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Die Osterspaziergänge war einmal ein Freiheitsritual, bei dem die Menschen sich nicht durch die Erfahrung von Not und schwersten Krankheiten davon abhalten ließen, den Sieg des Frühlings über den Winter zu feiern.

Der Osterspaziergang

4. April 2021

Auch zum Osterfest des Jahres 2021 sind viele Menschen einem Brauch gefolgt, der alles andere als trivial oder abgenutzt ist: der Osterspaziergang. Er führt die Menschen ins Freie der Natur. Er ist ein Aufbruch aus der Dunkelheit des Winters, ein Streben zum Sonnenlicht, ein vitales Treiben, das die Säfte und Kräfte der Natur – auch der eigenen Natur – zelebriert. Im „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe findet sich der berühmte Monolog „Vor dem Tor“. Dort lässt sich der Held, der kurz vorher noch aus dem Leben scheiden wollte, von dem gemeinschaftlichen und durchaus wilden Ausflug des Volkes mitreißen. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche…“ steht am Anfang. Und weiter dann:
„Sieh nur, sieh! Wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluss in Breit und Länge
So manchen lustigen Nachen bewegt.“

Goethe sieht hier nicht vorrangig ein Fest der Auferstehung von Gottes Sohn, sondern einen Akt innerweltlicher Auferstehung:
„Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge.“

Und so wird der Osterspaziergang zu einer volkstümlichen Manifestation bürgerlicher Freiheiten, an der sich gerade jene beteiligen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens geboren sind:
„Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ich´s sein!“

An dieser Stelle lohnt es sich, einen Moment innenzuhalten und sich klarzumachen, in was für einer Welt dies handfest-sinnliche Getümmel der Freiheit im frühen 19. Jahrhundert stattfand. Es war eine Zeit, in der die Menschen unter der ständigen Drohung vielfacher Nöte und schwerster Krankheiten leben mussten: Cholera, Malaria, Diphtherie, Tetanus, Tuberkulose, Lungenentzündung, Kindbettfieber, Krebserkrankungen… Die Sterblichkeit bei Kindern und Frauen war hoch, die Lebenserwartung im Durchschnitt der Gesellschaft sehr kurz. Während also die Menschen sich ihrem vitalen Ostertreiben widmeten, wurde direkt nebenan gestorben. Fast jeder hatte Verwandte, Freunde oder Nachbarn, die zur gleichen Zeit schwer litten. Und damit hatten sie selber auch ihr eigenes Schicksal deutlich vor Augen. Wie dumm wäre die Annahme, diese Menschen hätten das Leid nicht gesehen.
Nein, hier wurde das Leben sehenden Auges trotz allen Leids gefeiert. Und dies große „Trotzdem“ ist vielleicht das Wichtigste, was die menschliche Würde auszeichnen kann. Es ist die Würde von sterblichen Wesen, die als weiterblickende Wesen mit dem Wissen um ihr Ende leben müssen. Sie müssen die Größe haben, trotz dieser Vergänglichkeit ihr Leben zu bejahen.

Hält unser Freiheitswille heute noch eine Epidemie aus?

Genau an diesem Punkt offenbart das Osterfest des Jahres 2021 eine fundamentale Schwäche. Es zeigt sich, wo der tiefere Kern der Corona-Krise liegt: Wir haben eine mittelschwere Pandemie, die – gemessen an der Goethe-Zeit – nur einen Bruchteil dessen mit sich bringt, was damals Gesundheit und Leben der Menschen bedrohte. Aber Staat und große Teile der Gesellschaft bringen nicht mehr die Kraft auf, das Leben zu bejahen, und das jetzt im Frühjahr ganz offen und ausgelassen zu tun. Man hat die Tore weitgehend verschlossen, das „Getümmel“ verboten. Man hat das Volk in Schutzhaft genommen. Und das nur, weil man eine bestimmte Höhe der „Infektionszahlen“ nicht aushält. Es ist ja nicht eine historisch völlig neue Gefahr für Leib und Leben, die uns heute von der österlichen Freiheitsmanifestation im Sinne Goethes Abstand nehmen lässt. Unser Freiheitswille hält überhaupt keine Epidemie mehr aus. Oder genauer: Es wird uns eingeredet, dass er sie nicht mehr aushalten kann oder darf.

Wie sich der Begriff der Menschenwürde gewandelt hat

Das aber hat mit einem fundamentalen Wandel der herrschenden Vorstellung von Menschenwürde zu tun. Die (bürgerliche) Menschenwürde, wie sie Goethe verstand, war ja nicht deshalb zu einer so großen und handfesten Freiheit in der Lage, weil die Menschen keine Ahnung von den Gefahren für Leib und Leben gehabt hätten. Nein, die Freiheit wurde offenen Auges im Angesicht großer Gefahren ausgeübt – und mit Begeisterung. Es war eine Menschenwürde des „trotzdem“.
Doch wie sehr hat sich diese Vorstellung von Menschenwürde inzwischen gewandelt! Nun versteht man darunter eine Art Versorgungsgut. Würde ist, wenn das Dasein schmerz- und bedrohungsfrei ist. Es geht also um eine Art Komfort-Würde – wodurch alle Macht denjenigen übergeben wird, die behaupten, sie könnten eine solche Komfort-Würde herstellen. Diese Würde-Hersteller haben jetzt einen Automatismus des Freiheitsentzugs erfunden – den Lockdown. Bei jedem Anstieg der Infektionszahlen wird zur Stilllegung der gesellschaftlichen Aktivitäten geschritten.
Das ist durchaus logisch: Wenn einem Land die Menschwürde des „trotzdem“ abhandenkommt, steht jede wirkliche Freiheit fortan unter Vorbehalt. Erlaubt ist nur noch das „Glauben“ und das „Hoffen“, und das „Zusammenhalten“ – im stillen Kämmerlein. Dann aber ist das Getümmel der Osterspaziergänge für immer verloren.
Es sei denn, wir erobern uns aufs Neue das Lebensgefühl des aktiven „Trotzdem“.

(erschienen in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“ und in der Printausgabe von „Tichys Einblick“)