Der Ernst der Lage, den Deutschland jetzt zu spüren bekommt, geht auf rücksichtslose Eingriffe in die Produktivität der Betriebe und die Tragfähigkeit der Infrastrukturen zurück. Aber der dominierende Diskurs der Gegenwart ist gar nicht in der Lage, diese Realität zu begreifen.
Die Worte und die Dinge
10. Oktober 2022
Deutschland erlebt eine Teuerungswelle, wie sie bisher nur aus Kriegs- und Nachkriegszeiten bekannt war. Aber in der medial dominierenden Darstellung und Erörterung dieser bedrohlichen Entwicklung herrscht eine merkwürdige Oberflächlichkeit. Man spricht von „Inflation“ und versteht darunter einen Effekt der „Geldpolitik“, der durch eine Kurskorrektur der Zentralbanken zu beheben sei. Man dringt also gar nicht zu der realwirtschaftlichen Verteuerung der Herstellungskosten vor. Auch nicht zu der realstaatlichen Verschlechterung der Tragleistungen der Infrastruktur. Diese Kostenerhöhungen gehen auf materielle Eingriffe zurück: Auflagen, Zusatzabgaben, Stilllegungen. Aber diese ganz Sphäre, die Sphäre der materiellen Bedingungen und Arbeitsprozesse, kommt im laufenden Gebrauch des Wortes „Inflation“ eigentlich gar nicht vor. Die Sphäre der Dinge wird krass unterschätzt und, mehr noch, sie wird von vornherein ausgeblendet. Und dabei spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Da die Worte nicht orter-zwangsläufig mit den Dingen identisch sind, können sie sich von den Dingen entfernen. Und sie können die Sprechenden und Schreibenden daran hindern, die Wirkungszusammenhänge der Dinge wahrzunehmen. Sie können auch dazu führen, dass die materiellen Eingriffe, die die Teuerung bewirken, verharmlost werden. Es lohnt sich daher, die Sprachwendungen näher zu betrachten, in denen uns die Teuerungswelle präsentiert wird. Und in denen überhaupt der ganze Krisenkomplex, der sich in diesem Herbst 2022 vor uns auftürmt, verpackt wird.
„Herausforderungen“ und „ehrgeizigen Ziele“
Mit solchen Wendungen, die wir aus der „Klima-Krise“, der „Ukraine-Krise“ oder auch der „Migrations-Krise“ kennen, werden die Vorgänge und Entscheidungen gleichsam in eine höhere Sphäre verlagert. Die materiellen Verschiebungen, die mit der Politik der großen, globalen „Rettungen“ verbunden sind, werden in ein vornehmes moralisches Kleid gesteckt. Der tiefe Einschnitt in den erreichten Stand der modernen Zivilisation, den die Stilllegung jeglicher Energiegewinnung aus fossilen Energieträgern („Klimaneutralität“ genannt) bedeutet, wird dann gar nicht mehr näher betrachtet. Und auch die nachhaltigen Folgen, die die Politik der prinzipiellen Ächtung und Isolation Russlands hat, werden gar nicht ernstgenommen.
Aber bleiben wir bei „unserem Klimaziel“. Das Mittel der CO2-Emissions-Bepreisung ist schon länger in der Diskussion. Im Laufe des Jahres 2021 wurde begonnen, diese Bepreisung, die es für Kraftwerke und bestimmte Industrieanlagen schon gab, stark auszudehnen. Dieser „zweite Preis“ sollte nun, schrittweise, für Gebäude und Straßenverkehr erhoben werden. Das ist keine „Geldpolitik“, sondern eine realwirtschaftliche Kostenerhöhung. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat sich, wie die meisten größeren Blätter in Deutschland, für diese Kostenerhöhung positioniert. So konnte man vor einem Jahr im Wirtschaftsteil in einem Kommentar (Hendrik Kafsack, „Sozialer Emissionshandel“, FAZ 26.8.2021) folgendes lesen:
„Der zu Jahresbeginn eingeführte CO2-Preis für Benzin, Diesel und Heizöl hat in Deutschland zu einer heftigen Debatte über die sozialen Folgen geführt. Nun droht der von der Europäischen Kommission im Juli vorgeschlagene Emissionshandel für Gebäude und Straßenverkehr an der gleichen Frage zu scheitern. Doch führt an der Ausweitung des Emissionshandels kein Weg vorbei.“
Herr Kafsack hält die (politische) Energie-Verteuerung also für ein Gebot, an dem „kein Weg vorbei“ führt. Wie begründet er eine so absolute Aussage? Hier findet sich im Text eine erstaunlich kurz-angebundene Wendung:
„Wenn der Ausstoß von Gebäuden und Verkehr nicht mit einem Preis versehen wird, kann die EU ihre ehrgeizigen Klimaziele nüchtern betrachtet kaum erreichen.“
Die Wendung „ehrgeizige Klimaziele nüchtern betrachtet“ ist wahrlich eine Perle der Wort-Verdrehungs-Kunst. Denn es werden ja nicht die Klimaziele nüchtern betrachtet und mit ihren Opfern abgewogen, sondern sie bleiben als unbedingte Ziele unantastbar. Die „nüchterne Betrachtung“ beschränkt sich ganz und gar auf die Erfüllung des Klimaziels. Wo „unser Klimaziel“ regiert, gibt es kein Abwägen mehr.
Ein „Markt“, der von politischen Vorgaben beherrscht wird
Beim Ausdruck „Emissionshandel“ kann der Eindruck entstehen, dass es sich um eine marktwirtschaftliche Lösung handelt. „Der Markt“ soll die Energie-Verteuerung quasi naturwüchsig hervorbringen. Das ist ganz falsch. Diese Verteuerung entsteht durch politische Vorgaben. Wenn Kafsack schreibt, dass der Ausstoß von Gebäuden und Verkehr mit einem Preis „versehen“ wird, beschreibt er nichts anderes als eine solche Vorgabe. Die Teuerung entsteht durch Emissionszertifikate, die der Staat ausgibt und deren Erwerb für den Betrieb von Produktionsstätten, Gebäuden, Verkehrsmitteln verpflichtend ist. Der Handel dieser Zertifikate ist nur ein nachgeordneter Schritt, der Markt ist hier bloß ein Instrument, ein Mittel zum politischen Zweck. Er ist der Knecht der Politik. Wenn es der Politik gefällt, kann sie den Preis bis ins Unbezahlbare steigen lassen – bis es keine Käufer mehr gibt. An einem wirklichen Markt würden dann die Preise sinken, aber politisch gewollte Preise sinken nicht. Oder genauer: Sie sinken erst dann, wenn man die politischen Vorgaben zurücknimmt. Und wenn eine Demokratie den „ehrgeizigen Zielen“ ihre Unantastbarkeit nimmt. Aber davon sind wir weit entfernt.
Beschönigung und soziale Verachtung
Stattdessen werden die zerstörerischen Folgen der Teuerung erharmlost. Derselbe Herr Kafsack schreibt im Frühjahr 2022 (FAZ, 18.5.2022):
„Die Lösung liegt auf der Hand. Die EU muss den Verbrauch von Heizöl, Benzin oder Diesel mit einem CO2-Preis versehen. Wer den nicht zahlen will, kann in eine neue Heizung oder die Dämmung der Wohnung investieren, ein E-Auto kaufen oder Bus und Bahn fahren.“
Man beachte den lässigen Tonfall: Wer den CO2-Preis nicht zahlen will, kann ja in eine neue Heizung investieren, ein E-Auto kaufen oder mit Bus und Bahn fahren. Wer das eine nicht zahlen will, kann doch einfach etwas anderes kaufen – kostet bloß halt ein bisschen mehr…Der Betrug liegt auf der Hand: Es wird verschwiegen, dass der Automarkt insgesamt auf einem höheren Preisniveau ankommt. Ein Luxus-Niveau, das sich der Normalbürger nicht leisten kann. Und wie leicht sich so etwas hinschreiben lässt! In dieser Allein-Herrschaft der Worte findet eine tiefe soziale Verachtung ihren Platz.
Hendrik Kafsack
Ich erlaube mir eine persönliche Anmerkung, wohlwissend, dass ich damit keineswegs der ganzen Person gerecht werde und auch nicht dem ganzen Journalisten Hendrik Kafsack. In einer Broschüre der FAZ aus dem Jahr 2019, in der alle Journalisten des Hauses mit einer Kurzbiographie vorgestellt werden. Bei Hendrik Kafsack findet sich hier das folgende biographische Stichwort:
„Früh die Liebe zum geschriebenen, gesprochenen und ins Bild gesetzten Wort entdeckt.“
Das Automobil als Ding
Glücklicherweise gibt es in der FAZ noch die Beilage „Technik und Motor“. Und dort kann man in eine ganz andere Welt eintauchen, eine Welt der Dinge, eine Welt mit Hand und Fuß. In der Beilage vom 14.9.2021 zitiert Holger Appel unter der Überschrift „Die Basis“ einige Angaben aus der Automobilbranche zu den Herstellungskosten eines E-Automobils:
„Die Produktion eines Antriebsstrangs mit Akku sei derzeit etwa viermal so teuer wie die eines Verbrennungsmotors. In zehn Jahren sei mit einer Halbierung zu rechnen, dann sei der Akkuantrieb noch doppelt so teuer. Weil die Politik aber den Verbrennungsmotor in all seinen Facetten immer teurer macht, werden sich Kosten, und wohl auch Preise, über die Zeit annähern. Nur eben auf höherem Niveau. Einen VW Up mit Benzinmotor gibt es heutzutage 14000 Euro an, einen Polo ab 16000 Euro.“
So viel zur Realität der Kostensteigerung, die mit der erzwungenen Umstellung auf E-Automobile verbunden sein wird. De facto bedeutet diese Umstellung, dass das Automobil, wenn ein Ende des Verbrennungsmotors angeordnet wird, für die Normal-Gesellschaft nicht mehr zu den bezahlbaren Gütern zählt. Das bedeutet einen Rückschritt in die 1950er Jahre. Und es bedeutet nicht nur ein bisschen weniger Bequemlichkeit, sondern eine Isolation weiter Teile des Landes; einen Eingriff in die dortigen Lebensformen, die von einer individuellen, motorisierten und bezahlbaren Mobilität abhängen. Es bedeutet eine Einschränkung der Möglichkeit, mit der Familie in Urlaub zu fahren, auch eine Einschränkung des Reisens als physisch-sinnlicher Weltzugang.
Das „Preis-Signal“
Nach einem Bericht der Tageszeitung „Die Welt“ (7.10.2022) beträgt der Durchschnittspreis von E-Automobilen in Europa gegenwärtig 55821 Euro. In den USA sind es (umgerechnet) 63864 Euro. Das „Preis-Signal“ ist in Wahrheit eine „Preis-Mauer“
Die Geschichte vom „Innovationstreiber“
Wir schalten ein Jahr zurück. Da war im September-Bundestagswahlkampf. Und eine gewisse Annalena Baerbock gehörte zu den Kanzler-Kandidaten. Ein Artikel in der FAZ (14.9.2021) berichtet von einer Fernsehrunde der (drei) Kandidaten, in der Frau Baerbock – im Zusammenhang mit dem beschlossenen Aus für den Verbrennungsmotor – den folgenden Satz sprach: „Jedes Verbot ist auch ein Innovationstreiber.“ Der Satz bedeutet: Wenn wir auf einem Technikfeld nur Lösungen haben, die unerwünschte Nebenwirkungen haben, soll man diese „alten“ Lösungen schon verbieten, auch wenn alternative Lösungen mit vergleichbarer Leistung nicht zur Verfügung stehen. Denn das Verbot wird das Finden der alternativen Lösungen („Innovationen“) antreiben. Also sollte man ruhig eine Notlage herstellen, frei nach dem Motto „Not macht erfinderisch“. Der Baerbock-Satz wurde in der Kandidaten-Runde gar nicht problematisiert, aber im Nachhinein dann doch. Der FDP-Vorsitzende Lindner erklärte „Freiheit ist der Innovationstreiber“. Der Direkter des Max-Planck-Instituts für Innovation und Wettbewerb sprang der grünen Kanzler-Kandidatin bei und sagte: „Prinzipiell hat Baerbock recht. Politische Regulierung und Verbote rufen auch innovative Antworten hervor“. Womit er zeigte, wie leicht man heutzutage in den „unabhängigen“ Wissenschaftskreisen dazu neigt, den Menschen ihre einzig verfügbaren Güter wegzunehmen. Und sie dazu zu verurteilen, hilflos auf die Wissenschaft zu blicken und zu hoffen, dass sie etwas liefert. Diese Rolle der Wissenschaft sollte man sich merken, wir kommen weiter unten darauf zurück.
Die Teuerungswelle als Innovationstreiber?
Mit der Story vom Innovationstreiber kann man auch der Teuerungswelle ganz neue Seiten abgewinnen. Wenn die CO2-Bepreisung das Autofahren so teuer machen, dass viele es sich nicht leisten können, könnte man behaupten, dass das zu Innovationen führt, die alles besser machen. Bei bestimmten Preiserhöhungen, die dazu führen, das die Menschen ein Gut nicht mehr kaufen, spricht man ja von „prohibitiven“ Preisen – als von Preisen, die wie Verbote wirken. Auch die prohibitiven Preise laufen auf eine Situation hinaus, in der erstmal nichts da ist, um dann auf dieser tabula rasa das Neue völlig freihändig zu erfinden. Die Logik der Tabula rasa als Innovationstreiber ist auch bei der CO2-Bepreisung am Werk. Und der „Vorteil“ der prohibitiven Preise gegenüber einem schlichten Verbot besteht darin, dass die tabula rasa hier quasi „von selbst“ entsteht. Niemand muss dafür direkt die Verantwortung übernehmen. Die Wirkungs-Wege der CO2-Bepreisung durch Emissions-Zertifikate sind verschlungen. Die Spuren der willkürlichen Zertifikate-Setzung am Anfang in den Preisen am Ende lassen sich leicht unterschlagen.
Es fällt ja auf, dass selbst angesichts einer Teuerungswelle, die durch den Wirtschaftskrieg gegen Russland noch einmal gesteigert wurde, an der CO2-Bepreisung festgehalten wird – und dieser „zweite Preis“ auch aus der öffentlichen Debatte herausgehalten wird. Und es fällt auf, dass es einen beträchtlichen Teil der Ökonomen und auch die offiziellen „Liberalen“ dabei mitmachen. Umwelt-Institute und Wirtschafts-Institute spielen sich die Bälle zu. Und Und hier finden sich auch Grüne und FDP zum trauten Stelldichein.
Der Liberalismus verlässt die bürgerliche Gesellschaft
Eigentlich sollte man erwarten, dass die Wirtschaftsteile der Zeitungen, die sich als bürgerlich verstehen, angesichts einer Teuerungswelle von historischen Ausmaßen besonders aufmerksam für die Nöte der Betriebe und Haushalte sind. Aber das geschieht nicht, und es geschieht sogar das genaue Gegenteil. Das zeigt sich in den Stellungnahmen zu den sogenannten „Hilfspaketen“ und „Entlastungsprogrammen“. Man kann an diesen Maßnahmen mit Fug und Recht kritisieren, dass sie die eigentlichen, fundamentalen Preistreiber ausklammern. Keine der Grundentscheidungen, zum Beispiel „die Klimaneutralität bis 2045“ sollen überprüft und gegebenenfalls revidiert werden. Nein, die „bürgerlich-liberalen Blätter möchten die Sparzwänge, die sich aus der Teuerung ergeben, möglichst ungeschmälert zur Wirkung kommen lassen. Sie stimmen also ein in den Chor des „großen Verzichtens“.
Auch Wirtschafts-Journalisten wie Heike Göbel, die sich als Liberale versteht, stößt in dieses Horn. Sie hat – zum Beispiel in einem Kommentar unter der Überschrift „Voreiliger Schockdämpfer“ in der FAZ vom 25.3.2022 – gegen die damaligen ersten Entlastungsmaßnahmen der Regierung Stellung genommen. Und sie hat das nicht getan, um die tieferen Ursachen der Teuerung ins Visier zu nehmen, sondern sie kommt auf geradezu bizarre Weise auf die Erzählung von den Bürgern, denen es gut geht, zurück:
„Viele, wenn nicht gar die Mehrheit der nun begünstigten Bürger, dürfte staatliches Geld (noch) gar nicht nötig haben. Sie verfügen – teils wegen des unterbliebenen Konsums in der Pandemie – über private Reserven, um den Energiepreisschock aufzufangen, notfalls unter Einschränkungen des übrigen Konsums.“
Will die Autorin wirklich nach den immensen Opfern der Pandemie-Bekämpfung, die alle größeren Aktivitäten (Reisen, Sport, Musik, Festlichkeiten…) trafen, nun das noch verfügbare Geld für die Energierechnung in Beschlag nehmen? Dies Geld wird ja für eine Rückkehr zum modernen Leben dringend gebraucht, und das ist mehr als verdient. Und was ist das überhaupt für eine Wirtschaftslehre, die für die Rolle der Bürger nur das arme Wörtchen „Konsum“ übrighat? Diese Verbraucher-Ökonomie ist eine fundamentale Missachtung der aktiven Arbeitsleistung, auf der dies Land beruht und die täglich neu erbracht wird. Und es ist auch eine fundamentale Verkürzung der modernen Dingwelt, die nicht begreifen kann, welcher kulturelle Reichtum aus dieser Dingwelt erwächst.
Die „unabhängige Wissenschaft“
Johannes Pennekamp ist einer der führenden Journalisten im Wirtschaftsteil der FAZ. In einemKommentar unter Überschrift „Scheinheilig“ (FAZ 23.4.2022) hat er sich auf die Seite derer gestellt, die zu diesem frühen Zeitpunkt ein sofortiges Öl- und Gasembargo gegen Russland forderten. Er wandte sich dabei ausdrücklich gegen die Warnungen vor einer Industriekrise, die Unternehmensverbände und Gewerkschaften damals in einem gemeinsamen Brief ausgesprochen hatten, falls ein solches Energie-Embargo verhängt würde. Pennekamp wendet sich gegen die Regierung, die sich gegen ein Embargo zu diesem Zeitpunkt ausgesprochen hatte – mit dem Verweis auf die dann drohende Massenarbeitslosigkeit und Armut:
„Sie (die Regierung, GH) hat es bislang versäumt, diese Zenarien mit belastbaren Analysen zu untermauern. Das muss sie dringend nachholen, wenn sie nicht endgültig in den Ruf gheraten will, Warnungen von Vorstandschefs und Gewerkschaftsvertretern mehr Glauben zu schenken als der unabhängigen Wissenschaft. Schweigt die Regierung weiter, wirkt ihre vorsichtige Haltung immer scheinheiliger: Sie ist nicht bereit, einen hohen, aber verschmerzbaren Preis zu zahlen, um Putin den Geldhahn abzudrehen.“
Herr Pennekamp tritt also als feuriger Anhänger des Embargo-Kriegs auf und schwingt gegen die Embargo-Skeptiker die moralische Keule („scheinheilig“). Vor allem aber ist bemerkenswert, auf wen er sich dabei beruft. Nicht „Unternehmenschefs und Gewerkschaftsvertreter“ sollen die Lage beurteilen, sondern die „unabhängige Wissenschaft“. Damit outet sich Pennekamp als Verachter der Sozialpartnerschaft. Und als Verachter des Arguments, das Unternehmer- und Arbeitnehmer-Vertreter dichter der Realwirtschaft dran sind und deshalb Probleme viel ernster nehmen als Leute, die die Dinge nur von Ferne und nur in theoretischen Modellen wahrnehmen und verarbeiten. Doch für diese Realitätsferne kennt Pennekamp ein Zauberwort: „Unabhängig“ soll der Standpunkt der Wissenschaft sein. Bei der Frage, wo denn der Standort ist, der eine solche „Unabhängigkeit“ gewährleistet, hält sich unser Medienmann bedeckt. Aber eine Agenda ist hier doch erkennbar: Die Wissenschaft soll als neue höchste Instanz der Volkswirtschaft installiert werden. Und auch der Wirtschaftsteil der FAZ soll wohl für sich eine höheren Weisheit beanspruchen können – wenn er sich denn „verwissenschaftlicht“. Wobei es das Signum „Die Wissenschaft sagt“ in modernen Zeiten eigentlich gar nicht gibt, da in unserem Zeitalter wissenschaftliche Wahrheiten immer nur vorläufige und auch umstrittene Wissensstände sind.
Zwischenbemerkung
Das Datum dieses Kommentars und überhaupt der frühe Zeitpunkt dieser Embargo-Debatte ist wichtig. Schon im April 2022, also lange vor den Einschränkungen der Gaslieferungen aus Russland, gab es eine im Westen verbreitete Forderung, einen radikalen Energiekrieg gegen Russland zu führen. Dafür gab es auch in Deutschland Anhänger. Der Westen hat also den ersten Stein des „Energiekriegs“ geworfen – und tut nun so, als ob „Putin“ diesen Krieg erfunden und angefangen hat.
In der Debatte vom April 2022 behaupteten die Anhänger des radikalen Energiekriegs, ein heftiger, aber kurzer Einschnitt würde die Ukraine-Krise verkürzen. Das „schmerzvoll, aber kurz“ erinnert an die „Zero-Covid-Strategie“, die zum Umgang mit der Corona-Epidemie noch im Winter 2021/2022 propagiert wurde. Auch von manchem Wirtschafts-Wissenschaftler, der sich als „liberalen Marktwirtschaftler“ versteht. .
Pennekamp, zum Zweiten
Johannes Pennekamp hat im Politikteil der FAZ (4.10.2022) ein Porträt von Veronika Grimm geschrieben. Sie ist die Vorsitzende der Kommission, die für die Bundesregierung eine Vorlage für die „Gaspreisbremse“ erarbeiten soll. Pennekamp führt Frau Grimm als „eine der einflussreichsten Frauen im Land“ ein. Wie sie ihren Einfluss gelten machen wird, weiß der Journalist genau – aber die folgende Aufgabenbeschreibung für Grimm ist natürlich kein Porträt mehr, sondern ein geschicktes Unterbringen eigener Positionen:
„Die Preise für Privatverbraucher und die Unternehmen müssen zwar sinken, damit alle halbwegs über die Runden kommen. Sie dürfen aber nicht zu tief fallen, damit genug Gas gespart wird.“
Das „nicht zu tief fallen“ ist eine Aussage von kurioser Rücksichtslosigkeit. Denn es gibt niemanden auf der Welt, der Preise auf ihr altes Niveau oder gar darunter subventionieren könnte. Indem Pennekamp für Privathaushalte und Unternehmen die herablassende Formel übrighat, dass sie „halbwegs über die Runden kommen“ sollen, signalisiert er, dass eine erhebliche Zahl von ruinierten Haushalten und Unternehmen durchaus als Nebeneffekt des „Sparens“ akzeptabel ist. Jedenfalls versucht Pennekamp die Universitäts-Ökonomin Grimm gegen die Vertreter von Unternehmen und Gewerkschaften in der Kommission in Stellung zu bringen, die angeblich nur an der Verminderung des Teuerungsdrucks interessiert sind. Er zitiert Frau Grimm mit der Aussage, dass es ihr wichtig sei, „die Perspektive der Wissenschaft einzubringen“. Es wird aber nicht klar, ob zu dieser Perspektive auch gehört, die klimapolitischen und geopolitischen Vorgaben, die die Preissteigerungen wesentlich und langfristig bestimmen, ins Visier zu nehmen.
Das Porträt schlägt einen ganz anderen Weg ein, indem es Veronika Grimm als Vertreterin einer ganz neuen „Generation von Forschern“ vorstellt: „Sie gehört zu einer Generation von Forschern, der Daten und Modelle mehr bedeuten als ideologische Glaubenssätze.“ Mit anderen Worten: Die vorherigen Generationen sind irgendwie ideologieverdächtig, während man, sofern man auf „Modelle und Fakten“ setzt, gegen Ideologien immun sein soll. Auf die Idee, das die „Modelle und Fakten“ selbst hochgradig ideologieanfällig sind, kommt Pennekamp, der sich wohl auch selber dieser „new generation“ zugehörig fühlt, nicht in den Sinn. Aber liegt die Gefahr gerade in der „Unabhängigkeit“ einer höheren Standpunkts, der an die Neutralität von „Modellen und Fakten“ glaubt und dabei zu ignoranten Urteilen und verheerenden Entscheidungen kommt – weil er von der Härte der Dinge nicht weiß, und von der Leistung, mit dieser Härte zu arbeiten, nichts wissen will.
Doch halt, auch Pennekamp versucht, Frau Grimm noch eine Portion Bodenständigkeit zu gewähren: „Man glaubt der Mutter von drei Kindern, dass sie Herausforderungen liebt: Im Urlaub wandert sie auf anspruchsvollen Pfaden.“ Das ist super, aber der Abstand zwischen solchen „anspruchsvollen Pfaden“ und den Ansprüchen der alltäglichen Arbeitswelt ist doch beträchtlich.
Pennekamp, zum Dritten
Manchmal ist es ein einzelnes Wort, das mehr über einen Standpunkt verrät, als lange Zitate. Johannes Pennekamp hat sich in einem Kommentar (FAZ 6.7.2022), für „eine schnelle Weitergabe der Preise“ ohne abfedernde Maßnahmen größerer Art ausgesprochen. Pennekamp kritisiert den Plan, dass „Arbeitnehmer mit einer steuerfreien und kaum zielgenauen Einmalzahlung der Arbeitgeber von 1500 Euro (`Scholz-Bonus´) gepampert werden sollen.“ Da steht das Wort: „gepampert“. Die Absicht, die in diesem Wort enthalten ist, ist deutlich zu spüren. Wer einen Ausgleich für die Reallohn-Verluste fordert, soll als Schwächling gelten. Als Hosenscheißer. Wie wäre es, wenn unserer Medienmann seinen Pamper-Satz einmal auf einer Betriebsversammlung vorträgt?
Die Worte und die Dinge (I)
Johannes Pennekamp ist gewiss nicht irgendeine besonders finstere Gestalt oder gar Teil einer Verschwörung. Die hier zitierten Beiträge sind eher ein Indiz für eine tiefere gesellschaftliche Verschiebung. Aber diese „Normalität“ macht sie nicht weniger zerstörerisch. Insgesamt belegen die Zitate, welcher Abgrund inzwischen die Welt der Worte und die Welt der Dinge in Deutschland trennen. Zur Verortung dieses Abgrundes würde ich nicht die Erzählungen von der „Spaltung zwischen arm und reich“ oder von der „Spaltung zwischen mächtig und abhängig“ empfehlen. Vielmehr geht es um den Verlust einer grundlegenden Eigenschaft der Ära der Moderne: ihr Weltbezug und die Eigenständigkeit der Dinge und dinglichen Wirkungszusammenhänge. Nur so konnte die über Jahrzehnte und Jahrhunderte aufgebaute Spannweite von Staat, Wirtschaft und Kultur entstehen. Doch jetzt ist dieser Weltbezug in einer tiefen Krise, die ganz unterschiedliche Schichten betrifft, ganz unabhängig von ihrem Vermögen oder Einkommen, und ganz unabhängig von ihrer Macht. Die strukturelle Verschiebung, die in dieser Krise wirksam ist, lässt sich meines Erachtens am treffensten als Verschiebung zwischen im Verhältnis von Worten und Dingen beschreiben. Am Ursprung der Neuzeit stand eine Hinwendug zur Welt und eine Aufwertung ihrer Gegenständlichkeit, und mit ihr war der Aufstieg des Bürgertums und der Arbeiterschaft (in einem weiten Sinn des Begriffs) verbunden. Die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte kann dann als zunehmende Entwertung dieser Grundlage verstanden werden, und als eine zunehmende Abkopplung und Willkür verbaler Diskurse. Eine Kunstwelt der Worte, die zunehmend um sich selbst kreist. Wir stehen ja heute oft fassengslos vor der Erfahrung, was alles nicht mehr funktioniert, ohne dass irgendein gleichwertiger Ersatz zur Verfügung steht. Und mehr noch: Vor der Unfähigkeit, solche Verluste ernstzunehmen.
Die Worte und die Dinge (II)
Es gab frühe Warnungen vor diesem Szenario, wenn man etwa an Helmut Schelskys „Die Arbeit tun die Anderen“ aus dem Jahr 1975 denkt, das den Untertitel trägt: „Klassenkampf und die Priesterherrschaft der Intellektuellen.“ Aber Schelsky ging noch davon aus, dass es einen starken realwirtschaftlichen Sektor gab, den die „Priesterherrschaft“ nicht gänzlich übergehen und zerstören könnte.
Und es gab Daniel Bells Buch „Die nachindustrielle Gesellschaft“ (Erstausgabe in den USA 1973), deren Aufkommen er im Grunde positiv als Fortentwicklung verstand. Aber seine Untersuchung arbeitete scharf heraus, dass die Wissenschaft, die sich anschickte, zum neuen Machtzentrum der Gesellschaft zu werden, keine praktische technische Wissenschaft war, sondern eine theoretische Wissenschaft, die auf eine Metaebene der Gesellschaft zielte. Heute würde man sagen: Sie produzierte „Narrative“. Daniel Bell sah auch eine harte Grenze für das ständige Wachstum dieses Sektors: Er erhöht die Produktivität nicht, sondern lastet auf ihr. Der dann folgende Marsch in die postindustrielle Gesellschaft hat dann tatsächlich zu einem ständigen Sinken der Produktivitätszuwächse geführt. Und die jetzige Krise könnte in vielen Ländern sogar eine Periode der Produktivitätsverluste einläuten.
Anhang:
Erinnerung an die „Gelben Westen“ in Frankreich
Vor drei Jahren nahm in Frankreich die Bewegung der „Gelben Westen“ ihren Anfang.Hier war die Verteuerung von Benzin und Diesel durch Klima-Rettungs-Abgaben der Auslöser. Es war eine Bewegung, die in der Peripherie unseres Nachbarlandes – also außerhalb der großen Ballungsräume entstand, und die dort auch immer ihre Seele hatte. Die Bewegung wuchs rasch an, und zwar nicht auf Grund einzelner extremer und spektakulärer Gewaltaktionen, sondern durch die Einfachheit der Mittel. Die Gelbe Westen, die zunächst bei Kurzblockaden an den für Frankreich typischen Kreisverkehren sichtbar wurden, waren bald in jedem zweiten Auto in vielen Ortschaften zu sehen. Die Gelbe Weste sagte mehr als tausend Worte.
Dann geschah noch etwas Unerwartetes. Es wurde massiv und von einem vielstimmigen Chor aus politischen Amtsträgern, namhaften Intellektuellen und prominenten Medienleuten versucht, die “gelben Westen“ sozial verächtlich zu machen. Man hätte es in den Kommentaren und Stellungnahmen dabei belassen können, den Forderungen der Bewegung zu widersprechen, aber es wurde immer etwas hinzugefügt – ein Kultur- und Moralurteil wurde über die Beteiligten gefällt. Sie wurden abqualifiziert und verächtlich gemacht. Es war erstaunlich, was da alles in den Urteilenden geschlummert hatte und offenbar nur darauf gewartet hatte, endlich einmal in die Tasten und in die Mikrophone abgelassen zu werden. Dumm seien die Protestierenden und roh, arbeitsscheu und aggressiv, erbärmliche Elendsgestalten und hoffnungslose Sozialfälle. Der Regierungssprecher sprach von „Kettenrauchern und Dieselfahrern“, die „nicht das 21. Jahrhundert verkörpern, das wir wollen“. Und immer war da auch der Hinweis, dass da „Ungebildete“ sich eine Rolle anmaßten, die ihnen nicht zustand. Da sprach nicht nur ein kleine abgehobene „Elite“, sondern ein ganzer Mittelstand – aber von der gehobenen, akademisch-urbanen Sorte, wo man es gewohnt ist, die Welt durch höheres Wissen zu bewältigen. Und die inzwischen alle jene Tätigkeiten und Lebensformen, bei denen die physische Realität der Dinge im Vordergrund steht, aus ihrem Weltbild ausgelagert haben – entweder in die Peripherie des Landes oder in andere Teile der Welt.
In dem Versuch, diese Bewegung verächtlich zu machen, ist eine krasse Ignoranz gegenüber den Lebens- und Arbeitsformen, die außerhalb der großen Metropolen zu finden sind, zu Tage getreten. Bernhard Pudal schrieb in „Le Monde diplomatique“ Nr. 3-2019:
„Es ist das fehlende politische und soziale Gespür für den wichtigen Platz, den das Automobil im Alltagsleben großer Teile der unteren Schichten einnimmt, gegen die sich die Gelbwesten-Bewegung formiert hat. Vervielfachung der Radarkontrollen, Geschwindigkeits-Begrenzung auf Landstraßen auf 80 Stundenkilometer, Preiserhöhungen für Benzin, eine `ökologisch´ genannte Steuer auf Brennstoffe, schärfere und teurere Überprüfungen der technischen Fahrzeug-Sicherheit, Abkehr von der Diesel-Technologie – indem die Mächtigen so die Freiheit der Mobilität einschränkten, haben sie – ohne sich dessen bewusst zu sein – eine ganze Art des Wirtschaftslebens, der Freizeitgestaltung, der Geselligkeit, wie sind insbesondere in ländlichen Gebieten entwickelt worden war, die materielle Grundlage entzogen.“
Es geht also nicht nur um „sozial Schwache“, zu denen man sich mitleidig herunterbeugen kann und nachsichtig ihre „mangelnde Bildung“ belächeln kann. Hier sprach ein Peripherie, die sich in den vergangenen Jahre auf ihre Weise weiterentwickelt hatte und ihre eigenen Lebensmodelle entwickelt hat. Der Angriff auf das Automobil machte mit einem Schlag deutlich, wie gleichgültig und ignorant diese Leistung für „überflüssig“ hielten und sich bedenkenlos anschickten, sie zu Grunde zu richten.
Als sich die Peripherie das nicht gefallen ließ, war die Empörung der gehobenen urbanen Milieus groß. Und sie war empört darüber, dass hier soziale Schichten die Bühne betraten, die ganz andere Lebensformen mit anderen Prioritäten repräsentierten. Und dass sie mit Erfolg diese Bühne betraten, ohne viel Worte, aber mit einigen harten Argumenten in der Sache. Die Tatsache, dass „la France populaire“ auf einmal die gesellschaftliche und politische Bühne betrat, bedrohte das Monopol der gehobenen und zentralisierten „urbanen Milieus“ und ihrer selbstbezogenen „Diskursen“. Eigentlich war davon ausgegangen, dass das „einfache Volk“ (das gar nicht so einfach war) auf ewig stumm und selbstgenügsam im Lande verstreut vor sich hinlebte. Nun aber wurde eine ganz andere Peripherie sichtbar, die sich abseits der ignoranten „urbanen“-Öffentlichkeit auf ihre Weise weiterentwickelt und behauptet hatte.
Dieser Konflikt, der nicht einfach ein Gegensatz zwischen arm und reich, und auch nicht zwischen mächtig und abhängig war, erinnert an jenes „Sie sprachen vom Volk, als wäre es nicht da“, mit dem Alexis de Tocqueville die Situation kurz vor der französischen Revolution von 1789 beschrieb:
„Da das Volk keinen einzigen Augenblick seit hundertvierzig Jahren auf dem Schauplatz der öffentlichen Angelegenheiten erschienen war, hatte man ganz und gar aufgehört zu glauben, dass es sich jemals wieder dort zeigen könne; da man es so unempfindlich sah, hielt man es für taub, so dass, als man sich für sein Los zu interessieren begann, man in seiner Gegenwart von ihm selbst in einer Weise sprach, als ob es nicht zugegen wäre.“
(Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, 1856)