Mit der „Backstop“-Klausel für die Nordirland-Grenze, die Brüssel zur Bedingung für einen Brexit-Vertrag macht, tritt die EU offen als gesamteuropäischer Vormund auf. (Die EU und der Brexit – Teil II)
Zurück zum Europa des „Reichsfriedens“?
3. Mai 2019
Dass die Europäische Union alles versucht, um Großbritannien den Austritt wirtschaftlich ruinös zu machen, ist bereits von kritischen Beobachtern der „Brexit-Krise“ gezeigt worden. In wirtschaftlicher Hinsicht verrät die Brüsseler Verhandlungsführung etwas über die Eigenart des Gebildes „EU“: Es funktioniert wie ein Kartell. Doch hat die Europäische Union in ihrer Verhandlungsführung noch eine andere, sehr politische Seite gezeigt. Sie hat in dem Brexit-Vertragsentwurf eine politische Klausel verankert (die sogenannte „Backstop“-Klausel), durch die die britisch-irische Grenze in ihrem nordirischen Abschnitt unter ein Sonderrecht gestellt wird. Grenzkontrollen, wie sie zwischen unabhängigen Staaten normal sind, sollen hier ausgeschlossen sein. Nur dadurch, so heißt es, sei „der Frieden in Nordirland“ zu wahren – andernfalls würden Terror und Bürgerkrieg drohen. Die EU macht einen vertraglich geordneten Brexit davon abhängig, dass die Briten dieser Klausel zustimmen.
Jochen Buchsteiner, der FAZ-Korrespondent in London, hat am 23.4.2019 in einem Artikel unter dem Titel „Auf den Knien“ darauf aufmerksam gemacht, dass ohne diese Klausel bereits Anfang dieses Jahres ein geordneter Austritt der Briten aus der EU erreichbar gewesen wäre: „Wäre es wirklich das Ziel der EU gewesen, die Briten geordnet austreten zu lassen, hätte sie das Anfang des Jahres erreichen können…Wäre Brüssel der Forderung des Unterhauses – genauer: der Regierungsmehrheit – nach einer Änderung des Backstopps nachgekommen, wäre der `Deal´ wohl durchs Parlament gekommen. Das Argument, dass es keine Alternativen zu einer harten Grenze in Irland geben kann, sollte Britannien aus dem Binnenmarkt und der Zollunion austreten, ist in seinem Dogmatismus nicht nachvollziehbar.“
Über zwei Konzeptionen des Friedens in Europa
Es muss also bei der Europäischen Union tiefere Gründe geben, die sie so sehr auf dieser Klausel beharren lassen. Man muss sich einmal in Ruhe klarmachen, welcher Machtanspruch in der Backstopp-Klausel enthalten ist. Der „Dogmatismus“, von dem Buchsteiner schreibt, ist nicht irgendeine Verbohrtheit in ein an sich unbedeutendes Detail. Es geht um zwei sehr gegensätzliche Antworten auf die Frage, wie der Friede in Europa gewahrt werden kann: Die freiheitliche Antwort, die mit der neuzeitlichen Errungenschaft der Selbstbestimmung der (Staats-)Völker verbunden ist, besagt, dass der Friede nur von innen – aus dem gegenseitigen Verhältnis – gewonnen werden kann. Nur durch einen solches freies Eingehen des Friedens gehört er den Völkern und kann als ihre Würde angesehen werden. Nur so ist er haltbar. Die andere Antwort traut den Völkern diese Fähigkeit zum Frieden von innen nicht zu, und sagt deshalb: Der Friede kann nur von außen – durch eine Autorität, die über den Beteiligten steht – hergestellt werden. Hier muss der Frieden also von höherer Hand auferlegt werden. Er muss auch von dieser Hand ständig überwacht werden und sich ein Interventionsrecht auf Dauer vorbehalten. Und dies Friedensregime kann von den Völkern nicht als Mehrung ihrer Würde angesehen werden, sondern er ist wie ein Dorn in ihrem Fleisch, der sie ständig daran erinnert, dass sie selber nicht friedensfähig sind. Die Ressource der Selbstbestimmung wird hier verschlossen.
Wenn die EU das Verhältnis zwischen Großbritannien und Irland unter die Backstopp-Klausel stellt, beschreitet sie diesen zweiten Weg. Sie beansprucht die Rolle eines höheren Friedensstifters und -wächters. Die Backstopp-Klausel mag als Detail erscheinen, aber es ist ein Präzedenzfall, der alle möglichen Konfliktherde in Europa betrifft. Was in diesem Frühjahr 2019 aus Anlass des Brexit geschieht, ist eine Rückwendung von historischen Ausmaßen, denn es knüpft wieder an die Logik des „Reichsfriedens“ an, die das vormoderne Europa dominierte.
Die EU schwingt sich zur Schutzmacht Nordirlands auf
Brüssel behauptet, die Grenze zwischen Irland und Großbritannien in ihrem nordirischen Abschnitt sei keine normale Grenze, wie sie zwischen unabhängigen Staaten besteht. Sie eine Grenze, die auch nach einem Austritt Großbritanniens unter einer höheren Aufsicht steht und auch gegen den Willen des United Kingdom kontrollfrei gehalten werden kann. Die EU erhebt sich hier zur Schutzmacht. Sie behauptet, dass nur dadurch, dass die Nordirland-Grenze eine EU-Binnengrenze war, sei überhaupt das nordirische Friedensabkommen möglich gewesen. Brüssel sei der wahre Friedensstifter im Konflikt mit der IRA und ohne Brüssel würde Mord und Totschlag ausbrechen. Der Brexit bringe deshalb eine neue Kriegsgefahr, und der Frieden sei nur dadurch zu bewahren, dass an dieser Stelle der Brexit nicht gilt. Mit anderen Worten: Die Backstop-Klausel bedeutet in der Konsequenz, dass Nordirland wie ein Protektorat der EU behandelt wird. Dazu wird der Frieden beschworen und mit der Kriegsgefahr gedroht, wie das bei Protektoraten oft geschieht.
Dabei ist die Zugehörigkeit eines Teilgebiets der irischen Insel zum Staat Großbritannien und dessen Koexistenz mit dem Staat Irland durchaus logisch – angesichts der unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bindungen. Sie ist dauerhaft friedensfähig, und zwar gerade dadurch, dass diese Bindungen gegenseitig anerkannt werden, und eine mögliche Aufhebung der normalen staatlichen Grenzkontrollen immer der Zustimmung beider Seiten bedürfen. Doch wenn eine Grenzregelung einseitig und von oben auferlegt wird, dann wäre ein solches „peace building“ friedensgefährdend. Die EU-Intervention in der nordirischen Grenzfrage ruft das Gespenst neuer Gewalt geradezu herbei.
Ein Angriff auf die territoriale Integrität des United Kingdom
Es ist bezeichnend, dass die unterschiedlichen Optionen der Grenz- und Friedenspolitik in den EU-Statements zu Nordirland-Frage gar nicht mehr erwähnt werden und erst recht nicht offen erörtert werden. Jede andere Lösung wird einfach vom Tisch gewischt. Die „Welt am Sonntag“ berichtete am 10. März über folgendes Statement des (französischen) EU-Chefunterhändlers Michel Barnier. London, so erklärte Barnier, habe „alte Luftschlösser“ als Vorschläge vorgelegt. Ein Luftschloss ist für ihn jede Forderung Großbritanniens, den Backstop zeitlich zu begrenzen oder einseitig kündbar zu machen. Und dann hat Monsieur Barnier die Katze aus dem Sack gelassen und einen Vorschlag gemacht, der auf eine territoriale Neuordnung zwischen Großbritannien und Irland hinausläuft – unter der Schirmherrschaft der EU. Die Briten, so Barnier, könnten ja aus der EU-Zollunion aussteigen, während Nordirland in der Zollunion verbleiben würde. Das würde eine neue Grenze zwischen Nordirland und der britischen Hauptinsel installieren und damit indirekt einem Anschluss Nordirlands an Irland den Weg bereiten. Der Franzose betreibt also, im Mäntelchen des EU-Chefunterhändlers, die Auflösung des britischen United Kingdom. Da wüsste man doch gerne, von wem Barnier autorisiert wurde, einen solchen Vorschlag zu machen. War es die EU-Kommission des Herrn Juncker? Oder war es gar irgendeine Sitzung des Europäischen Rats der Regierungschefs? Hat die deutsche Bundeskanzlerin dem zugestimmt?
Natürlich muss man sich auch fragen, was Theresa May bewogen hat, das Backstopp-Ansinnen nicht schon in den Verhandlungen strikt zurückzuweisen. Ist sie zu stark auf den Abschluss eines „Deals“ fixiert – um jeden Preis? Ist nicht längst deutlich geworden, dass die EU in dieser Affäre gar kein konstruktives Interesse verfolgt, sondern einen Ermüdungskrieg führt? Auch die Verlängerung der Brexit-Frist ist ja keineswegs mit der Zusage der EU-Seite verbunden, die eigene Position in der nordirischen Grenzfrage zu überprüfen. Damit wird immer deutlicher, dass das Hauptziel des Referendums – die Wiederherstellung der britischen Souveränität über das eigene Land – wohl ohne Vertrag durchgesetzt werden muss. Das ist nicht die beste Variante, aber es liegt an der EU und nicht an der britischen Regierung, dass ein Austrittsabkommen, das den Namen verdient, mit der Europäischen Union nicht zu machen ist.
Und bald auch ein EU-Protektorat „Katalonien“ gegen Spanien?
Der Backstop stellt auch einen Präzedenzfall für ganz Europa dar. Er greift in die staatliche Einheit, die Grenzhoheit und die territoriale Integrität eines Staates ein. Diese Brüsseler Anmaßung sollte nicht nur die Briten alarmieren, sondern sie sollte die nationalen Verfassungsstaaten und ihre Bürger in ganz Europa beunruhigen. Und zwar in einem ganz konkreten Sinn: Was die EU heute in Bezug auf die nordirische Grenze zu erreichen versucht, könnte sie morgen auf alle Regionen in Europa ausdehnen, in denen es separatistische Bewegungen gibt. Also zum Beispiel Katalonien oder das Baskenland in Spanien. Oder Südtirol in Italien. Oder Flandern in Belgien. Und was ist eigentlich mit Korsika, Monsieur Barnier? An allen diesen Punkten könnte die EU intervenieren – im Namen einer „europäischen Befriedung“, zu der die Nationalstaaten, denen diese Regionen angehören, angeblich nicht in der Lage sind.
Eine Intervention der Schutzmacht EU wurde ja tatsächlich vor gar nicht so langer Zeit von den katalanischen Separatisten gefordert. Einige dieser Leute, die wegen Bruch der spanischen Verfassung mit Haftbefehl gesucht wurden, haben im EU-Raum auch schon Richter gefunden, die Zweifel an der Anklage durch die spanischen Verfassungsjustiz äußerten und verhinderten, dass sie dorthin ausgeliefert wurden.
Der Brexit und die zukünftige Ordnung in Europa
In der scheinbar so unbedeutenden Backstopp-Klausel sind Ansprüche angelegt, die auf eine institutionelle Neuordnung in Europa hinauslaufen. Eine Neuordnung, in der sich die EU zum Protektor der Regionen aufschwingt und auf diese Weise – gleichsam durch die Hintertür – zu einem europäischen Überstaat wird. Diese Politik tritt als „Friedenspolitik für das 21. Jahrhundert“ auf, aber sie ist ein Wiedergänger des vormodernen „Reichsfriedens“.
Man muss sich die historische Dimension dessen klarmachen, was in diesem Frühjahr 2019 geschieht. Die Berufung auf das Schutzbedürfnis von Regionen spielte schon oft eine wichtige Rolle, wenn die alten universaleuropäischen Herrschaftsansprüche ihre Macht gegenüber den begrenzteren neuen Nationalstaaten behaupten wollten. Die Bildung von demokratischen Verfassungsstaaten geschah ja in einem Prozess der Loslösung aus den universaleuropäischen Herrschaftsverbänden. Diese Reichsverbände versuchten, den Loslösungsprozess zu konterkarieren, indem sie sich auf ihre – autoritär von außen gewährte – Schutzleistung beriefen. Die Schutz- und Friedensfähigkeit eines pluralistischen Nebeneinanders, das von souveränen Nationalstaaten von innen getragen wird, war und ist demgegenüber der große Prüfstein für die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Neuzeit. Das ist der positive Kern der „nationalen Frage“ und des „Nationalismus“, der in diesen Tagen so verteufelt wird. Doch diese historische Linie ist keineswegs historisch erledigt. Sie zieht sich bis in unsere Gegenwart. Und sie zeigt sich geradezu exemplarisch in der irisch-britischen Grenzfrage. Was Briten und Iren gut bilateral lösen können, wird durch die Intervention der EU mit der Backstopp-Klausel entwertet. So wird deutlich, dass die Alternative zum Frieden „aus innerer Einsicht“ nur eine Rückkehr zu einem „auferlegten“ Frieden ist.
Und wenn der „Nationalismus“ doch recht hätte?
Die Beschäftigung mit den britischen Dingen kann sehr hilfreich sein, die Vorstellungen und Vorurteile, die wir heutigen Deutschen mit dem „Nationalismus“ verbinden, geradezurücken. Da ich dazu aber sicher nicht der Bestplazierte bin, sollen am Ende dieses Beitrags drei Passagen aus dem Buch „Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie“ stehen, das der oben schon zitierte Jochen Buchsteiner 2018 publiziert hat:
„Die Briten fordern die Ordnung Europas nicht zum ersten Mal heraus. Als König Heinrich VIII. vor einem halben Jahrtausend entschied, dass er `niemanden außer Gott´ über sich respektieren wolle, brach er nicht nur mit dem Papst in Rom, sondern mit dem Konsens, den Europa bis dahin teilte. Er stellte das Königreich außerhalb des kontinentalen `Mainstreams´.“
„Die Wahrnehmung Britanniens leidet unter einem Mangel an Neugier und einer zweckgebundenen Denkblockade. Deshalb bleiben zwei Fragen ungestellt: Lassen sich die tieferen Motive des Brexit vielleicht aus der Geschichte des Landes heraus erklären, aus dem historischen `Anderssein´ der Briten, das vierzig Jahre lang von Brüssel zumindest in Schach gehalten wurde? Und zweitens: Haben die Briten das Wesen der Europäischen Union womöglich gar nicht missverstanden, sondern vielmehr durchdrungen, und zwar auf eine Weise, die der maritimen Nation gar keine Wahl ließ, als ein weiteres Mal Anker zu lichten?“
„Es mag widersprüchlich klingen, aber der Aufbau eines flexibleren und effektiveren `Europas´ läuft über den Abbau gegenwärtiger Strukturen. Als erster Schritt dazu müsste die politische Vielfalt der Nationalstaaten als Wesensmerkmal Europas begriffen werden und nicht als Schwäche oder gar Bedrohung. Das Zusammenzwingen von Interessen, die nicht deckungsgleich sind, vergeudet Energien, ohne dass es Europa stärker macht. Gelingt es der Europäischen Union, sich von der Idee der Vereinheitlichung zu lösen, den Ballast des Zentralismus abzuwerfen, den Völkern wieder ihren eigenen Willen zu lassen und auf die Zusammenarbeit der Hauptstädte zu vertrauen, könnte dem `europäischen Projekt´ neuer Charme eingehaucht werden.“
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(erschienen bei „Tichys Einblick“ am 12.4. und in der obigen, erweiterten Form bei „Die Achse des Guten“ am 8.5.2019)