Die Grundsatzdebatte, die jetzt in CDU und CSU angemahnt wird, sollte die Bedeutung religiöser Motive in Politik und Wirtschaft wiederentdecken

Wozu noch eine christlich-demokratische Partei?

In der CDU gibt es ein wachsendes Unbehagen, Forderungen nach einer grundsätzlichen Richtungsdiskussion werden laut. Nach fast einem Jahrzehnt christdemokratisch geführter Regierungen sehen viele Mitglieder ihre Partei nicht mehr als Gestalterin sondern als Gefangene der Situation. Und es gibt viele Bürger im Lande, die sich fragen, wozu man eigentlich die CDU braucht. Dabei geht es nicht um die eine oder andere Einzelentscheidung, sondern um die argumentative Grundordnung einer christlich-demokratischen Partei. Es geht um die Bedeutung der religiösen Bezugnahme des politischen Handelns.

Eigentlich könnte man erwarten, dass die Idee, dass die Menschen sich in ihrem Tun vor Gott verantworten und bewähren müssen, dazu führt, dass eine christlich-demokratische Partei ein besonderer Ernst, eine besondere Bindung an das eigene Land und auch die Fähigkeit zu unpopulären Maßnahmen auszeichnet. Tatsächlich war das einmal der Markenkern von CDU und CSU: In ihren Anfängen hatte die Bundesrepublik Deutschland harte Prüfungen zu bestehen. Es gab wenig umzuverteilen. Für ausgiebige Formen der Bürgerbeteiligung war kein Platz. Zugleich gab es damals auch ein massives Andrängen von Ideologien, die gegen die Zumutungen der modernen Welt gerichtet waren. Die „Vergesellschaftung“ von Industrien genoss erhebliche Sympathien. Eine politische „Neutralisierung“ Deutschlands erschienen vielen wünschenswerter als die Westbindung. Dass dieser Zeitgeist nicht zum Zuge kam, ist das historische Verdienst von CDU und CSU. Damit wurde ein Vorbild gesetzt für das, was christlich-demokratische Parteien können.

Doch jetzt muss man fragen, ob die CDU/CSU in ihrer heutigen Verfassung diese Prüfung bestehen würde. Sie ist auf solche Grundkonflikte nicht vorbereitet. Sie hat sich auf das flexible „Umgehen“ mit Zeitströmungen verlegt. Besonders schwer tut sie sich dort, wo Marktwirtschaft und Demokratie restriktive, wehrhafte Maßnahmen erfordern und diese „negativen“ Seiten den Menschen erklärt werden müssen. Die neuere Christdemokratie möchte nicht Überbringerin schlechter Botschaften sein. Das führt zu unehrlichem Lavieren. Man tritt den Bürgern nicht mehr freimütig gegenüber. Dabei kann man nicht bestreiten, dass CDU und CSU beim Politikmanagement ein beträchtliches Maß an Geschick und Fleiß entwickeln. Doch wird nun immer deutlicher, dass es sich im Grunde um ein Ausweichen handelt. Das Management kann eine ordnungspolitische Festigkeit, die im richtigen Moment auch ein striktes „Nein“ durchzuhalten weiß, nicht ersetzen.

Diese Erkenntnis führt zurück zu der Frage, welchen Sinn der religiöse Bezug einer politischen Partei hat. Denn wo Festigkeit gegenüber dem – inzwischen globalen – Anwachsen sozialer Ansprüche nötig ist, kann eine wohlverstandene Verantwortung vor Gott eine wichtige Rolle spielen. Gewiss kann das Religiöse nicht direkt in Politik eingreifen, das wäre ein theokratisches Regime. Aber eine Bezugnahme auf die religiöse Dimension kann einer politischen Partei eine Statur geben, die über die Abhängigkeit von Wahlterminen hinausgeht. Nun könnte an dieser Stelle eingewendet werden, dass CDU und CSU ja durchaus von „wertorientierter Politik“ und „christlichem Menschenbild“ sprechen. Doch fällt hier eine merkwürdige Verkürzung auf. Die religiöse Dimension wird immer nur als eine frohe Botschaft verstanden. Gott wird nur als mildernde Kraft – als freundlicher Dienstleister gewissermaßen – eingeführt. So können sich nicht jene Motive bilden, die zur Bewältigung von Rückschlägen, Durststrecken und Umwegen befähigen. Die Neigung, bei jedem Problem sogleich ein „besseres Leben“ in Aussicht zu stellen, wird bei dieser Wendung des christlichen Glaubens sogar verstärkt. Der religiöse Bezug entfaltet keine korrigierende und erhebende Wirkung mehr. Er führt über das Soziale gar nicht hinaus. Er ist nur menschliche Selbstbestätigung. Deshalb erscheint es notwendig, noch einmal genauer über den Sinn des Religiösen in der modernen Politik und Wirtschaft nachzudenken.

Erinnern wir uns an die Ausgangslage, in der die Bundesrepublik gegründet wurde. Ihr Halt konnte nicht einfach im „Sozialen“ liegen – angesichts der Verstrickung der Gesellschaft mit dem NS-Regime. Es musste eine Kraft gefunden werden, die nicht in dem Mechanismus der Selbstermächtigung, auf dem die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts beruhten, gefangen war. Diese Kraft wurde die Christlich-Demokratische Union, und sie ist es auch wegen ihres religiösen Bezugs geworden. Hier konnten die Deutschen einen Anhaltspunkt finden, der aus dem Zirkel der Schuld herausführte. So bekam der Bezug zu Gott einen bestimmten Sinn. Es ging nicht um ein bequemes Gottvertrauen, sondern um ein aktives Handeln in Demut – ein Handeln, dass nicht durch große Gewinnversprechen motiviert werden musste. Dieser Geist zeigte sich dann wirklich in dem Ernst und der sachlichen Zurückhaltung der frühen Bundesrepublik, die noch so wohltuend frei von der späteren zivilgesellschaftlichen Selbstgewissheit war. Sicher, auch die Sozialdemokratie wäre mit gutem Recht eine Option für den Anfang gewesen, aber sie verfügte über keine größeren Motive als die sozialen. Wo es galt, existenzielle Fragen von Wirtschaft und Staat zu beantworten, richteten sich die Blicke auf eine Partei, die ihre Werte anders gewann, und die damit der Gesellschaft einen Angelpunkt außerhalb ihrer selbst verschaffte. So wurde die CDU die Primärpartei der Bundesrepublik.

Sie wurde es, weil sie religiöse Motive säkular übersetzte. Dies Übersetzen ist wichtig. Nicht auf eine bestimmte Frömmigkeit kam es an. Die CDU war keine Konfessionspartei. Sie verkörperte einen indirekteren Bezug zu Gott, bei dem es nicht um verbale Wertebeschwörung ging, sondern um Realwirtschaft und Realpolitik. Das ist das Paradox, das Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer und Ludwig Erhard bewältigt haben: Sie konnten ganz prosaische Entscheidungen für Wirtschaft und Staat – einschließlich profitabler Unternehmen und wehrhafter staatlicher Einheiten – mit einer glaubhaften religiösen Überzeugung verbinden. Mit dieser Übersetzungsleistung war die Christdemokratie die modernste Partei in Deutschland und half dem Land, Anschluss an die westliche Moderne zu finden.

Die Moderne beruht nicht auf einer Abschwächung sondern auf einer Steigerung des Religiösen. In seiner Schrift über die protestantische Ethik und den „Geist des Kapitalismus“ hat Max Weber, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, gezeigt, dass die Säkularität der Moderne nicht mit dem Tod Gottes verwechselt werden darf. Zwar bedeutete die „Entzauberung der Welt“ das Ende des magischen Glaubens an eine Beeinflussbarkeit Gottes durch kultische Verrichtungen und auch eine Schwächung des Glaubens an eine verlässliche Präsenz Gottes auf Erden. Aber damit war eine neue, viel größere religiöse Spannung aufgebaut. Der Calvinismus – für Weber das Paradebeispiel – gab den Menschen einen Glauben ohne Heilsgewissheit, der sie allein auf ihr Tun im Diesseits verwies, und der sie doch Gottes höherem Gericht unterwarf. Der ferne Gott der Moderne ist ein fordernder Gott. Da die Menschen keinen bestimmten Anhaltspunkt für das Geforderte haben, ist ihr einziger Anhaltspunkt außer ihnen selbst die ihnen vorgegebene Welt. Nur deren aktive Fortentwicklung können die Menschen zum (fiktiven) Maßstab einer gerechten Lebensführung machen. So wird die Welt aus religiösen Gründen zur säkularen Herausforderung, die auch tiefe Einschnitte im eigenen Leben motivieren kann – das ist die Pointe der „innerweltlichen Askese“. Die neue Größe Gottes verweist die Menschen also nicht in eine tiefere Innerlichkeit, sondern zieht sie hinaus in die Welt. Gerade darin besteht Webers Anti-Soziologie. Er sieht die Moderne als ständige Überschreitung des sozialen Binnenverhältnisses.

Dabei geht es – hier müssen wir über Max Weber hinausgehen – nicht nur um eine Errungenschaft des Protestantismus. Auch vom katholischen Glauben gibt es einen Weg in die Moderne. Auch auf diesem Weg ist ein fordernder Gott wirksam, der den Menschen eine erhöhte irdische Verantwortung überträgt. Die Renaissance, die Neuanfänge von Technik und Wissenschaft, das Zeitalter der Entdeckungen, die barocke Dynamisierung der Kunst – dies alles wurde als Zelebration der göttlichen Schöpfung verstanden. Nicht nur die Knappheit der vorgegebenen Welt, sondern auch ihre Fülle kann als Forderung Gottes an die Menschen verstanden werden. Das Grundmotiv des fordernden Gottes überragt den  Gegensatz katholisch-evangelisch. Es schließt auch den jüdischen Glauben mit ein. Es geht um eine Gesamttransformation der religiösen Botschaft, die den antiken und mittelalterlichen Rahmen sprengte.

Betrachtet man nun die geistige Situation unserer Zeit, so muss man feststellen, dass die Übersetzung zwischen Religion und Säkularität nicht mehr gelingt.  Der Verweis auf Gott, sofern es ihn in der öffentlichen Diskussion überhaupt gibt, wird dazu verwendet, um Einwände gegen die Erfordernisse von Wirtschaft und Staat zu erheben. Auch der Christdemokratie ist der fordernde Gott abhandengekommen. Das ist, hinter aller Zaghaftigkeit in der Einzelentscheidung, ihr tieferes Problem. Es herrscht eine neue geistige Enge, eine Monotonie des Sozialen und Psychologischen. In Politik und Wirtschaft wird „die Gesellschaft“ oder „der Mensch“ zum Maß aller Dinge erklärt. Die fordernde Distanz zwischen dem Göttlichen und dem Humanen ist eingeebnet worden, insbesondere dort, wo von der angeblichen „Gottesebenbildlichkeit“ des Menschen die Rede ist. Es macht dabei keinen Unterschied, ob hier das Kollektiv hervorgehoben wird oder das Individuum absolut gesetzt wird. In beiden Fällen kann die Frage, welchen Ansprüchen man gerecht werden muss, immer nur im Zirkelschluss beantwortet werden: die Gesellschaft muss dem „Sozialen“ gerecht werden, der Einzelmensch dem „Humanen“.

Es ist kein Zufall, dass ein Zentralbegriff der aktuellen großen Koalition das „gute Leben in Deutschland“ ist und die entsprechenden „Bedürfnisforscher“ es bis ins Kanzleramt geschafft haben. Als modern gilt, was sozialer Trend ist. Die Formel „ Die soziale Realität zur Kenntnis zu nehmen“ ist zum Mantra geworden. Alles, was bei Familien, bei Unternehmen oder bei unserem Staatswesen an stärkeren Bindungen im Spiel ist, kann nur noch als eine Art Restbestand früherer Zeiten wahrgenommen werden. Es gilt als irgendwie „konservativ“. Die Modernisierung ignoriert die Eckpfeiler der Moderne.

Man sollte CDU und CSU keinen unfairen Prozess machen. Sie sind nicht Urheber dieser Gesamtentwicklung. Die geistige Verengung ist heute in weiten Teilen der Milieus und Organisationen zu beobachten, die der Christdemokratie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik verlässliche Stützen boten – insbesondere in den christlichen Kirchen. Auch dort ist es das Gebot der Stunde, den „neuen sozialen Realitäten“ gerecht zu werden. Auch dort scheint die Soziologie über die Theologie gesiegt zu haben. Allzu oft ist von Gott gar nicht mehr die Rede, alles dreht sich um das Lebensglück und -unglück der Menschen – als wäre die Kirche ein Serviceunternehmen wie jedes andere – bis zu dem Punkt, dass in mancher evangelischen Postille inzwischen die Höherwertigkeit des Kindergartens gegenüber der Familie gepredigt wird. Wollen also die Kirchen auch nur ein Subsystem des Gesellschaftlichen sein? Der bemühte Multikulti-Betrieb der Kirchentage erweckt diesen Eindruck.

Aber es ist vielleicht noch ein tieferes Problem im Spiel. Die Übersetzung von Religion in Politik stellt neue Anforderungen, weil die heutige Lage Deutschlands sich in einem wichtigen Punkt von den Anfangsjahren der Bundesrepublik unterscheidet. Damals lag Deutschland am Boden und musste die Kraft finden, sich überhaupt von neuem anzustrengen. Heute hat unser Land ein beträchtliches Potential an Industrie, Wissen, Wohlstand und auch Schönheit aufgebaut. Es hat eine beträchtliche „Höhe“ erreicht, es ragt hervor. Nun muss es Motive gewinnen, auf dieser Höhe weiterzuarbeiten und diese Höhe noch zu steigern. Die Übersetzungsaufgabe zwischen dem Religiösen und dem Politischen (auch dem Wirtschaftlichen) besteht nun darin, „das Starke zu stärken“. Sind wir in der Lage, diesen Willen zur Stärke zu entwickeln? Genauer: Sind wir in der Lage, die Weiterentwicklung unserer Stärke nicht nur als Selbstermächtigung zu verstehen, sondern als legitim vor Gott? Sogar als Pflicht vor Gott? Der heikle Punkt ist klar: Ist dies Hervorragen unseres Landes nicht rücksichtslos gegenüber denjenigen, die dem nicht folgen können? Kann aus dem Glauben an einen fordernden Gott in so einem Land nicht nur das absolute Gebot abgeleitet werden, nun die Schwächeren zu fördern? Dürfen wir also weiter an unserer „Höhe“ arbeiten? Dürfen ertragreiche Unternehmen noch weiter ihre Produktivität steigern – und dürfen gute Schüler sich im Unterricht auf ihre eigene Verbesserung konzentrieren? Es ist klar, dass diese Grundfrage in allen politischen und wirtschaftlichen Problemen der Zeit mitschwingt – nun bringt es die Zuwanderung und die geistig-moralische Schwierigkeit, ihr gegenüber die Grenzen des Landes zu wahren, auf den Punkt.

Es gibt heute also eine andere Lage als in jenen Nachkriegsjahren, in denen die CDU/CDU zur Primärpartei der Bundesrepublik wurde. Die Beziehung von Religion und Politik kann deshalb nicht einfach im Rückgriff auf die 50er Jahre wiedergewonnen werden. Sie steht vor neuen Anforderungen, es geht nun um ein Höhenproblem. Dies Problem besteht für viele entwickelte Länder der Moderne. In diesen Ländern kann sich der Citoyen die Forderung Gottes an die Menschen nicht als „Notrettung“ zurechtlegen, er muss sie als Pflicht zur Höherentwicklung und zum Herausragen verstehen. Aber diese Übersetzung zwischen Religion und Politik ist nicht abwegig, sondern – wenn wir uns in einer höheren Bewährung sehen – durchaus konsequent.

Eine neue Debatte über das christliche Motiv in der Politik wird sicher kontrovers sein. Gerade darin wird sich zeigen, dass es nicht um Leerformeln geht, sondern hier echte Richtungs-Alternativen bestehen. Für diese Debatte ist die CDU/CSU auch durchaus der richtige Ort. Die Übersetzung zwischen Geist und Macht ist die ureigene Sache der Parteien. Sie ist ihre Existenzgrundlage, sie sind diese Übersetzung und sie leben davon. Gegenwärtig ist eine geistige Verarmung der Christdemokratie in Deutschland durchaus spürbar. Diese steht in direkte Beziehung zur realpolitischen Unfähigkeit, sich mit den überall wuchernden Sozialansprüchen auseinanderzusetzen. Es ist ein bedeutsamer Unterschied zu den Kanzlerschaften Konrad Adenauers und Helmut Kohls, dass die Kanzlerin Angela Merkel keine Konfrontation mit einer sozialen Bewegung ausgetragen hat, sondern lieber auf Zeit gespielt hat. So stehen wir heute vor einer Reihe unendlicher Baustellen und vor einer geistig entkernten Christdemokratie. Am Ende dieser ganzen Merkel-Dekade weiß niemand recht zu sagen, was eine christdemokratische Prägung Deutschlands ausmacht. Ja, man sollte es offen zugeben: Unser Land hat gegenwärtig seine Primärpartei verloren. Der religiöse Bezug ist dabei sicher nicht alles. Aber die CDU wird ihren Markenkern als Partei nur wiedergewinnen, wenn sie von neuem zeigen kann, dass dieser Bezug das Land weiterbringen kann als andere Bezüge. 

 

 

(erschienen am 24.August auf der Internet-Plattform des „Deutschen Arbeitgeber Verbandes“; der Text baut auf meinen Essay „Der fordernde Gott“ auf, der am 30.1.2005 in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ publiziert wurde, Download s. „Archiv“)