, mit Herkunft, Geschlecht, Alter. Sie gilt nur einem bestimmten, vorliegenden Tatbestand. Das Gewaltmonopol des Staates wird ohne Ansehen der Personen ausgeübt. Aber es wird wirklich und sichtbar ausgeübt. Es wird nicht durch einen Schein der Fürsorglichkeit verdeckt. Es ist nicht verhandelbar. Dies Monopol verlangt keine Bekenntnisse. Es tabuisiert nicht bestimmte Worte. Es bringt Andersdenkende nicht zum Schweigen. Es zerstört keine Denkmäler. Es löscht keine historischen Straßennamen.  

Indem das Monopol des Staates prosaischer und äußerlicher Gebrauch von der Gewalt macht, begrenzt es sie. Nur in Händen des Staates kann diese Verwandlung der Gewalt geschehen. Jede „Rückverteilung“ der Gewalt an die Gesellschaft ist ein Irrweg, der in den Krieg aller gegen alle führt.    

(erschienen am 26.1.2023 in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)