Wie Deutschland ein anderes Land wurde 

Die gegenwärtigen Krisen sind keine vorübergehende Schwächeperiode, sondern Teil einer großen Zivilisationskrise, die sich über mehrere Stufen aufgebaut hat. (Ein Essay in vier Teilen)

Wie Deutschland ein anderes Land wurde 

März 2024

Die Bundesregierung hat ihre Wachstumsprognose für das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2024 von 1,3% auf 0,2% gesenkt. Das ist eine krasse Senkung. Für eine Regierungskoalition, die behauptet, dass sie – und nur sie – die Zukunft Deutschlands repräsentiert, ist es eine Bankrott-Erklärung. Ihre Politik der großen Transformation bringt dem Land alles andere als einen „New Deal“. Und vor dem Hintergrund des stagnierenden Bruttoinlandsproduktes bekommen die rasant steigenden Schulden nun ein viel größeres Gewicht: Zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik ist ihre finanzielle Solidität wirklich erschüttert.   

Doch die vorherrschende politische Rhetorik tut so, als wäre eine neue Prosperität mit noch mehr Geld auf Pump zu kaufen. Zur Beschreibung der Situation werden nur Konjunktur-Worte angeboten. Alles soll im gewohnten Rahmen von „Rezession“ oder „Aufschwung“ bleiben. sein. Eine Besserung ist greifbar nah, man muss nur ein bisschen nachhelfen. Die Möglichkeit, dass Deutschland sich in eine historische Sackgasse manövriert hat, kann so gar nicht die Worte finden, um überhaupt zur Sprache zu kommen. Das gilt auch für die ständig wiederholte Redewendung, das Land habe ein Problem mit „zu viel Bürokratie“. Ist das Ziel der der „Klima-Neutralität“ etwa ein Bürokratie-Problem? Oh nein, für dies Ziel werden Entscheidungen getroffen, die tief in die Produktionsabläufe eingreifen und die Wertschöpfung soweit senken, dass viele Betriebe und Arbeitsplätze vor dem Aus stehen. Es geht um Stilllegung von Kraftwerken, Verbot von Motoren, von Heizungen, von Herstellungsverfahren, bei denen fossile Energieträger genutzt werden. Ganze Industriezweige, für die es keine praktikablen technischen Alternativen gibt, werden mit unbezahlbaren Steuern belegt oder gleich zum Abschalten gezwungen. Die offizielle Rhetorik spricht bei dieser gezielten Herstellung einer Notlage, die in Deutschland inzwischen unübersehbar ist, immer noch von „Anreizen“, die zum Erfinden von etwas „ganz Neuen“ führen würde. Aber viele im Land wissen nicht, wie sie das nächste Jahr überstehen sollen. Oder auch nur über den nächsten Monat kommen sollen. 

Eine Zivilisationskrise 

Deutschland ist zu einem Land geworden, indem eine – durchaus beträchtliche – Minderheit einer – erheblich größeren – Mehrheit verkündet: Eure Verkehrsmittel sind falsch und Eure Heizungen sind falsch. Ihr arbeitet falsch. Ihr esst falsch und Ihr kleidet euch falsch. Ihr habt die falschen Reiseziele, hört die falsche Musik und richtig lieben könnt Ihr auch nicht. Kurzum: Ihr führt das falsche Leben. Ist es da erstaunlich, wenn in den verschiedensten Bereichen Krisen ausbrechen? Wenn es im Land an allen Ecken und Ecken fehlt? Es ist viel von einer Regierungskrise die Rede und manche setzen darauf, dass ein rascher Regierungswechsel die Dinge zum Guten wenden könnte. Aber das Problem liegt tiefer: Dies Land ist auf einen Konfrontationskurs mit der modernen Zivilisation geraten. Dieser Kurswechsel geht nicht auf einen einsamen Entschluss von ein paar Super-Reichen und Super-Mächtigen. Es gab keine plötzliche „Machtergreifung“, sondern einen breiteren und längeren sozialen Prozess. Aber dieser Prozess wird nicht von „der Gesellschaft“ als Ganzer getragen, sondern von einem bestimmten Sektor der Gesellschaft, der sich aus mehreren Schichten und Milieus zusammensetzt. Dieser durchaus beträchtliche und einflussreiche Sektor hat sich von der modernen Zivilisation entfremdet. Von den Knappheiten der realen Welt hat er gar keine Vorstellung mehr. Mit wirklicher Arbeit, die wirkliche Knappheiten mildert, hat er keine Erfahrung – weder mit ihren Mühen, noch mit der Befriedigung und Würde, die in dieser Arbeitswelt zu finden sind. Gegenüber dieser arbeitenden Moderne fühlt sich der „postmoderne“ Sektor zu Höherem berufen. Deshalb nimmt er die Zerstörungen und Opfer, die jetzt im Lande stattfinden, gar nicht als solche wahr. Die rasant steigende Verschuldung des Landes ist für ihn kein Problem. In diesem Sektor wird einfach von einer „schlechten Vergangenheit“ und einer „ganz neuen Zukunft“ fabuliert. So werden die schlechten Zahlen einfach zum Erlöschen gebracht. In der Welt dieses Sektors hängt ist alles eine Frage der richtigen „Erzählungen“. Auf dieser Basis wurden in Deutschland Machtpositionen in Staat und Wirtschaft besetzt und Positionen zerstört, von denen die Realitätstüchtigkeit dieses Landes abhängt. Deutschland ist ein anderes Land geworden.      

Eine kurze Geschichte der Bundesrepublik  

Die Aufgabe ist also, den allmählichen Prozess zu beschreiben, der Deutschland an diesen Punkt gebracht hat. Das sollte nicht in dem Sinn verstanden werden, dass es sich nur um ein „deutsches Problem“ handelt. In etlichen anderen Ländern der westlichen Welt gibt es vergleichbare Prozesse. Es geht also nicht um einen deutschen „Sonderweg“. Es geht aber auch nicht darum, gleich die ganze Moderne zu Grabe zu tragen. Es genügt, von einem bestimmten Zeitabschnitt in der Gesamtgeschichte der Moderne zu sprechen. Dieser Zeitabschnitt lässt sich in verschiedene Phasen unterteilen: Zunächst entsteht eine zivilisationsferne Parallelwelt, dann wird diese Parallelwelt dominant und schlägt in ein Negativprogramm um – in eine Zerstörung tragender Säulen der modernen Zivilisation. Das aber bedeutet nicht das Ende der Geschichte, denn auf dem negativen Höhepunkt dieser Zivilisationsabkehr, zeigt sich eine fundamentale Schwäche des „postmodernen“, „postindustriellen“ und „postkolonialen“ Sektors. Ihm fehlt es an Zugriff auf die Realität. Das Verdrängte erweist sich als unersetzlich und kehrt zurück. Doch der Reihe nach: Vor der eigentlichen Krisengeschichte muss eine gelungene Phase der deutschen Geschichte nach dem zweiten Weltkrieg beschrieben werden, die immerhin drei Jahrzehnte dauerte.

Das 1. Kapitel: Ein industrielles Land und eine ziemlich krisenfeste Demokratie 

Die 30 Jahre vom Ende der 1940er Jahre bis zum Ende der 1970er waren durch eine Prosperität geprägt, die sowohl Wohlstandsgewinne als auch eine Senkung der Schuldenquote ermöglichte. Dabei handelte es sich nicht nur um eine Phase des „Wiederaufbaus“ nach dem 2.Weltkrieg und auch nicht nur um das Ergebnis eines „Förderprogramms“ mit Dollar-Milliarden (Marshall-Plan“). Die eigentliche Grundlage war ein industrieller Produktivitätssprung, wie er in der Geschichte nur selten auftritt. Große, langlebige Konsumgüter wurden erstmals in großer Serie kostengünstig herstellbar (Haushaltselektronik, Automobile, Medien, Ton- und Bildträger, Eigenheime). Hohe Unternehmens-Investitionen ins Betriebskapital, die Zunahme und Verbesserung der Arbeitsplätze, staatliche Investitionen zur Erweiterung der technischen Infrastruktur (der Energie- und Verkehrsträger) und des Standort-Angebots in Stadt und Land gingen sichtlich Hand in Hand. Das begünstigte sozialpartnerschaftliche Lösungen. Das war auch die Grundlage, auf der die SPD mit dem Godesberger Programm (1959) ihren Frieden mit dem Kapital schließen konnte.      

In dieser Phase erreichte die Zahl der Industriebeschäftigten ihren historischen Höhepunkt. Sofern man von einer Mitte der Gesellschaft sprechen konnte, wurde sie von den Facharbeitern geprägt. Dazu gehörte auch das hohe Ansehen der dualen Berufsausbildung im Bildungssystem. Der Anteil der höheren Bildungsabschlüsse stieg zwar ab Mitte der 1960er Jahre an, aber er war noch nicht sozial maßgebend. In der deutschen Gesellschaft dieser Jahre war nicht der „Aufstieg“ in höhere Bildungs- und Berufskarrieren das Maß aller Dinge, sondern eine Lebensleistung als Facharbeiter oder Fachangestellter galt schon als wertvoll und würdig. An den Hochschulen spielten die wissenschaftlich-praktischen Fächer eine starke Rolle. In dieser Zeit wuchs auch eine Nachfolgegeneration heran, die noch bis in die 1990er und 2000er Jahre hinein die Exporterfolge des Automobilbaus, des Maschinenbaus oder der Chemieindustrie sicherte.  

Man könnte einwenden, dass in diese Phase doch schon die „68er“ auftauchen und in Politik und Kultur mancherlei „Revolutionen“ ausgerufen wurden. Aber ihr Einfluss in Wirtschaft und Staat war gering. Auch die Massenmedien spielten noch nicht die Rolle einer 4. Gewalt von eigenen Gnaden. Angesichts von Bedrohungen erwies sich die Republik als wehrhaft und klug. Kernenergie und Wehrdienst wurden von starken Mehrheiten gestützt. Dem Druck des RAF-Terrors wurde nicht nachgegeben. Auch der NATO-Nachrüstungsbeschluss wurde von einer standhaften Bevölkerungsmehrheit getragen. Es ist also nicht die völlige Abwesenheit von Krisen, die diese ersten 30 Jahre der Bundesrepublik auszeichnet, sondern die Fähigkeit zur wehrhaften Reaktion und auch zur Anpassung an Veränderungen.  

Das 2. Kapitel: Eine postindustrielle und postmoderne Parallelwelt bildet sich

Wenn man eine zweite Phase der Entwicklung Deutschlands wiederum mit 30 Jahren ansetzt, würde diese vom Ende der 1970er Jahre bis zum Ende der 2000er Jahre reichen. In dieser Zeit fand tatsächlich ein erheblicher Wandel statt. Neben der Welt, die noch fortbestand und sich – nun langsamer – weiterentwickelte, bildete sich ein Sektor heraus, der durch seine Größe und Stellung eine eigene Welt mit eigener Legitimation bilden konnte. Dabei spielten drei Bereiche, die zunehmend miteinander verknüpft waren, eine Schlüsselrolle: Erstens die Dienstleistungen, die stark wuchsen, wobei die gehobenen, mit der Beratung und Leitung von Menschen befassten Tätigkeiten eine Schlüsselrolle spielten. Zweitens die Wissenschaft und, damit verbunden, die höheren Bildungsgänge. Deren Anteil an einem Bildungsjahrgang überschritt In Deutschland die 50 Prozent-Marke und nähert sich heute den 60 Prozent. Bei diesem Wissenschafts-Wachstum dominierten nicht die anwendungsbezogenen, technisch-harten Fächer, sondern die theoretischen, kommunikativ-weichen Fächer. Drittens die Kultur, womit ein sehr weitläufiger und diffus schillernder Bereich besetzt wurde. Die neue Konjunktur des Kulturellen beruhte nicht auf einer ganz neuen Kunstepoche, sondern auf einer stärkeren Betonung von Stil und Lebensstil. 

Neben die Aufmerksamkeit für die Effizienz der Herstellung und den Gebrauchswert von Gütern trat nun stärker die Aufmerksamkeit für die Schönheit, Erhabenheit oder Frivolität eines Gegenstandes, eines Ortes, einer Situation. Das wurde nicht nur in der Zunahme von Theatern, Konzerthäusern und Museen sichtbar, sondern auch im Straßenbild in Schaufenstern, in Fassaden, in Märkten und Cafes. Das war durchaus ein Gewinn. Manche vorschnelle, platte „Modernisierung“ wurde revidiert und aufgebrochen. Man denke nur an die Rehabilitierung des baulichen Erbes in Stadt und Land. Und diese Rehabilitierung war Teil einer Verfeinerung und Differenzierung unterschiedlicher Lebensformen. Das war eine Bereicherung der modernen Zivilisation, und daran hatten auch die wachsenden Bereiche der Dienstleistungen und der Wissenschaft ihren Anteil. So wehte in dieser zweiten Phase der Geschichte durchaus ein gewisser Zauber und eine Leichtigkeit durchs Land, zumindest in den 1980er Jahren und dem Beginn der 1990er Jahre.   

Selbstabschließung in einer eigenen Welt 

Allerdings gab es von Anfang an einen Konstruktionsfehler dieser Leichtigkeit. Sie wurde von einem bestimmten sozialen Sektor, der in dieser Zeit rasch wuchs, besetzt und als Gegenwelt zur industriellen Welt verstanden. Sie wurde deshalb auch mit einer Abwertung der ersten Phase der Bundesrepublik verbunden. Das war keineswegs gerecht und notwendig, denn die industrielle Welt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war nicht eine totalitäre Gleichschritt-Welt (siehe Orwells „1984“), sondern hatte längst ihre Spielräume, ihre Lockerungen, ihren „Swing“ hervorgebracht. Diese Entwicklungslinie der modernen Zivilisation hätte man also fortsetzen können. Auch in Deutschland.

Aber ein zunehmender Teil der Bevölkerung kannte die Industrie nur noch vom Hörensagen und brachte auch kein größeres Interesse für diese Welt auf. Das Wachstum des industriefernen Sektors hatte jene kritische Schwelle überschritten, jenseits der es möglich wird, sich in einer Binnenwelt weitgehend abzuschließen. Dazu trug auch die zunehmende Digitalisierung bei. Gewiss kann die Digitalisierung hilfreich sein, wenn sie in bestehende Arbeitsprozesse eingefügt wird. Aber wenn es eine Tendenz zur Selbstabschließung gibt, kann die Digitalisierung auch eine geschlossene Binnenwelt suggerieren. Genau das geschah, als im Namen der Digitalisierung eine ganz neue Industriewelt (Industrie 2.0, 3.0, 4.0…) oder eine ganz eigene „erweiterte Realität“ („augmented Reality“) ausgerufen wurde. 

Die Tendenz zur Selbstabschließung ist nicht von der Digitalisierung erfunden worden, sondern schon in den 1980er Jahren. Hier, am Beginn der zweiten Entwicklungsphase der Bundesrepublik wurde der Beginn einer neuen „postindustriellen“ und „postmodernen“ Ära verkündet. In der Politik wurde von einer „Neuen Mitte“ gesprochen, von „New Labour“ oder auch von einer „Neuen Urbanität“. Nicht mehr der Facharbeiter sollte die Mitte sein, sondern eine gehobene Mittelklasse, besserwissend, besserverdienend und in den großen Städten bestens ausgestattet mit Sozial-, Bildungs- und Kultur-Einrichtungen. Sie verstand sich immer mehr als tonangebend für das ganze Land – oder sie wähnte sich als „Weltbürger“ in ganz anderen Sphären. Man blickte wie gebannt auf die „Weltstädte“ und glaubte, dass sie bald die territorial verfassten Nationalstaaten zweitrangig machen würden. 

Die Parallelwelt treibt ganze Länder in eine Schieflage 

Dass die Bereiche der Dienstleistungen, der Wissenschaft und der Kultur in vielen modernen Ländern schneller wuchsen als die Industrie, war schon in den 1960er und 1970er Jahren sichtbar geworden. Aber zunächst gingen Beobachter ganz unterschiedlicher Couleur (wie Jean Fourastie, Daniel Bell oder Helmut Schelsky) noch davon aus, dass dies Wachstum nur vorstellbar war, wenn es eine hohe industrielle Produktivität gab. Diese Proportionalität war das Band, das die Ausdehnung von Dienstleistungen, Wissenschaft und Kultur noch mit der Entwicklung der Industrie verkoppelte. Doch dies Band wurde im Laufe der zweiten Phase immer schwächer und zerriss schließlich in immer mehr Ländern. Eine Entkopplung fand statt. Die Wortbildung mit „post“ zeugt davon. Und diese Entkopplung wurde zu einer folgenreichen Realität. 

In vielen Ländern wies die volkswirtschaftliche Gesamtbilanz immer kleinere Produktivitäts-Fortschritte auf. Hier zeigte sich, dass der Sektor für sich genommen auf schwachen Füßen stand und die industriellen Überschüsse nicht mehr für eine Querfinanzierung reichten. So wurde die Schuldenlast wieder größer. Die Schuldenquote (das Verhältnis von Schuldenwachstum und Produktivitätswachstum), die in der ersten Phase kontinuierlich gesenkt worden war, stieg in der zweiten Phase wieder an. Zu Beginn der 2000er kam es zu einer heftigen Krise der Digital-Ökonomie, weil sie ihr hochfliegendes Produktivitäts-Versprechen nicht halten konnte. 2009 kam dann in verschiedenen Ländern eine große Schuldenkrise. Spätestens an diesem Punkt war nicht mehr zu übersehen, dass „der Westen“ – mit den USA als Führungsmacht – etwas Wesentliches verloren hatten. Er war nicht mehr der der Ort, der früher durch die Kraft seiner Industrie und die Ausstrahlung seiner Zivilisation ein so faszinierendes Vorbild gewesen war.   

In Deutschland waren Politik und Öffentlichkeit zu Beginn der 2000er Jahre noch in der Lage, die Bedrohung des Industriestandortes Deutschland ernst zu nehmen und sich auf die „Agenda 2010“ zu einigen. Das zeigte, dass hierzulande die industrielle Moderne noch eine recht starke Position hatte. Auch in den USA wäre denkbar gewesen, dass es an diesem Punkt zu einer Rückbesinnung auf alte Stärken gekommen wäre.  

Aber so ist es nicht gekommen. Die Zivilisationskrise entwickelte sich weiter. Bestand sie in der Phase zwischen Ende der 1970er Jahre und Ende der 2000er Jahre in der Abkopplung und Ausdehnung einer Parallelwelt, so wurde diese Parallelwelt in der folgenden Phase dominant und schlug in vielen Ländern in zerstörerische Angriffe auf elementare Errungenschaften der Moderne um. Die Deindustrialisierung des Westens radikalisierte sich. So auch in Deutschland, mit Verspätung, aber dann mit besonderer Heftigkeit. Damit sind wir bei den Zuständen, die in diesem Beitrag eingangs kurz beschrieben wurden. Und wir sind bei der Frage, wie eine Phase beschaffen sein könnte, in der dies Land aus seiner so tief eingefressenen Krise herausfindet.   

Der unersetzliche Maßstab des Geldes

Die Staatsschulden erreichen Weltkriegs-Dimensionen und eine Wende ist nicht in Sicht. Es regiert der Glaube, das Land könne außerhalb jeder Bilanzpflicht einfach weiterleben und überall hehre Ziele verkünden.  

Der unersetzliche Maßstab des Geldes

15. Februar 2024

Die kritische Schuldendiskussion, die in Deutschland im Anschluss an das BVerfG-Urteil vom 15.11.2023 kurz aufflammte, ist schon wieder zu Ende. Eine reelle Auseinandersetzung mit der rasanten Schuldenentwicklung wäre ja bald an den Punkt gekommen, wo die teuren und selbstzerstörerischen „großen Rettungen“ – Klima, Migration, Ukraine – in Frage gestellt worden wären. Es ist diese Rettungspolitik, die die Geldausgaben des Staates immer weiter steigert und die auch die Wertschöpfung des Landes schwer belastet. Doch die Frage, ob das Ziel einer „große Transformation“ dieses Landes noch haltbar ist, ist weiterhin tabu. Die Generaldebatte zum Bundeshaushalt 2024 am 30. Januar zeigte, dass die Regierung die noch bestehenden Verschuldungsgrenzen (die sogenannte „Schuldenbremse“) durchlöchern will. Und die Kritik der CDU/CSU-Opposition stand insofern auf tönernen Füßen, als sie das ruinöse Transformations-Ziel gar nicht in Frage stellte. 

So hatte die Debatte in großen Teilen etwas Gespenstisches. Als Haushaltsdebatte hätte sie sich ja um Bilanzen drehen müssen. Aber das geschah nicht. Man nimmt das immer größere Missverhältnis zwischen den Staatsausgaben und der Wertschöpfung im Lande gar nicht ernst, sondern dreht nur an der Interpretation der Tatsachen. Man fasst das Missverhältnis in neue Worte, und – oh Wunder – die roten Zahlen verwandeln sich in eine Brücke in die Zukunft. So erklärte der Finanzminister Lindner (FDP): „Diese Koalition hat einen Gestaltungsehrgeiz. Ich spreche daher nicht von einem Sparhaushalt, sondern von einem Gestaltungshaushalt.“. Der Finanzminister erklärt also nicht, aus welcher zusätzlichen Wertschöpfung die zusätzlichen Schulden bedient und abgetragen werden sollen, sondern er bietet stattdessen ein Wort an: „Gestaltung“. Ein Wort! Es klingt bedeutsam, ist aber völlig leer: Auf die Knappheiten dieser Welt ist „Gestaltung“ gar keine Antwort. Sie ist nur ein gewichtig tönendes Gerede – so wie es die Rede von den „Zukunftsinvestitionen“ ist.

Hier werden nicht nur wichtige Grundsätze einer guten Finanzverwaltung verletzt, sondern hier findet eine fundamentale Veränderung der Sphäre der Politik statt: Geld-Verhältnisse werden durch Wort-Konstrukte ersetzt. So verliert die Sphäre der Politik ihre Bindungen an die Realität. Ihre Entscheidungen sind so einer Messung an belegbaren und berechenbaren Wirkungen entzogen. Die Politik bewegt sich im spekulativen Bereich von Ängsten und Hoffnungen. Die politischen Akteure entledigen sich so jeglicher Erfolgskontrolle und Verantwortlichkeit. 

Das muss man sich vor Augen führen, wenn in diesen Tagen unaufhörlich „der Schutz der Demokratie“ beschworen wird – beschworen von Leuten, die den Maßstab demokratischer Legitimation einfach umdefiniert haben. Zur Erinnerung: Das BVerfG-Urteil hatte Parlament und Regierung in die Pflicht genommen, auch in Notlagen die „Geeignetheit“ von zusätzlichen Schulden nachzuweisen. Doch nun wird so getan, als gehöre diese Nachweis-Pflicht nicht zur Rechtslage im Lande. Als wäre sie nur irgendein Redebeitrag.  

Über das Geldwesen (I) 

Umso wichtiger ist es, positiv die Bedeutung des Geldwesens als unersetzlicher Maßstab für die Lage und die Möglichkeit eines gegebenen Landes herauszuarbeiten. Das Geldwesen ist eigentlich ein recht präziser Indikator, ob die Verhältnismäßigkeit im Einsatz der Mittel von Staat und Wirtschaft gewahrt ist. So kann auch kritisch geprüft werden, ob ein Land nicht schon längere Zeit über seine Verhältnisse lebt. Diese Prüfung ist in unserer Zeit dringlicher denn je. In der Politik ist es inzwischen gängige Münze geworden, bei allen möglichen Problemen zwei- oder dreistellige Milliarden-Beträge in Aussicht zu stellen. Zur Erinnerung: Eine Milliarde sind 1000 Millionen, zweihundert Milliarden sind 200.000 Millionen. Welche Anstrengungen, Mühen, Entbehrungen sind nötig, um solche Summen zu erwirtschaften! Wie lange dauert es, bis solche Kapitale gebildet sind – eine Generation reicht dazu nicht. Doch in unserer Zeit genügen schon einzelne Ereignisse – Wetterextreme, Kriege, Migrationsbewegungen – um Ausgaben zu veranlassen, die eine Volkswirtschaft und ein ganzes Land in eine Überschuldung und damit in eine Schuld-Knechtschaft drücken. 

Dabei ist eine Präzisierung wichtig: Es geht hier nicht allein um die absolute Höhe der Schulden. Erst wenn diese Höhe ins Verhältnis zu der Produktivität eines Landes gesetzt wird, ist wirklich feststellbar, ob eine Überschuldung vorliegt oder nicht. Eine hohe Verschuldung kann beherrschbar sein, wenn es eine entsprechend starke Entwicklung der Produktivität gibt. Aber die Produktivität muss real sein, also beobachtbar und messbar an der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Es kommt also auf die Schuldenquote an: auf das Verhältnis zwischen Verschuldung und Bruttoinlandsprodukt. Und auf die Entwicklung dieses Verhältnisses.   

Über das Geldwesen (II) 

Ein vielzitierter Satz des österreichischen Ökonomen Joseph A. Schumpeter lautet:  

„Im Geldwesen eines Volkes spiegelt sich alles, was dieses Volk will, tut, erleidet, ist; und zugleich geht vom Geldwesen eines Volkes ein wesentlicher Einfluss auf sein Wirken und auf sein Schicksal überhaupt aus.“

Aus diesem Zitat spricht ein guter Ernst in Bezug auf das Geldwesen. Schumpeter geht davon aus, dass das Geldwesen die Knappheiten dieser Welt und auch die Anstrengungen der Menschen abbilden kann.  Es ist vom „Wirken“ der Menschen und auch von den objektiven Schwierigkeiten dieses Wirkens die Rede, also von einer Ebene, in der rein sprachliche Geltungsansprüche – pessimistische oder optimistische „Erzählungen“ – wenig ausrichten können. Sie können allenfalls (vorübergehend) beeindrucken.

Schumpeters Betonung des Einflusses, den das Geldwesen hat, könnte man eventuell als Einladung zu einer Ankurbelung der Wirtschaft durch „deficit spending“ verstehen, wie sie John Maynard Keynes vertrat. Aber das ist keineswegs der Fall. Das zeigt Schumpeters Sicht der Weltwirtschaftskrise 1929. Als Erklärung für diese Krise sah er übertriebene Gewinnerwartungen während der zweiten industriellen Revolution in den 1920er Jahren. Diese Gewinnerwartungen hätten die allgemeine Risikobereitschaft so gesteigert, dass viele Investments auf großen Schulden basierten. Schumpeter weist also auf die Bedeutung einer realistischen Einschätzung von technologischen Entwicklungen hin. Im Geldwesen spiegelt sich mehr als nur eine „Geldpolitik“, wie ein verbreiteter Management-Glaube vermutet. Um zu beurteilen, ob eine Verschuldung tragbar ist oder in eine Schuldknechtschaft führt, muss man die Entwicklung der Produktivität der Betriebe und der Tragfähigkeit der Infrastrukturen berücksichtigen. Diese ist nicht geldpolitisch „machbar“, sondern hat ihre eigenen geschichtlichen Rhythmen. Ein Land braucht daher eine realistische Einschätzung der in einer Zeitperiode möglichen Entwicklung. Man muss dem Geldwesen, das gerade in seinen nüchtern-knappen Zahlenverhältnissen mehr ist als eine Sprache, einen eigenen hohen Rang mit starken institutionellen Sicherungen einräumen. Und man kann grundlegende technische, kulturelle, soziale Entwicklungen entdecken, wenn man sie im Licht der Schuldengeschichte eines Landes betrachtet.      

Die USA im Lichte ihrer Schuldengeschichte 

Die folgende Graphik stellt die Entwicklung der Schuldenquote (Staatsschulden in Relation zum Bruttoinlandsprodukt) in den USA seit dem 2. Weltkrieg dar:

Die Graphik zeigt zunächst (auf der linken Seite) eine steil ansteigende Schuldenquote, die gegen Ende der 1940er Jahre ihren Höhepunkt erreicht – also am Ende des 2. Weltkriegs (einschließlich des pazifischen Kriegsschauplatzes). Diese hohe Verschuldungsquote wird dann relativ rasch wieder abgebaut und beträgt Ende der 1960erJahre nur ein Drittel des Spitzenwerts. Das ist ein bemerkenswertes historisches Beispiel von Schuldenabbau durch Produktivitätswachstum. Doch gegen Ende der 1970er Jahre beginnt ein neuer Anstieg der Schuldenquote, der Mitte der 1990er Jahre ein beträchtliches Niveau erreicht und auf dieser Stufe bis Ende der 2000er Jahre verharrt. Und dann kommt es nicht wieder zu einem Rückgang, sondern zu einem zweiten Anstieg, der Anfang der 2020er einen Höhepunkt erreicht, der sogar über der Schuldenquote der USA am Ende des 2. Weltkriegs liegt. Und das ist nicht nur ein kurzer Höhepunkt, sondern der Beginn einer neuen Stufe. Zunächst deutet sich zwar ein gewisses Sinken der Schuldenquote an (ganz rechts auf der Graphik), aber inzwischen steigt sie wieder. Eine Prognose sieht für das Jahr 2028 einen Anstieg auf 137,50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts voraus. Das bedeutet, dass die Schuldenquote der USA jetzt dauerhaft über der Schuldenquote nach dem 2. Weltkrieg liegt.  

Eine historisch neue, dramatische Situation 

Wir haben also im Führungsland des globalen Westens eine Schuldenquote von historischen Ausmaßen. Aber es gibt keinen großen Krieg. Auch die Rüstungsausgaben der USA sind nicht der Haupttreiber der zunehmenden Verschuldung. Und die Verschuldungsquote kann offenbar nicht mehr durch Produktivitätsgewinne zurückgeführt werden, wie es in den 30 Jahren nach dem 2. Weltkrieg geschah. Vielmehr gibt es einen stufenweisen Anstieg der Verschuldung, bei dem kein Ende oder gar Rückbau abzusehen ist. Das ist zwar Anlass für mahnende Worte, aber in der nationalen und internationalen Wahrnehmung erscheint er offenbar nicht als so bedrohlich, dass er zu einer Zahlungskrise oder einem drastischen Politikwechsel führt. Was ist da geschehen? Welcher Wandel spiegelt sich nun im Geldwesen? Oder hat das Geldwesen vielleicht überhaupt an Bedeutung verloren? Ist das Geldwesen durch ein ganz anderes Medium der Stabilisierung ersetzt worden? Aber hat dieser Ersatz nicht eventuell fundamentale eigene Schwächen und ist nur ein Scheinersatz, der nicht hält, was er verspricht?  

Die Schuldengeschichte bildet tiefgreifende Veränderungen ab 

Die hier gestellten Fragen gehen weiter als die Frage nach der „richtigen Geldpolitik“. Sie lassen sich auch nicht damit beantworten, dass ein paar „Reiche und Mächtige“ die Finanzen dieser Welt zu ihrem Vorteil manipulieren. Es ist wahr, dass das heutige Geldwesen sich stark von dem Geldwesen, wie es Schumpeter sah, unterscheidet. Aber wer mag im Ernst glauben, dass der harte Maßstab des Geldes ersetzt wird durch eine personale Herrschaft über die ganze Welt? Wann und wo hätte diese kolossale Machtergreifung stattgefunden? Viel plausibler ist, dass die historisch neue Schuldenquote und der dabei herrschende Leichtsinn mit tiefergehenden, strukturellen Verschiebungen in Verbindung steht – mit gesellschaftlichen Verschiebungen, mit materiell-technischen Verschiebungen, mit kulturellen Verschiebungen.     

Nur so wird auch die hier abgebildete Schuldengeschichte der USA verständlich. Sie zeigt einen längeren Prozess mit verschiedenen Stufen und Perioden. Jede Stufe und Periode ist mit einer bestimmten gesellschaftlichen, materiell-technischen und kulturellen Realität verbunden. Und das gilt auch für viele andere Länder der westlichen Welt. Es gibt überall ein ähnliches Grundmuster, aber es gibt auch erhebliche Unterschiede bei der Höhe der Verschuldungs-Stufen und bei der Dauer der Perioden. So wies Deutschland lange Zeit eine relativ niedrige Schuldenquote auf, die aber im Laufe der vergangenen 10 Jahre in einen immer schnelleren Schuldenzuwachs umgeschlagen ist. Parteipolitisch ist dieser Zuwachs nicht zuzurechnen, denn sowohl CDU/CSU noch SPD haben daran mitgewirkt. Und sie haben sich – im Verhältnis zu dem, was sie in den ersten dreißig Jahren Bundesrepublik waren – fundamental gewandelt. 

Ein stabiles Geldwesen ist ein Schlüssel der Veränderung 

Es ist wichtig, diese Verschiebungen zu begreifen. Das bedeutet nicht irgendein leeres und letztlich hilfloses Wissen. Ganz im Gegenteil: Wenn wir die heutige Überschuldung tiefer verstehen, können wir Möglichkeiten und Hebel einer Änderung entdecken. Gegenwärtig erleben wir, wie diejenigen, die die rasante Verschlechterung der Schuldenquote zu verantworten haben, jetzt behaupten, sie allein ständen für „die Zukunft“ dieses Landes. Oder gar für „die Demokratie“. Umso wichtiger ist es, nicht nur das Zerstörerische und Bösartige dieses Alleinvertretungs-Anspruchs zu zeigen, sondern auch seine strukturelle Schwäche. Denn was haben diese Leute als Ersatz für ein unstabil gewordenes Geldwesen zu bieten? Erzählungen, Zeichen-Setzen, Kommunikation. Damit ist ein beträchtlicher Sektor im Lande beschäftigt, aber es ist letztlich doch nur ein Wortwesen. 

(Erschienen am 26.2.204 im Rahmen meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)

Herr Kafsack und die Wahrheit der Traktoren  

Zu Beginn des neuen Jahres versuchen die Regierenden eine fundamentale Tatsachen-Verdrehung durchzusetzen. Der Existenzkampf der Bauern wird als Kampf für Privilegien diffamiert.    

Herr Kafsack und die Wahrheit der Traktoren  

14. Januar 2024

Was haben die Regierenden angesichts wachsender Unzufriedenheit im Lande zu bieten? Nichts Handfestes. Nur eine dreiste Umdeutung der Dinge. Sie tun so, als seien sie ganz neuen Ansprüchen aus der Gesellschaft ausgesetzt und müssten diese im Namen einer verantwortungsvollen „Sparsamkeit“ ablehnen. In der Auseinandersetzung mit den Bauern tun sie so, als würden die Bauern auf einmal zusätzliche Subventionen fordern. Der wirkliche Vorgang ist genau umgekehrt: Es sind die Regierenden, die beschlossen haben, die Verbilligung des Agrardiesels, die schon lange besteht, wegfallen zu lassen. Und das geschieht vor dem Hintergrund erhöhter Energiepreise, die wiederum durch Regierungsentscheidungen herbeigeführt wurden. So hat man gerade wieder die CO2-Emissions-Abgaben erhöht und damit den Diesel noch teurer gemacht. Und die Bauern brauchen den Agrardiesel als Arbeitsmittel und nicht, weil sie aus Jux und Tollerei herumfahren. Sie sind schon extrem sparsam, und müssen sich von keiner Regierung dazu anhalten lassen. Sie können auch nicht auf Elektro-Traktoren umsteigen – es gibt sie nicht. 

Und die Verdrehung von Angriff und Abwehr geht noch weiter: Als die Regierenden daran gingen, den Menschen ihre bisherigen Automobile und Heizungen zu nehmen, sprach man davon, diese Eingriffe durch Hilfsgelder abzufedern. Man gab also zu, dass es ein Einschnitt durch die Regierung war. Aber das Hilfsgelder-Versprechen beruhte auf einem Betrug: Man hatte die Gelder gar nicht in einem ordnungsgemäßen Staatshaushalt zur Verfügung gestellt. Der Betrug ist aufgeflogen. Entschließt man sich jetzt, das Naheliegende zu tun, und die Einschnitte zurücknehmen und damit die Hilfsgelder überflüssig zu machen? Oh nein, man schickt sich an, die Einschnitte ohne jede Hilfe eiskalt durchzudrücken.  

Dagegen haben sich die Bauern erhoben. Sie führen keinen Angriffskampf, sondern einen Abwehrkampf um ihre Arbeits- und Lebensbedingungen. Sie vertreten damit ein Anliegen, das auch in anderen Wirtschaftszweigen von anderen Teilen der Bevölkerung aufgegriffen werden kann. Ob das Jahr 2024 einen Sturz der Regierung sehen wird, ist ungewiss. Wahrscheinlicher und wichtiger ist, dass ein Teil der deutschen Gesellschaft wehrhafter wird. Und dass neben der Welt, wie sie die Regierung und die selbsternannten „Leitmedien“ darstellen, eine andere, handfestere Welt sichtbar wird.   

Herr Kafsack und die „verwöhnten Bauern“

Am 9.Januar 2024 erschien im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Kommentar unter der Überschrift „Verwöhnte Bauern“. Der Autor, Hendrik Kafsack, schrieb dort von „satten Einkommenssteigerungen“ im Jahr 2023. Und auch folgender Satz war zu lesen: „Zwei Drittel des Einkommens der Bauern entfallen auf Brüsseler Direkthilfen, die sie faktisch ohne Gegenleistungen enthalten.“ Offenbar geht der Autor davon aus, dass die von den Bauern am Markt erzielten Preise die Wahrheit über ihre Leistungen aussagen. Die Arbeit der Bauern wäre also nicht mehr wert als die Erzeugerpreise. Der Rest, so unterstellt der Artikel, wären demnach Geschenke des Staates an die Bauern. Aber von den Erzeugerpreisen können die Bauern und die in der Landwirtschaft beschäftigten Menschen nicht leben. Auch das Kapital der Betriebe kann nicht erhalten werden. Und es gibt eine zweite Seite des Problems: Würde man die Erzeugerpreise so weit erhöhen, wie es ein gerechter Ausgleich erfordern würde, würde eine gigantische Teuerungswelle durchs Land rollen. Die Preise für viele nachgelagerte Produkte und die allgemeinen Kosten des Lebens in Deutschland würde drastisch ansteigen. Die Lage der Landwirtschaft steckt in einem grundlegenden Dilemma. An diesem Punkt kommen nun die staatlichen Hilfszahlungen ins Spiel. Sie sind ein Lastenausgleich. Wenn der FAZ-Autor sich in die Situation der Landwirtschaft einmal richtig hineindenken würde, müsste er sagen, welche Antwort auf das Dilemma er stattdessen zu bieten hat. Wie soll ein elementarer Sektor der Volkswirtschaft, dessen Wertschöpfung durch Naturbedingungen eingeschränkt ist, in eine Volkswirtschaft eingegliedert werden, ohne einen Lastenausgleich vorzunehmen? Denn es geht hier um einen Ausgleich für besondere, nicht entlohnte Lasten. Und nicht um Zusatz-Geschenke und Privilegien.  

Aber Herr Kafsack will von solchen ungleichen Grundbedingungen des Wirtschaftens nichts hören. Das Land seiner Ökonomie ist eine gleichförmig große Fläche, die für alle Sektoren der Wirtschaft gleich einladend ist – sodass jeder einfach nur loslegen muss und seines Glückes Schmied ist. Und weil der Journalist, der als Korrespondent in Brüssel sitzt, sich die Welt so schön eingerichtet hat, darf er jetzt ganz, ganz böse auf die Bauern sein: „Aber wenn die Bauern dann auf ein einziges ihrer Privilegien verzichten sollen, um ihren kleinen Beitrag zu einem verfassungsmäßigen Haushalt zu leisten, rollen die Trecker auf die Autobahnen. Das ist kein nachvollziehbarer Protest. Das ist eine Frechheit.“

Damit endete dieser Kommentar.

Herr Kafsack und die harte Arbeit

Am 11.Januar meldete sich derselbe Autor mit einem weiteren Kommentar zu Wort. Im ersten Teil fanden sich die Sätze: „Wer sonst arbeitet 60 Stunden in der Woche, vom frühen Morgen an? Viele würden von nachtschlafender Zeit sprechen. Und das für einen Stundenlohn, der trotz aller Hilfen kaum über dem Mindestlohnniveau liegt.“ Nanu? Derselbe Autor hatte doch gerade noch einen Kommentar unter der Überschrift „verwöhnte Bauern“ geschrieben und darin den Protest der Bauern als „Frechheit“ bezeichnet. Nun zeigte er sich flexibel und schrieb zur Lage der Bauern das glatte Gegenteil – ohne freilich seinen ersten Kommentar ausdrücklich zurückzunehmen. Immerhin kann man aus dieser Wende ersehen, dass die These von den „verwöhnten Bauern“ in der öffentlichen Auseinandersetzung schwer angeschlagen ist. Herr Kafsack, der ein besonders vorlauter Vertreter dieser These war, musste nun zugeben, dass der Stundenlohn im Agrarsektor selbst mit den staatlichen Hilfen „kaum über dem Mindestlohnniveau liegt“. Das nehmen wir hier einmal zu Protokoll. 

Aber wer glaubt, dass sich der Autor nun auf die Seite der hart arbeitenden Menschen stellte, sieht sich getäuscht. Er stellte sich auf den Standpunkt „des Steuerzahlers“ – und dieser Steuerzahler fragt angeblich nicht nach der Schwere der Arbeit und der Bedeutung des Agrarsektors, sondern nach der „Größe“ der Subventionssumme: „Aus der Sicht der Steuerzahler müssen die Bauern sich aber auch die Frage gefallen lassen, warum Europäische Union und Bundesregierung ihnen eigentlich – seit Jahrzehnten – mit großen Summen helfen.“ An anderer Stelle hieß es im Kommentar: „Harte Arbeit allein ist noch kein Grund für die große Staatshilfe an die Bauern.“ Herr Kafsack fand für diese Staatshilfe die Formulierung, dass „der Staat die Hälfte der Einkommen der Bauern zahlt“. Dadurch erweckte unser Sprachkünstler den Eindruck, die Hilfszahlungen wären personenbezogen – und nicht arbeits- und betriebsbezogen. Sie seien eine Art Sozialhilfe zum Einkommen.  

Herr Kafsack und das Höfesterben 

Solange die Unterstützung als persönliche Einkommenszuwendung angesehen wird, kann die Möglichkeit, dass für einen ganzen Wirtschaftssektor eine Elementarzuwendung gezahlt werden muss, um die schwierigen Grundbedingungen dieses Sektors auszugleichen, gar nicht ernsthaft erwogen werden. Aber Herr Kafsack will eine Ausnahme gelten lassen: Wenn und soweit durch die Landwirtschaft „öffentliche Güter“ bereitgestellt werden, wäre eine staatliche Hilfe legitim. Der Autor – ich komme darauf noch zurück – denkt dabei an „die Natur“: Sofern Bauern Beiträge zu Umweltschutz, Klimaschutz und Tierwohl erbringen, sollen sie Ausgleichszahlungen erhalten. Die „Lebensmittelsicherheit“ zählt nur im extremen Notfall einer akuten Hungersnot zu den öffentlichen Gütern. Deshalb ist für Herrn Kafsack selbst ein größeres Höfesterben noch kein Grund für staatliche Ausgleichszahlungen. In seinem Kommentar heißt es: 

„Wenn wegen einer Kürzung der Subventionen Höfe, zumal meist kleine, `sterben´, wird dies eine sichere Versorgung nicht gefährden. Die folgende Knappheit dürfte sogar dazu führen, dass die Lebensmittelpreise auf das von den Landwirten lange geforderte `angemessene Niveau´ steigen. Zudem gibt es den Weltmarkt.“

Demnach kann und soll der Hauptteil der Agrarhilfen des Staates ersatzlos gestrichen werden. Auf dem Weg in die Landwirtschaft der Zukunft ist ein größeres Höfesterben ausdrücklich vorgesehen. Dabei setzt der Autor „sterben“ in Anführungszeichen. Das Sterben ist also nicht so schlimm, denn die folgende Knappheit „dürfte dazu führen“, dass die Preise für Lebensmittel steigen. Ist das nicht im Sinne der Bauern? Aber deren Höfe sind dann längst tot, und eine Auferstehung ist nach aller agrargeschichtlichen, wirtschaftsgeschichtlichen und regionalgeschichtlichen Kenntnis sehr unwahrscheinlich. Wenn bäuerliche Existenzen vernichtet werden, gehen lange gewachsene Strukturen – Sachkapital, Kulturlandschaften, menschliches Wissen und Arbeitsvermögen – verloren. Kein Drücken auf die „Neustart“-Taste kann sie zurückholen. Es ist so wie der Boden in bergigen Regionen, der auf Nimmer-Wiedersehen weggeschwemmt wird, wenn er nicht durch Vegetation und ständige Bewirtschaftung festgehalten wird. 

Herr Kafsack und seine „Agraragenda“

Der hier zitierte Kommentar trägt die Überschrift „Zeit für eine positive Agraragenda“. Herr Kafsack will also „positiv“ sein. Aber die Agenda ist eigentlich eine Auslese-Agenda, die nur noch wenige Sachverhalte mit Hilfsgeldern unterstützen will und die Betriebe bei allen anderen Seiten der Produktion sich selbst überlässt. Als unterstützenswerter Sachverhalt bleibt, so der Autor, „der Beitrag, den Landwirte zum Umweltschutz, Klimaschutz und Tierwohl leisten“. Also geht es um ein reines Natur-Erhaltungs-Programm. Die wertschöpfende Leistung der Lebensmittelproduktion gehört nicht dazu. Die Natur-Erhaltung bedeutet zusätzliche Kosten, die die Erträge pro Arbeitsstunde, pro Bodenfläche und pro Anlagevermögen nicht erhöhen, sondern senken. Sie führen nicht zu einer Entlastung der Landwirtschaft und zu einer hohen Zahl und Diversität an Betrieben, Arbeitsplätzen, Arbeitsformen, Produkten und Qualitätsniveaus. Mit anderen Worten: Die Agenda ist sehr selektiv. Nur wenige Bessergestellte können sie sich leisten. Eine solche „Modernisierung“ ist in Wirklichkeit eine „Bereinigung“ – eine Kahlschlag-Sanierung. 

Es ist in diesen Tagen viel von einer großen Debatte über „grundlegende, zukunftsfähige Lösungen“ für die Landwirtschaft die Rede. Man gaukelt den Bauern und der deutschen Öffentlichkeit vor, es gäbe da ein Agrarmodell, das die bisherigen und die zusätzlichen Kosten ohne größere staatliche Hilfen bezahlen kann. In Wirklichkeit kann das nur in Einzelfällen an bevorzugten Orten gelingen. An solchen Orten setzt man oft darauf, eine Landschaft touristisch zu vermarkten. Die Landwirtschaft wird dann in einen Themenpark verwandelt. Ihre Produktionsfunktion ist nur noch Beiwerk zum „Naturerlebnis“. 

Herr Kafsack treibt die Selektivität aber noch weiter. Er will die gesamte staatliche Unterstützung der Landwirtschaft auf eine Projekt-Unterstützung umstellen. Das bedeutet, dass jegliche dauerhafte Förderung aufgelöst wird. Die Höfe müssen sich von Projekt zu Projekt hangeln. Wie aus diesem Tanz um alle möglichen einzelnen und wechselnden Fördertöpfe eine nachhaltige Landwirtschaft hervorgehen soll, ist das Geheimnis des Autors. Das hindert ihn nicht an einer Grundsatz-Kritik der bestehenden Agrarpolitik: 

„Leider ist die letzte EU-Agrarreform hinter den Notwendigkeiten zurückgeblieben. Ein Großteil der EU-Hilfen ist weiter an die Größe des Hofs gekoppelt. Die Empfänger müssen gewisse Gegenleistungen erbringen, mit umfassenden Umwelt- und Tierwohlauflagen aber hat das nichts zu tun. Stattdessen hätte die EU die kompletten Hilfen für konkrete Projekte im öffentlichen Sinn reservieren sollen. Der Zusammenhang zwischen Hilfe- und Gegenleistung wäre dann klar, weitere Berliner Auflagen unnötig. Solche Vorschläge lagen vor. Die Bauernvertreter haben sie, begleitet von Protesten auf Brüsseler Straßen, verhindert.“

Das ist durchaus ein Lehrstück: Es gibt eine Kritik an der EU-Agrarpolitik, die alles noch radikaler und schlimmer machen will, und die in Wahrheit eine Kritik an den widerspenstigen Bauern ist.   

Im Schlussabschnitt des Kafsack-Kommentars darf der geneigte FAZ-Leser Anteil nehmen an einer wahrhaft verlockenden Zukunftsvision. „Statt zu klagen, wäre Zeit, mitzuarbeiten an einer positiven Agenda einer modernen Landwirtschaft, die gute Gründe für staatliche Hilfe liefert. Einige junge Bauern leben es vor. Dann rollen die Städter mit ihren (E-)Autos vielleicht wieder mit gutem Gefühl aufs Land statt die Trecker in die andere Richtung.“  Der Bauer soll also nicht mehr mit dem Traktor in die Stadt fahren, sondern still auf dem Acker schuften. Oder er soll ganz verschwinden und der reinen Natur das Feld überlassen. Der eigentliche Adressat solcher Visionen ist nicht der Bauer, sondern der Städter – genauer: jene besserwissenden und besserverdienende Milieus, die gerne glauben wollen, dass die Bauern „verwöhnt“ sind, während das eigene wohlausgestattete Dasein in der Stadt „verdient“ ist. Ihnen stellt Herr Kafsack in Aussicht, dass sie bald ganz unbeschwert mit ihren E-Mobilen und einem dichten Netz von hochsubventionierten E-Tankstellen übers Land rollen können.     

Die Wahrheit der Traktoren (I) 

An dieser Stelle wird deutlich, welches Manöver hier stattfindet. Man stellt eine „große Debatte“ in Aussicht, und will sie über angebliche „grundlegende Zukunftsfragen“ der Landwirtschaft führen. Aber damit ist schon vorprogrammiert, dass man sich auf die Suche nach etwas vollkommen Neuem machen soll, und die Gegenwart nicht mehr zählt. Aus der „großen Debatte“ guckt vorne und hinten die schon sattsam bekannte grüne „Agrarwende“ heraus. Demgegenüber hat die Bauernbewegung ein ganz anderes Anliegen, das in manchen Ohren geradezu unanständig klingen muss: Sie wollen der Landwirtschaft, so wie sie jetzt besteht und liefert, Respekt verschaffen. Sie wollen diese Landwirtschaft in Wert setzen. Mit anderen Worten: Sie wollen das Bestehende erhalten und darauf aufbauen. Sie wollen die reale Gegenwart nicht für eine Zukunft hergeben, die nur aus „Projekten“ mit ungewissem Ausgang und ungeprüften Nebenfolgen besteht. Deshalb ist das Ziel „Erhaltung des Agrardiesels“ für die Bauern so wichtig. Das Angebot der Regierung „Wir ziehen die Abschaffung des Agrardiesels durch, und ihr bekommt dafür eine große Debatte“ ist deshalb völlig unannehmbar. Es ist ein schändlicher Betrugsversuch. Eine Unverschämtheit. 

Die Wahrheit der Traktoren (II)

In diesem Text spielt „Herr Kafsack“ eine prominente Rolle. Da ist eine Klarstellung nötig. Es geht nicht darum, hier eine einzelne Person an den Pranger zu stellen. Hendrik Kafsack ist kein Extremist, kein Chef-Ideologe, kein geheimer Strippenzieher. Er ist repräsentativ für einen Teil der Gesellschaft, dem die Lage der Bauern gleichgültig ist und der ihrer Bewegung ablehnend gegenübersteht. Auch in den Medien gibt es vielerlei Bemühungen, die Bauernbewegung in der Öffentlichkeit mit dem Stempel „rückwärtsgewandt“ zu versehen und ihr vorzuwerfen, sich dem zu verweigern, was hierzulande als „die Zukunft“ gilt. Hier sind offenbar soziale Milieus am Werk, die sich einbilden, für das ganze Land und seine Entwicklung sprechen zu können. 

In Deutschland und vielen anderen Ländern findet gegenwärtig nicht nur eine politische Auseinandersetzung statt, sondern auch eine soziale Auseinandersetzung. Menschen machen aufgrund ihrer Stellung in Gesellschaft und Welt unterschiedliche Erfahrungen und beurteilen die Dinge unterschiedlich. Diese Unterschiede werden in unserer Gegenwart schärfer. Es bilden sich nicht nur konträre politische Lager, sondern auch konträre soziale Lager. Der Ton wird rauer. Das muss nicht unbedingt etwas Schlechtes oder Gefährliches bedeuten. Es kann auch zeigen, dass sich nun Dinge heftig bemerkbar machen, die seit langer Zeit keine Berücksichtigung im Lande finden. 

Mit der Bauernbewegung sind nicht nur bestimmte Forderungen laut geworden, sondern auch die Arbeits- und Lebensformen, die mit der Herstellung von materiellen Gütern verbunden sind, und die aus der städtischen Welt weitgehend verdrängt wurden. Nun sind sie wieder zurück in den Städten – und werden im Bewusstsein präsent bleiben. Die Bauern stehen in einem Weltbezug, in dem das gegenständliche Tun eine viel größere Rolle spielt als das bloße Kommunizieren zwischen Menschen. Ihre Aktionswoche hat wirklich diesen Namen verdient: Sie haben eine materielle Leistung mitgebracht und in die Waagschale geworfen. Mit ihren Traktoren haben sie eine ganz ungewohnte Wucht auf die Straße gebracht. Schlagartig wurde erfahrbar, dass es ein Deutschland gibt, das mehr bewegt als Worte und Bilder. 

Die Bauernbewegung hat also die Hegemonie der medialen Welt angetastet. Diese Auseinandersetzung wird weitergehen. Zunächst mag es so scheinen, als wäre die mediale Macht bedeutender als die Traktoren-Macht. Aber es wird sich noch zeigen, wer letztlich am längeren Hebel sitzt.

(Erschienen am 19.1.2024 im Rahmen meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)  

Eine Politik des Dauernotstands führt in den Staatsbankrott

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Staatsverschuldung kann nur durch eine Abkehr von der Politik der endlosen „großen Rettungen“ erfüllt werden.

Eine Politik des Dauernotstands führt in den Staatsbankrott

18. Dezember 2023

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 15.November 2023 hat den Nachtragshaushalt der Bundesregierung für das Jahr 2021 für unvereinbar mit dem Grundgesetz und damit nichtig erklärt. Aber es stellt auch grundlegende Anforderungen einer verfassungsgemäßen Haushaltsführung und damit Grenzen der Staatsverschuldung in Deutschland klar. Dazu gehören die Grenzen, die den Regierenden bei der Berufung auf eine „Notlage“ gezogen sind, wenn sie ein Abweichen von der normalen Haushaltsführung legitimieren wollen. Eigentlich müsste dies Urteil also eine Überprüfung der Politik der „großen Rettungen“ – insbesondere in den Bereichen Klima-Rettung Migranten-Rettung und Ukraine-Rettung – zur Folge haben. Das Urteil wäre eine Chance: Man könnte es zum Anlass nehmen, um im blinden Weiter-So innezuhalten und zu prüfen, ob die mit immensen Ausgab en auf Schuldenbasis verbundene Rettungspolitik noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den Kräften des Landes steht. Die ausufernde Finanzpolitik der Regierenden gibt sehr viel Geld für sehr fragwürdige Ziele aus. Und sie gibt das Geld auch für den Versuch aus, die immensen Kosten der Rettungspolitik etwas zu dämpfen und die den Bürgern auferlegten Opfer dadurch in einem milderen Licht erscheinen zu lassen. So dienen diese Ausgaben dem Zweck, die Politik der „großen Wenden“ fortzusetzen, obwohl das Erreichen ihrer Ziele in eine immer weitere Ferne rückt. Demgegenüber böte das BVerfG-Urteil also die Chance zu einer grundlegenden Kurskorrektur in diesem Land. 

Das wahre Gesicht der „großen Rettungen“ 

Doch erstmal geschieht etwas ganz anderes: Mit den Beschlüssen der Bundesregierung zum Bundeshaushalt 2024 werden nicht die Grundentscheidungen zur Energiewende, Verkehrswende, Heizungswende, Agrarwende, usw. korrigiert. Sie werden nicht mal für die nächsten Jahre zur Überprüfung zurückgestellt. Jede Änderung hier ist ein Tabu. Und obendrein werden nun die Finanzhilfen gestrichen, die die teuren und zerstörerischen Folgen der Wendepolitik etwas mildern und beschönigen sollten. Damit zeigen die „großen Rettungen“ nun ihr wahres Gesicht. Die schlimmen Folgen der Wendepolitik werden mit kalter Rücksichtslosigkeit serviert. Die Belastungen werden ganz ungeschminkt vom Staat auf die Bürger abgewälzt – auf die Privathaushalte, auf die Unternehmen, auf die öffentlichen Infrastrukturen. Die Energie wird durch eine erhöhte Abgabe auf CO2-Emissionen noch weiter verteuert. Die Auslauf-Beschlüsse für Verbrenner-Motoren und Verbrenner-Heizungen bleiben bestehen. Aber die „alternativen Lösungen“ (E-Mobile, Wärmepumpen) werden für die breite Mehrheit noch unerschwinglicher als sie eh schon sind – weil Kaufprämien gestrichen wurden. Schamlos werden die Normen und Kosten für das Bauen, für den Betrieb einer Industrie, eines Handwerks, einer Landwirtschaft und auch für den Betrieb von Infrastrukturen für Energie, Wasser, Müll erhöht. Dies geschieht für Ziele wie „heiler Umwelt“ oder „sozialem Zusammenhalt“, die bekanntlich unendliche Ziele sind, und bei denen zugleich jeder Abstrich ein Tabu ist. Diese Kombination von Unendlichkeit und Tabu herrscht auch bei der Massenmigration und beim Ukraine-Krieg.  

Ein perfides Politik-Spiel 

Und nun hat, am Ende des Jahres 2023, ein perfides Politik-Spiel begonnen. Man denkt nicht im Traum daran, die großen Grundentscheidungen anzutasten, sondern stellt die Bürger vor eine erpresserische Wahl: „Wollt ihr die großen Wenden mit Hilfsgeldern oder wollt ihr sie ohne Hilfsgelder?“ So sollen die Wenden selbst unantastbar bleiben. Und die jetzigen Kürzungen sind nur der erste Teil dieses perfiden Spiels. Man wartet auf den Aufschrei der Bürger, um dann zu sagen: Tja, wenn das so ist, dann müssen wir doch viel mehr Schulden aufnehmen und dazu müssen wir halt irgendeine Formel von „außerordentlichem Notstand“ erfinden, um die höhere Verschuldung zu legitimieren. Dass es hier gar nicht um einen zeitlich begrenzbaren Ausnahmezustand geht, sondern um einen jahrzehntelangen Dauerzustand, muss bei diesem Politik-Spiel verschwiegen werden. Ebenso gehört zu den Spielregeln, dass niemand die Frage stellen darf, aus welchen Mitteln die Schulden, die sich so immer höher auftürmen, jemals an die Gläubiger zurückgezahlt werden können.         

Das Anliegen des Bundesverfassungsgerichts-Urteils 

Umso wichtiger ist es, noch einmal auf das BVerfG-Urteil zurückzukommen. Das Urteil stellt fest, dass die Übertragung von Kreditermächtigungen zur Corona-Bekämpfung auf den sogenannten „Klimatransformationsfonds“ verfassungswidrig war. Das BVerfG erklärt diese Übertragung auch materiell-rückwirkend für nichtig – so fehlten der Bundesregierung auf einmal 60 Milliarden Euro. Das Urteil ist sehr richtig und wichtig. Indem die Übertragung von Geldmitteln von einem Notstand auf einen anderen Notstand zum Verfassungsbruch erklärt wird, wird ein Einfallstor für eine wuchernde Schuldenpolitik geschlossen. Jede neue Sonder-Verschuldung, die sich auf einen Notstand beruft, muss das Neue dieses Notstands belegen. Eine vage Not-Verkettung nach dem Motto „Die Welt ist aus den Fugen“, wie sie in den Massenmedien gängige Münze ist, ist für einen demokratischen Verfassungsstaat nicht zulässig. 

Bedeutsam ist, dass dieser Verfassungsbruch im Namen des sogenannten „Klimaschutzes“ praktiziert wurde. Hier ist das BVerfG-Urteil ein historischer Markstein: Sie zeigt, dass die sich auf den Klimaschutz berufende „große Transformation“ des Landes in einen Grundsatz-Konflikt mit einem überprüfbaren und eingrenzbaren Staatshaushalt geraten ist. „Klima“ ist irgendwie überall und die „Klimakrise“ sprengt jeden zeitlichen Rahmen. Eine jährliche Haushaltsbilanz erscheint dann sinnlos. Es ist kein Zufall, dass die Regierenden nach dem Urteil versuchen, die politische Aufmerksamkeit auf sogenannte „notwendige Zukunftsinvestitionen“ zu lenken. Das ist eine merkwürdige Wortkonstruktion, die das unmittelbar „Notwendige“ und das in einer fernen „Zukunft“ Liegende miteinander verklebt. Es ist eine staatsgefährdende Konstruktion. Wo solche „Investitionen“ regieren, ist der Weg frei für eine dauerhafte Überschreitung jeglicher Schuldengrenze. Denn niemand kann sagen, inwieweit es sich um echte Investitionen handelt, die eine zusätzliche Wertschöpfung zur Folge haben, oder um fruchtlose Geldausgaben (und damit keine Investitionen). Die Rückführbarkeit der Schuldenhöhe ist dann reine Spekulation. Unter diesem Vorzeichen wird die jährliche Haushalts-Debatte des Parlaments und sein Entscheidungsrecht über Gewährung oder Nicht-Gewährung neuer Kredite zur Farce. Dabei geht es hier eigentlich um das „Königsrecht“ des Parlaments. Es ist das wichtigste Unterpfand des demokratischen Souveräns für eine maßvolle Staatsführung in Krisen- und Kriegszeiten.  

Die Grenzen des finanzpolitischen Notstands 

Mit dem BVerfG-Urteil werden der Möglichkeit der Regierenden, sich auf „Notsituationen“ zu berufen, enge Grenzen gesetzt. Das gilt auch für eine Aussetzung der sogenannten „Schuldenbremse“. Und auch bei einer Veränderung der Schuldenbremse durch den Gesetzgeber, wird er dies Urteil beachten müssen. Denn es präzisiert, was eine Ausnahmesituation im verfassungsrechtlichen Sinn ist. In einem Artikel des Freiburger Wirtschaftsprofessors Lars Feld („Finanzpolitik nach dem Verfassungsurteil“, in der FAZ vom 21.11.2023) heißt es dazu in Anlehnung an den Wortlaut des Urteils: „In einer Ausnahmesituation, im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, darf sich der Bund höher verschulden, als es die zuvor skizierte Normallage erlaubt.“ Demnach lässt sich nicht jede Beeinträchtigung der Wirtschaftsabläufe als außergewöhnliche Notsituation im Sinne des Artikels 115, Absatz 2 interpretieren. Die Folgen von Krisen, die „lange absehbar waren oder gar von der öffentlichen Hand verursacht worden sind“, dürfen nicht mit Notkrediten gemildert oder behoben werden. Und der Autor zieht (mit Ausrufezeichen) die Schlussfolgerung: „Die Klimakrise ist somit keine Krise im Sinne des Art.115 Abs.2 Satz 6 GG!“

Ein unscheinbarer, aber wichtiger Begriff: „Geeignetheit“ 

Das BVerfG-Urteil ist nicht bloß ein Urteil über verwaltungstechnische „Instrumente“ (wie es die SPD-Bundesvorsitzende Eskens behauptet), sondern betrifft die Rettungspolitik als solche. Diese Tiefe des Urteils findet sich in Formulierungen, deren Tragweite man nicht sofort erkennt. Ich zitiere hier aus der Kurzfassung des Urteils:  

„Je länger die diagnostizierte Krise anhält und je umfangreicher der Gesetzgeber notlagenbedingte Kredite in Anspruch genommen hat, desto detaillierter hat er die Gründe für das Fortbestehen der Krise und die aus seiner Sicht fortdauernde Geeignetheit der von ihm geplanten Maßnahmen zur Krisenbewältigung aufzuführen. Er muss insbesondere darlegen, ob die von ihm in der Vergangenheit zur Überwindung der Notlage ergriffenen Maßnahmen tragfähig waren und ob er hieraus Schlüsse für die Geeignetheit künftiger Maßnahmen gezogen hat.“ 

Der Schlüsselbegriff ist hier „Geeignetheit“. Nehmen wir die Klimapolitik. Hier geht es nicht nur darum, wie groß man das Klimaproblem sieht. Selbst wenn man von einer größeren Klimakrise ausgeht, erledigt sich dadurch nicht die Frage, ob die Strategie und die daraus folgenden Maßnahmen, die mit dem zusätzlichen Geld auf Pump finanziert werden sollen, einen zielführenden (oder überhaupt nennenswerten) Effekt haben. Wenn das BVerfG-Urteil das Kriterium der „Geeignetheit“ hervorhebt, betrifft das also die sogenannte „CO2-Strategie“, das Kernstück der deutschen Klimapolitik. Es ist im Wesentlichen eine Negativ-Strategie, die alle Produkte, Herstellungsverfahren und Infrastrukturen, die mit der Verbrennung fossiler Brennstoffe verbunden sind, ausschalten will. Diese Klimapolitik ist so teuer und hat so gravierenden Folgen, weil es beim gegenwärtigen Stand der Technik keinen gleichwertigen, gleich produktiven Ersatz gibt. Zugleich liegen die erhofften Wirkungen des CO2-Ausstiegs auf das Klima in einer ferner Zukunft und sind überhaupt fragwürdig. Wer wollte ernstlich behaupten, dies gewaltige Abschaltprogramm würde mit Gewissheit nach einer bestimmten Zahl von Jahren zu einer messbaren Besänftigung des Wetters führen? Zudem könnten sich solche Effekte ja gar nicht unmittelbar im Bilanzraum Deutschland einstellen, sondern müssten erst den Umweg über eine Veränderung des globalen Gesamtklimas nehmen. Niemand könnte ernsthaft eine solche Geeignetheit der CO2-Strategie nachweisen. Aber was ganz sicher in absehbarer Zeit bei der CO2-Strategie herauskommt, ist der Verlust eines Großteils der bezahlbaren, für den Normalbürger erreichbaren Güter. Also der ersatzlose Verlust von Maschinen, Anlagen, Betrieben, Verkehrswegen, Heizungen, Wohnhäusern, Nahrungsmitteln, usw. Mit anderen Worten: Wer im Namen der Klimapolitik bis zum Jahr 2050 mit einer ständigen Aussetzung der Schuldenbremse und mit einem Jahr für Jahr wachsenden Schuldenberg regieren will, hat eine gewaltige Bringschuld. Und er hat sie hier und jetzt. 

Über das Wörtchen „Herausforderung“ 

Die herrschende Rede im Lande ging bisher über die Stelle, an der das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nun die Anforderung der Eignung von Maßnahmen aufstellt, völlig hinweg. Dabei tat ihr ein Wörtchen gute Dienste und wurde eifrig genutzt: das Wörtchen „Herausforderung“. Wo immer ein Ziel den Rahmen des Leistbaren zu sprengen droht und deshalb fragwürdig war, wurde die Öffentlichkeit mit dem gravitätisch daherkommenden Satz „Es ist eine Herausforderung“ abgespeist. Diese Wendung überspielt die Nachweispflicht der Regierung gegenüber dem Volk: Sie muss die Eignung der eingesetzten Mittel und die Erfüllbarkeit des Ziels nachweisen. Mit der Kombination von „Heraus“ wird das gerade nicht getan, sondern durch eine Floskel ersetzt. Sie bedeutet nichts anderes als ein: „Seht zu, wie ihr mit unseren Maßnahmen klarkommt!“ 

Von finanziellen Grenzen zu materiell-technischen Grenzen 

Hier führt das Kriterium der „Geeignetheit“ auf das Feld der materiell-technischen Realität und ihres konkreten, geschichtlich gegebenen Standes. Zusätzliches Geld allein löst keine technologischen Probleme, insbesondere nicht das Fundamentalproblem einer ganz neuen Energiebasis. Eine große zusätzliche Verschuldung ist nur dann „geeignet“, wenn sie auf einen bestimmten Stand der Technik trifft. Nur wenn hier eine erhöhte Tragfähigkeit und Produktivität greifbar nahe ist, ist eine außerordentliche Kreditermächtigung des Staates vertretbar. Denn dann könnte eine Überschuldung aus real erreichbaren Überschüssen wieder auf ein normales Maß zugeführt werden. Also geht es um den Stand der Technik, und dabei ist der springende Punkt: Der Stand der Technik ändert sich nicht einfach, wenn die Menschen es wollen. Ein neuer Stand ist nicht einfach „machbar“. Die Technikgeschichte zeigt, dass er sich aus einem komplexeren Zusammenspiel von Naturanlagen, Entdeckungen, Kapitalbildungen, Arbeitsfähigkeiten ergibt. Dies Zusammenspiel hat seinen eigenen Zeitrhythmus. Mal läuft die Technikgeschichte schneller und macht Sprünge, mal bewegt sie sich träge auf einem bestimmten Niveau. Es gibt Fortschritt, aber er kommt, wann und wie er es will – und nicht, wann und wie die Menschen es wollen. Die Konsequenz ist, dass Wirtschaft und Staat eine sorgfältige Beobachtung und realistische Einschätzung der technischen Entwicklung machen müssen. Und dann zu einem Urteil kommen müssen: Das ist machbar, und das ist nicht machbar. Eine solche „Machbarkeitsprüfung“ ist übrigens sowohl bei Großinvestitionen von Unternehmen als auch bei großen Infrastrukturprojekten des Staates eine Rechtspflicht. Man sollte einmal die Sorgfalt, die hier gefordert ist, mit der Fahrlässigkeit vergleichen, mit der das Etikett „Zukunftsinvestition“ auf die sogenannten „erneuerbaren“ Energien geklebt wird. 

Die „Zukunftsinvestitionen“ sind ein Fass ohne Boden 

Im Bereich der „Klimarettung“ fällt auf, dass die Investitionen, die eine ganz neue Zukunft tragen sollen, nur in sehr allgemeinen Prinzipien, „Studien“ und „Modellvorhaben“ vorliegen. Bei den Zukunftsinvestitionen bekommt man bei näherem Nachfragen schnell die Antwort, es gebe hier noch „große Herausforderungen“. Die Erzeugung von „Innovationen“ erscheint als eine Art Wundertüte, an der man nur ordentlich schütteln muss, um das Gewünschte zu erhalten. So ist die damalige grüne Kanzlerkandidatin Baerbock im Wahlkampf des Jahres 2021 mit der Parole „Verbote sind Innovationstreiber“ herumgelaufen – frei nach dem zynischen Motto: Man muss die Leute in Not bringen, dann werden sie schon erfinderisch. Hier zeigt sich exemplarisch, wie die rein negative CO2-Strategie als Ergänzung eine Wunder-Erzählung braucht: die Erzählung von einer ganz anderen, hochproduktiven Technologie, die eigentlich schon da ist und nur noch auf „viel Geld“ wartet.      

Leider ist der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz davon gar nicht so weit entfernt – wenn er nämlich als Krisen-Lösung das Motto „Innovation und Technologie“ ausgibt. Die vielfach angekündigten Wundertechnologien wie z.B. die „Wasserstoff-Wirtschaft“ sind beim heutigen Stand der Technik viel zu aufwendig, um für ganz Deutschland, geschweige denn für die ganze Welt, eine Grundlage bieten zu können. Und auch die Rede von der „Technologie-Offenheit“ hilft nicht weiter, wenn die Technikgeschichte auf einem bestimmten Gebiet gerade in einer zähen Phase ist. Bloße Prinzipien helfen jetzt nicht weiter. Was gebraucht wird, ist eine immer wieder neue Beurteilung dessen, was machbar ist und was nicht. Daraus ergibt sich auch ein Urteil über die Bestände und Fähigkeiten, die nicht aufgegeben werden dürfen, sondern unbedingt gesichert oder sogar wiedergewonnen werden müssen.    

Die Staatsräson des Verfassungsgerichts-Urteils 

Wenn das Jahr 2023 für Deutschland etwas erbracht hat, dann ist es eine große Ernüchterung und ein größerer Respekt vor den Widrigkeiten der Realität. Diese Ernüchterung hat viele Menschen aus sehr unterschiedlichen Schichten ergriffen, auch wenn ein anderer, durchaus beträchtlicher und tonangebender Sektor das nicht wahrhaben will. Solche Ernüchterungen gibt es nicht nur bei der Klima-Politik. Auch in der Migrations-Krise und in der Ukraine-Krise sind die großen Lösungen und Endsiege in immer weitere Fernen gerückt – während die unmittelbaren Belastungen immer spürbarer werden. Das Urteil, das das BVerfG in diesem November 2023 gefällt hat, ist auch ein gewisser Reflex auf die Ernüchterung der Nation. Im Urteil ist die Erfahrung der begrenzten Möglichkeiten Deutschlands spürbar. 

Das wird auch deutlich, wenn man dies Urteil mit dem „Klima-Urteil“ vom Frühjahr 2021 vergleicht, das der Erste Senat des BVerfG (Vorsitz Stephan Harbarth) gefällt hat. Dies Urteil erklärt eine verschärfte CO2-Strategie zum Verfassungsgebot und stellt diese Verschärfung unter keinerlei Vorbehalt hinsichtlich der Stabilität der Staatsfinanzen. Und mehr noch: Das Urteil kommt ganz ohne eine Bewertung des geschichtlichen Standes der Technik aus. Was für eine bizarre Unterlassung: Das Urteil fordert eine Vorverlagerung der CO2-Senkungsziele, ohne überhaupt die Tatsache zu erörtern, dass bei einer solchen Vorverlagerung eine Ersatztechnologie entsprechend schneller verfügbar sein muss. Ist die Ersatztechnologie nicht verfügbar oder in realistischer Reichweite – wird das Urteil zu einem reinen Kahlschlags-Urteil. Es entzieht den technologischen Errungenschaften und ihrer Weiterentwicklung den Schutz der Verfassung. 

Wie wohltuend ist demgegenüber jetzt das Urteil, das der Zweite Senat des BVerfG gefällt hat. Es ist eine Aufforderung, den begrenzten Möglichkeiten Deutschlands ins Auge zu sehen: Natürlich war es nicht Aufgabe dieses Verfahrens, ein Urteil über die materiell-technischen Grenzen der Gegenwart zu sprechen und daraus eine besondere Vorsicht bei der Überschreitung von Verschuldungsgrenzen abzuleiten. Aber die Richter des zweiten Senats des BVG haben einen Beitrag geleistet, der im Deutschland unserer Gegenwart keineswegs selbstverständlich ist: Sie haben die Finanzpolitik daran erinnert, dass sie sich im Rahmen eines Staatshaushalts bewegen muss, der von den begrenzten Mitteln dieses einen Landes namens Deutschland getragen werden muss. 

Sie haben eine willkürlich wuchernde Finanzpolitik in die Pflichten und Grenzen einer Staatsräson zurückversetzt.    

Europas seltsames Ressentiment gegen den Nationalstaat

Um aus den Krisen der Gegenwart herauszufinden, wird eine Welt eigenverantwortlicher Länder gebraucht, die aus territorial begrenzten Nationalstaaten bestehen muss. Diese Grundlage ist keine sichere Errungenschaft, auch nicht in der „Europäischen Union“.  

Europas seltsames Ressentiment gegen den Nationalstaat

14. Dezember 2023

Im vorhergehenden Teil dieser Artikelserie wurde dargestellt, dass es im Nahen und Mittleren Osten mancherorts Neigungen zu imperialer Großraum-Politik gibt. Und es wurde dargestellt, dass es demgegenüber in Europa eine merkwürdige Hilflosigkeit und sogar Gedankennähe gibt – wenn in den Grenzziehungen nach der Niederlage des Osmanischen Reiches eine europäische „Urschuld“ für die heutigen Krisen in der Region behauptet wird. Man ist auf eine geradezu bizarre Weise unfähig, die Prinzipien der eigenen Staatlichkeit zu verteidigen. Das liegt daran, dass sich die tonangebenden Milieus in vielen Ländern auf einem geschichtlichen Weg wähnen, der Europa vom Nationalstaat wegführt. Man kann den Weg, der in Europa zum Nationalstaat hinführte, gar nicht mehr korrekt in seinem räumlichen Wandel darstellen und den Fortschritt dieses Wandels verstehen. Eigentlich ging es ja um den „Rückbau“ der imperialen Großreiche. Diesen Rückbau zu einer territorialen Kompaktheit, ohne die eine flächendeckende Herrschaft von Recht und Demokratie gar nicht möglich gewesen wäre, haben viele Länder im 19. und 20. Jahrhundert durchmachen müssen. Sie haben ihn auch mental als einen Verlust von „Größe“ ertragen müssen. Denn dieser Verlust hatte zur Konsequenz, dass die Ansprüche der Weltgestaltung zurückgefahren werden mussten. 

Aber das ist in unserer Gegenwart schon nicht mehr Stand der Dinge. Es gibt, unter neuen Vorzeichen, eine neue Konjunktur der grenzüberschreitenden Weltgestaltung, der übernationalen Programme und Institutionen. Und Europa ist nicht nur hilflos gegenüber regressiven Tendenzen im Nahen Osten, sondern es ist selber Träger solcher Tendenzen. Das schlägt sich insbesondere in der Entwicklung der Europäischen Union nieder. Sie entwickelt sich immer mehr von einer Allianz souveräner Nationalstaaten zu einem übernationalen Gebilde und Quasi-Staat. Die EU zeigt exemplarisch, wie die gute Verbindung von Nation und zurückhaltender Staatsräson ausgehebelt werden kann. 

Wie die guten Nationalgrenzen auf einmal zu bösen Nationalgrenzen wurden 

Es gibt eine bemerkenswerte Umwertung, die das Nationale im 20. Jahrhundert erfahren hat. Die Umwertung besteht darin, dass die territoriale Begrenztheit des Nationalstaats nun als Makel angesehen wird, und nicht mehr als Vorzug. Sie gilt nun als Enge und Borniertheit, und nicht mehr als dauerhafte räumliche Sicherung gegen Willkür und imperiale Neigungen. So hat eine Deutung die Oberhand gewonnen, die in der Begrenztheit und Kompaktheit des Nationalstaates nur noch den Nährboden für einen „Nationalismus“ sah, der auf die Herabsetzung anderer Menschen und Länder gerichtet war. Und – es ist kaum zu glauben – auf einmal erschienen übernationale Staatsgebilde als positiver Nährboden für Toleranz und soziales Miteinander. Großräumige Institutionen galten auf einmal im Vergleich zu den „engherzigen“ Nationalstaaten als Fortschritt. Man war bereit, ihnen die Zuständigkeit für alle möglichen, auch existenziellen Aufgaben anzuvertrauen. Die Erkenntnis, dass solche Großräumigkeit schwer demokratisch zu kontrollieren war, und zur Ausbreitung von Rücksichtslosigkeit und Willkür führen konnten, war vergessen. Das ganze Grundmotiv, das in früheren Jahrhunderten Schritt für Schritt zum Niedergang der Imperien geführt hatte und dies zur Signatur der Moderne gemacht hatte, war verschwunden. Oder besser gesagt: Es wurde überlagert und ist heute weitgehend verschüttet. 

Über die sogenannten „guten Ziele“ 

Das Über-Nationale tritt heute im positiven Gewand von „guten Zielen“ auf – im moralisch aufgehübschten Gewand einer humanitären und ökologischen Weltgestaltung. Diese Ziele sind grenzüberschreitend im Doppelsinn von „Offenheit“ und „Intervention“. Man beschäftigt sich nicht mehr mit dem Aufwand zur Verwirklichung der Ziele, und interessiert sich deshalb auch nicht für die in einem bestimmten Land verfügbaren Aktiva – die Wertschöpfung seiner Betriebe und die Tragfähigkeit seiner Infrastrukturen. Stattdessen spricht man einfach von „Herausforderungen“ und kann dann ohne weiteres zu „globalen Herausforderungen“ hochschalten. Das Wörtchen „Heraus“ und das Wörtchen „Forderungen“ erledigen alles wie von selbst. Die Grenzen des Nationalstaates erscheinen dann nur noch als etwas Hinderliches – und nicht mehr als Grundbedingung für eine redliche Bestimmung des Verhältnisses von Zielen und Mitteln. In den vergangenen Jahrzehnten konnte sich so Schritt für Schritt eine neue Neigung zur Großraum-Politik in der westlichen Welt festsetzen. Eines der sichtbarsten Resultate ist die Europäische Union mit ihrer wuchernden Kompetenz-Aneignung. Im Namen der „guten Ziele“ wurde das Ressentiment gegen alles Nationale zur gängigen Münze in einer – in Wahrheit sehr exklusiven – „europäischen Öffentlichkeit“. Die positive Kraft der institutionellen Dichte und demokratischen Kompaktheit, mit der der moderne Nationalstaat die imperialen Großreiche einst obsolet gemacht hatte, wurde so in ihrem Kern getroffen.  

Der nationale Staat als Territorialstaat 

Wer diesem Ressentiment gegen den Nationalstaat misstraut und ihm nicht folgen will, muss also die Vernunft-Grundlage des neuzeitlichen Staates rehabilitieren. Die Bedeutung des Territoriums für ein neuzeitliches Staatswesen muss besser verstanden werden. Der neuzeitliche Staat kann und muss nicht das ganze Leben organisieren, aber er muss in einem ganz neuen Umfang tragfähig sein. Er muss technische und soziale Infrastrukturen tragen, die das Land befähigen, Hunger, Unwissenheit, Krankheiten oder Umweltkatastrophen in Schach zu halten. Er muss die Voraussetzungen schaffen, dass Arbeit und Kapital produktiv sein können. Und natürlich: Er muss eine Polizei- und Militärmacht unterhalten, um die Gewalt einzuhegen und die Grenzen zu schützen. Für alle diese „tragenden“ Aufgaben, braucht der Staat eigene Bestände. Er muss „stehender Staat“ sein. Und er muss im ganzen Land flächendeckend präsent sein. Die Mittel dazu muss der Staat immer wieder neu aus der Wertschöpfung des Landes finanzieren können, ohne diese Wertschöpfung zu erschöpfen. Das alles führt dazu, dass die Politik ihre Entscheidungen befristet und korrigierbar treffen muss. Und es führt räumlich dazu, dass ein modernes Land einerseits eine gewisse Ausdehnung haben muss, aber sich auch nicht überdehnen darf, sondern territorial begrenzt sein muss. 

Die territoriale Größe und Begrenzung des Staates hängt also mit der Sachdimension der Politik zu tun. Sie ist nicht allein vom Wissen und Willen der Menschen abhängig. Sie muss Bedingungen folgen, die die Menschen sich nicht aussuchen können. Die Souveränität eines modernen Staates ist daher immer ein paradoxes Gebäude: Selbstbehauptung geht nur zusammen mit Selbstanpassung. Deshalb sind territorial begrenzte Nationalstaaten ein Gebot der Vernunft.  

Über das Nationale im Nationalstaat 

Der Nationalstaat wird hier territorial definiert und damit ein sachlicher Rahmen konstituiert, in dem das politische Handeln bilanzpflichtig und verantwortlich ist. Das Gelingen eines Staates wird nicht an eine bestimmte ethnische („völkische“) Trägerschaft gebunden, auch nicht an die Trägerschaft einer bestimmten sozialen Klasse („Arbeiter- und Bauernstaat“). Solche identitären Definitionen wollen etwas garantieren, was der Staat und die Staatsbürger erst noch erbringen müssen und immer wieder neu erbringen müssen. Der moderne Staat muss sich unter veränderten Bedingungen immer wieder selbst behaupten. Seine Souveränität ist eine Souveränität auf Bewährung. So ist das Nationale im modernen Nationalstaat zugleich konservativ und freiheitlich – und in einem weiten Sinn bürgerlich. 

Aber das Nationale darf auch nicht in eine beliebige Allgemeinheit „der Menschen“ aufgelöst werden. Der Staat kann nur verantwortlich sein, wenn seine Staatsbürgerschaft ein bestimmter, begrenzter Personenkreis ist, zu dem es keinen Zugang nach Belieben gibt. Die Verfassung eines Landes ist auch nicht nur eine Liste individueller Grundrechte, sondern die Verfassung eines Gemeinwesens – und als solche der Handlungsfähigkeit dieses Gemeinwesen verpflichtet. Sonst wäre Politik eine bloße „Bürgerbegleitung“. Sie würde in alle Richtungen wuchern, die gemeinsamen Güter und Bestände des Landes vernachlässigen, und am Ende den Staat auflösen. Wir hätten nur noch eine Politik ohne Staat. Und eine Entstaatlichung der Verfassung. 

Die postnationale Auflösung des Staates in „Öffentlichkeit“ 

Es ist in der Politik unserer Gegenwart üblich geworden, bei sachlich umstrittenen Entscheidungen den Satz „Wir haben unsere Politik schlecht kommuniziert“ in die Mikrophone zu sagen. Damit bekundet der Sprechende, dass er sich nicht näher auf das sachlich Kritikwürdige einer Entscheidung einlassen will, sondern hier ein Weiter-So praktizieren will. Aber er will die Dinge besser darstellen. Er will sie in den Rahmen einer besseren Erzählung stellen. In unseren postnationalen Zeiten gibt es eine immens gewachsene Sphäre, in der in diesem Sinne Politik nicht gemacht, sondern „kommuniziert“ wird. In dieser sachfernen Sphäre des Politischen Handelns blühen die „Narrative“. Hier fällt es leicht, mit einer gewissen Willkür, genannt „erzählerische Freiheit“, ein rosiges oder ein böses Bild der Dinge zu malen. Es ist ein Bild, in der die hier geschilderte tägliche Tragaufgabe, die ein Staatswesen erfüllen muss, gar nicht vorkommt. Es ist im Grunde eine Politik ohne Staat, und sie kennt keine territoriale Begrenzung. Sie entzieht sich ständig der Aufgabe, die globalen Ziele ins Verhältnis zu den begrenzten Mittel des eigenen Landes zu setzen. Sie entzieht sich jeder Bilanz die ja eine nationale Bilanz sein müsste. Für den diffusen Raum, in den sich die Politik hier auflöst, gibt es einen Ausdruck, der eigentlich sehr treffend ist: „Öffentlichkeit“.

Ein neuer Typ von Krisen 

Natürlich kann diese Flucht ins Offene nicht unendlich weitergehen. So ist es kein Zufall, dass es in Deutschland an zwei Stellen brennt, an denen der Verzicht auf die Grenzen eines Nationalstaates für unhaltbare Zustände gesorgt hat: Zum einen ist es die Massenmigration, die direkt mit der Öffnung der Territorialgrenzen verbunden ist. Zum anderen ist es die Überschuldung des Staates, die in dreister Verletzung der Grenzen, die von der Verfassung für die Aufstellung des Bundeshaushalts vorgegeben sind, durchgesetzt wurde. Es wäre sich verfrüht, angesichts dieser Krisen nun schon auf eine staatspolitische Wende in Deutschland zu hoffen. Aber immerhin: Wir haben schon einen neuen Typ von Krisen. Die Macht der großen Erzählungen hat ihren Zenit überschritten. 

Es geht um Stabilisierung 

Damit kommen wir zurück zum Beginn dieser Artikelserie. Sie befasste sich mit einer Situation im Nahen und Mittlere Osten, in der in vielen Ländern wichtige Errungenschaften in Gefahr sind und eine Stabilisierung über eine große Lösung der „Palästina-Frage“ nicht zu erwarten ist. Deshalb muss das Interesse sich eher auf eine Stabilisierung der bestehenden Staatenwelt richten. Und zwar sowohl durch die Verteidigung des Staates Israel, als auch durch Respekt und Anerkennung für die islamischen Staaten der Region. Ist das nicht eine Selbstverständlichkeit? Keineswegs. Die deutsche und europäische Politik (und noch mehr die mediale Öffentlichkeit) war eher damit beschäftigt, die Konflikte in Israel und die Kritik an der Regierung Netanyahu zu vertiefen. Und ebenso war sie damit beschäftigt, alle möglichen Anklagen gegen islamische Staaten zu vertiefen und bereitwillig jedwede Verdächtigungen gegen bestehende Regierungen zu übernehmen. Und ist die deutsche und europäische Politik überhaupt ein glaubwürdiger Verfechter des Nationalstaats, wenn es um Krisenlösungen geht? Nein, sie neigt nach wie vor eher über-nationalen Institutionen und Normen zu. Auf internationaler Bühne ist auch längst aufgefallen, dass die deutsche „Weltpolitik“ einerseits besonders gerne überall den mahnenden Zeigefinger hebt, sich aber nirgendwo die Hände schmutzig machen will. Und dass sie auch nur recht teure Produkte und Handelsabkommen anzubieten hat.   

Umso wichtiger ist es, geduldig die Möglichkeiten und Kosten einer Kurskorrektur redlich darzustellen und zu erörtern.    

Erdogans „osmanische“ Rede und Europas angebliche „Urschuld“

Die historische Entwicklung des Nahen und Mittleren Ostens zeigt einen Wandel von imperialen Reichen zu begrenzten Nationalstaaten. Aber es gibt in der Region auch einen Irrglauben an die Wiederkehr alter großräumiger Mächte. 

Erdogans „osmanische“ Rede und Europas angebliche „Urschuld“

05. Dezember 2023

In der ersten Folge dieser Artikelserie wurde gezeigt, dass eine Fixierung der Politik auf eine definitive Lösung des Palästina-Konflikts den gesamten Nahen und Mittleren Osten in eine Konfrontation stürzen kann, dem die erreichten Fortschritte in dieser Region zum Opfer fallen würden. Diese Fortschritte beruhten auf einer Umorientierung: Die Länder konzentrierten sich stärker auf ihre Binnenentwicklung und ihre jeweiligen Eigeninteressen. Sie kamen zu bilateralen Absprachen und Kooperationen. Auch Israel hatte daran seinen Anteil. Aber es gibt auch fortdauernde große Probleme – vor allem ein Bevölkerungswachstum, mit dem der Aufbau von Industrie und Infrastrukturen nicht Schritt halten kann. So gibt es in der Region auch eine wachsende Neigung, auf eine Lösung „von höherer Hand“ zu setzen – auf die Macht von materiellen und spirituellen Hegemonen, die Schutz und Würde versprechen. Diese Neigung führt zu einer Entwertung der eigenständigen, oft zähen Binnenentwicklung im nationalstaatlichen Rahmen. Nur vor diesem Hintergrund ist verständlich, warum ein Staat wie die Türkei, der eine Zeit lang recht eng mit Israel zusammenarbeitete, inzwischen auf einem extremen Konfrontationskurs mit Israel ist. 

Erdogans „osmanische“ Rede 

Am 28.10.2023, dem Vorabend zur 100 Jahr-Feier des heutigen türkischen Staates, hat der türkische Präsident Erdogan auf einer Massenkundgebung in Istanbul eine Rede gehalten. Dort hat er nicht nur die Hamas als Organisation von „Freiheitskämpfern“ bezeichnet und Israel vorgeworfen, einen „Vernichtungsfeldzug“ gegen die Menschen in Gaza zu führen, sondern er hat auch einen weitgehenden Machtanspruch der Türkei erhoben. Im Rückbezug auf das Territorium des alten Osmanischen Reiches, erklärte er, dass „Gaza“ den Türken so nahe stünde wie „Adana“ (eine Stadt im Süden heutigen Türkei, unweit der syrischen Grenze): „Manche Leute mögen Gaza als einen fernen Ort betrachten, der mit uns nichts zu tun hat. Aber vor hundert Jahren war für diese Nation Gaza nicht anders als Adana.“ Er stellte Israels militärische Antwort auf den Überfall der Hamas als Teil eines Komplotts des Westens dar, der sich auch gegen die Türkei richte: „Unter der Oberfläche der von Israels Führung beschriebenen Konzepte wird man eine heimtückische Karte finden, die sich auf Territorien unseres Landes erstreckt.“ Erdogan behauptete, das Vorgehen Israels in Gaza sei eine Fortsetzung des „unvollendeten Plans“ westlicher Mächte, die Türkei politisch, geographisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich zu zerstückeln. Das aber bedeutet im Umkehrschluss, dass Erdogan – 100 Jahre nach der Gründung der heutigen Türkei – wieder Machtansprüche stellt, die an die Ausdehnung des im ersten Weltkrieg untergegangenen Osmanischen Reiches anknüpfen. Erdogans Rede ist also eine Revisionsrede, die hinter dem republikanischen Umbau und territorialen Rückbau der modernen Türkei zurückgehen will – also hinter jene Türkei, die der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk 1923 als seinen Erfolg angesehen hatte. Während Atatürk die begrenzte Territorialität als Voraussetzung für innere Reformen und gute Beziehungen zu den früheren Kriegsgegnern ansah, scheint Erdogan diese kluge Selbstbegrenzung nun als unnötige Nachgiebigkeit anzusehen. Er scheint auf die mobilisierende Kraft eines osmanischen Mythos zu setzen. Er rechnet offenbar damit, dass solche Ambitionen auch in den anderen Ländern des Nahen Ostens Widerhall finden. Und er setzt offenbar auch darauf, dass er die Europäer unter Druck setzen kann, wenn er ihnen wegen der Demontage des Osmanischen Reiches die Schuld an den heutigen Krisen im Nahen Osten zuweisen kann.  

Europas Selbstanklage treibt seltsame Blüten 

Wie aber sieht die europäische Antwort aus? Eigentlich sollte man erwarten, dass Europa der Wiederbelebung imperialer Großraum-Ideen durch Erdogan deutlich entgegentritt und die guten Gründe darlegt, die auch im Nahen Osten für eine moderne Ordnungsidee sprechen: für einen Pluralismus territorial begrenzter Nationalstaaten. Aber diese Erwartung täuscht. Das „postkoloniale“ Europa gibt sich schuldbewusst und sieht die eigene Schuld ausgerechnet darin, dass nach dem 1. Weltkrieg das Osmanische Reich zerlegt wurde, und die Türkei zu einem Nationalstaat wurde. In Deutschland konnte man Beiträge im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sehen, die den Positionen der Erdogan-Rede sehr nahe kommen. Es geht um einen präzisen Punkt: um die zwischenstaatlichen Grenzen im Nahen Osten. Am 29.Oktober 2023 wurden aus Anlass des 100. Jahrestages der türkischen Republik im deutschen Fernsehsender „Phönix“ (dem Politik-Sender der ARD) insgesamt vier Dokumentarfilme ausgestrahlt. Ein Film (von Gerhard Jelinek 2019 produziert) trägt den Titel „Blutige Linien – Die Grenzziehung von Sykes-Picot im Nahen Osten“. In der Ankündigung heißt es:

„Der Bürgerkrieg in Syrien, das grausame Schlachten des IS, die Fehden zwischen Sunniten und Schiiten im Irak: Der Nahe Osten ist ein Dauer-Brandherd der Welt. Gelegt wird das Feuer bereits während des ersten Weltkrieges, als England und Frankreich die Landkarten zwischen Damaskus und Bagdad im Handstreich neu zeichneten. Noch während der Erste Weltkrieg 1916 mit voller Härte tobt, ziehen der Engländer Sir Mark Sykes und der Francose Georges Picot neue Grenzlinien in den arabischen Sand. Den beiden Großmächten geht es vor allem darum, sich längerfristig Einfluss im Nahen Osten zu sichern…Die von Sykes und Picot gezogenen Grenzen werden letztlich zu den Wurzeln der späteren Katastrophe im Nahen Osten.“

Hier wird die neuere Geschichte des Nahen Osten als finstere Katastrophen-Geschichte erzählt. Und die Urschuld daran sollen die Europäer tragen – und zwar die Engländer und Franzosen, und nicht Deutschland und Österreich-Ungarn, die bekanntlich das Osmanische Reich bis zu seinem Untergang unterstützten. Und noch ein zweiter Film wurde an diesem 29.10.2023 ausgestrahlt. Sein Titel lautete „Der vergiftete Frieden – Das Ende der Osmanen“ (von Elias von Salomon 2021 produziert). Hier kann man in der Ankündigung folgende Sätze lesen:

„Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges stand neben dem Vertrag von Versailles auch ein anderer Ort für die Neuordnung der Welt: Sèvres, ein Pariser Vorort. Dort besiegelten die Siegermächte Frankreich, Großbritannien und die USA das Schicksal eines großen Imperiums: Das Osmanische Reich sollte für immer zerschlagen werden. Die Folgen sind bis heute unübersehbar: Der Nahe Osten brennt, wird von Krieg und Terror überzogen. Die Dokumentation zeigt die Fehler und ihre Auswirkungen auch hundert Jahre später auf.“    

Wenn so ein Zusammenhang zwischen „Das Osmanische Reich sollte für immer zerschlagen werden“ (Ursache) und „Die Folgen sind bis heute unübersehbar“ (Folge) hergestellt wird, ist das eine sehr steile geschichtswissenschaftliche These. Sie wird von der Darstellung nirgendwo wirklich erhärtet. Die Konstruktion einer europäischen Urschuld besteht nur in ahnungsvollem Geraune. 

Der Mythos von den „bösen Grenzen“ 

Der Kern des Schuldvorwurfs beruht auf der Grundidee der „bösen Grenzen“. Worin soll das Böse bestehen? Der Schuldvorwurf vermengt zwei sehr unterschiedliche Dinge. Einerseits wird der konkrete Verlauf der neuen Grenzziehungen angeklagt – weil der Verlauf manche ethnisch-kulturellen Zusammenhänge nicht respektiert. Andererseits wird überhaupt der Rückbau des Osmanischen Reiches auf einen kleineren Territorialstaat zum Anklagepunkt. Hier besteht der Vorwurf darin, dass die neuen Grenzen engere Grenzen sind. 

Einerseits wird also den Verantwortlichen bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg vorgeworfen, sie hätten hinsichtlich der Realitäten vor Ort weder Ahnung noch Respekt gehabt. Doch ein Kartenvergleich der heutigen Grenzen im Nahen Osten zeigt, dass sich die konkreten Grenzverläufe inzwischen erheblich verändert und verfeinert haben – im Zuge der fortschreitenden nationalen Unabhängigkeitsbewegungen im Laufe des 20. Jahrhunderts. Auch müsste hier angemerkt werden, dass die ethnischen Unterschiede prinzipiell nicht 1:1 in räumliche Grenzen übersetzt werden können: Entweder würde eine solche Übersetzung zu sehr komplizierten Linienverläufen mit allen möglichen Enklaven führen, oder sie würden gar nicht funktionieren, weil sich die ethnischen Zugehörigkeiten in ein und demselben Raum mischen. Dies Problem können die Territorialstaaten nur verringern, indem sie in der Regel nicht allzu große Territorien bilden (also das Problem einer „Überdehnung“ vermeiden), oder indem sie im Innern eine gewisse regionale oder lokale Selbstregierung gestatten (durch Subsidiarität und Föderalisierung). 

Doch die These von den „bösen Grenzen“ will von dem räumlich-institutionellen Problem der Überdehnung nichts wissen, sondern erhebt einen Generalvorwurf gegen jeden Rückbau eines Reiches. Hier geht es der Kritik also um etwas prinzipiell Verwerfliches von Grenzziehungen. Demnach hätten die Europäer an die Stelle des Osmanischen Großreiches irgendwie „das Trennende“ (soll bedeuten „das Spaltende“) gesetzt, um dort nun zu herrschen. Damit begibt sich die Kritik auf das Gleis einer umfassenden Geschichtsrevision. Denn wenn die Auflösung des Osmanischen Reiches und der territoriale Rückbau der Türkei als „Wurzel der Katastrophen“ und bloßes Mittel zur Errichtung neuer Fremdherrschaft dargestellt wird, müsste man das auch vom zeitgleichen Ende des Habsburger Reiches oder – ein Jahrhundert vorher – vom Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und vom Ende des spanischen Weltreiches sagen. Mitten in Europa sind also Geisterfahrer der neuzeitlichen europäischen Geschichte unterwegs. 

Wie das Osmanische Reich verklärt wird 

Bereits im Jahre 2016, zum hundertsten Jahrestag des Sykes-Picot-Abkommens, erschienen in verschiedenen deutschen Zeitungen Artikel, die dieser Argumentation der „fatalen Folgen“ des territorialen Rückbaus des Osmanischen Reiches folgten. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien am 15.5.2016 ein Artikel von Rainer Hermann unter dem Titel „Imperialer Federstrich – Wie die Großmächte keine neue Friedensordnung im Nahen und Mittleren Osten schufen“. Der Schlussabsatz zeigt exemplarisch die Verklärung, die heutzutage auf einmal wieder das osmanische Herrschaftssystem erfährt:

„Diese Gebiete waren unter osmanischer Herrschaft relativ friedlich gewesen. Die Osmanen hatten durch eine kleinteilige Aufteilung des Gebiets Konflikten vorgebeugt, die entstehen, wenn viele unterschiedliche Gruppen in einem Staat zusammenlebten. Zudem wurden die kleinen Einheiten effizienter verwaltet. Die Kolonialmächte hatten das nicht begriffen: Sie legten drei osmanische Provinzen zusammen und nannten das Gebilde dann Irak. Drei andere Provinzen hießen nun Syrien, ohne dass es solche Nationen gegeben hätte. Um diese künstlichen Gebilde zusammenzuhalten, bedurfte es erst der Kolonialstaaten, dann repressiver Diktaturen. Als diese wegfielen, stürzte die Region in Krieg und Chaos. Der Westen versucht zwar, die alte Ordnung in den hundert Jahre alten Grenzen zu retten. Eine neue, stabile Ordnung, die an Sykes-Picot anknüpfen könnte, zeichnet sich aber nicht ab.“ 

Entwicklungen, die der „postkoloniale“ Zeitraffer unterschlägt 

Dem idyllischen Bild, das hier von den Provinzen unter osmanischer Herrschaft gezeichnet wird, wird in dem Artikel das Bild eines fatalen 20.Jahrhunderts gegenübergestellt, in dem der Nahe Osten als Gefangener einer Raumordnung dargestellt wird, die der europäische Kolonialismus vorgegeben haben soll. Ein erstaunlicher Zeitraffer ist in dieser „postkolonialen“ Geschichtsschreibung am Werk. Sie erzählt etwas von 1916 und macht dann einen großen Sprung in unsere Gegenwart: Was dazwischen geschah, erscheint als bloße Fußnote. Das ist eigentlich recht geringschätzig und lieblos gegenüber einer großen Region dieser Welt. Deshalb sollen hier einige Realitäten benannt werden, die im „postkolonialen“ Zeitraffer unterschlagen werden: 

  • Syrien wurde, zusammen mit dem Libanon, in den 1920er Jahren als Mandatsgebiet des Völkerbundes an Frankreich übertragen. 1946 wurde es unabhängig. Der Libanon erhielt 1926 seine Eigenstaatlichkeit und 1943 die volle Unabhängigkeit (Er war Gründungsmitglied der Vereinten Nationen). Der Irak wurde ab 1921 zum Königreich Irak, dann ab 1958 zur Republik. Zu einer Beherrschung durch Frankreich oder Großbritannien kam es also gar nicht.  
  • Es gab in den 1950er Jahren verschiedene Versuche grenzüberschreitender Zusammenschlüsse: Irak und Jordanien („Arabische Föderation“); Syrien und Ägypten („Vereinigte Arabische Republik“). Sie wurden nach kurzer Zeit wieder aufgelöst. Die Grenzen erwiesen sich als dauerhafter als der Panarabismus. Zugleich fand der verheerendste Krieg im Nahen Osten (der Iran-Irak-Krieg) an einer Grenze statt, die viel älter ist als die Sykes-Picot-Linie.
  • Die heutigen Konflikte in der Region gehen meistens auf innere Bruchlinien zurück. Die drohende Gefahr ist der Zerfall der jungen Staaten. Wieso ein Rückgriff auf ein übergeordnetes, besonders ausgedehntes Großraum-Gebilde vor dem Zerfall besser schützen soll, ist nicht einzusehen. 
  • Alle Staaten des Nahen Ostens können im Jahrhundert-Rückblick erhebliche Fortschritte beim Bruttoinlandsprodukt aufweisen. Die Infrastrukturen von Verkehr, Wasserversorgung, Bildung und Gesundheit sind heute auf einem viel höheren Niveau. Aber die Bevölkerungsentwicklung lief noch schneller. Sie hat sich inzwischen von der Entwicklung der Wirtschaft und des Staatswesens entkoppelt. Die Bevölkerungszahlen von Syrien sind ein Beispiel: 1918: 1,5 Mio – 1938: 2,5 Mio – 1970: 6,3 Mio – 2010: 20,9 Mio. Diese Zahl erhöhte sich bis 2021 nur wenig (21,3 Millionen), was dem Bürgerkrieg und der Massenflucht zuzuschreiben ist. Für den Irak liegen mir folgende Zahlen vor: 1957: 6,7 Mio – 1977: 12,0 Mio – 1997: 22 Mio – 2010: 29,6 Mio. Hier sind die Zahlen von 2021 sehr stark gestiegen: 43,5 Mio. (2010).

Insgesamt spricht das alles nicht dafür, das gesamte Jahrhundert seit 1916 als Irrweg für den Nahen und Mittleren Osten zu werten. Es spricht – trotz einer ernsten Entwicklungskrise – durchaus dafür, die bestehenden Territorial-Staaten als souveräne und selbstverantwortliche Träger der Entwicklung zu stärken. Und damit die pluralistische Staaten-Welt im Nahen Osten weiter zu festigen.   

Imperiale Großraum-Ordnung oder plurale Ordnung begrenzter Nationalstaaten?

Die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens ist also keine ewige Wiederkehr imperialer Großräume, sondern es gibt eine Ordnungs-Alternative: Auf der einen Seite das Gesamtgebilde eines Reichs, auf der anderen Seite eine plurale Ordnung, deren Träger territorial begrenzte, selbstverantwortliche Nationalstaaten sind. Für diese Alternative ist die Türkei ein Schlüsselort geschichtlicher Erfahrung. Die Auflösung des Osmanischen Reiches und der territoriale Rückbau der Türkei hat wichtige Fortschritte möglich gemacht. Eine Revision dieses Rückbaus würde die Region in unlösbare Hegemonial-Konflikte stürzen. 

Aber wie sieht es eigentlich in Europa aus? Man sollte meinen, hier wäre die Alternative längst entschieden. Die plurale Ordnung auf Basis begrenzter Territorialstaaten hätte definitiv die Oberhand gewonnen. Die Auseinandersetzung mit der Reichs-Ordnung sei erledigt. Die Großraum-Träume seien in Europa ausgeträumt. Aber dem ist nicht so. 

(dazu mehr in der dritten und letzten Folge dieser Artikelserie)

Die Staaten der islamischen Welt haben viel zu verlieren

Wenn sich alles auf das „Palästina-Problem“ zuspitzt, geraten wichtige Errungenschaften im Nahen und Mittleren Osten in Gefahr. Auch der Westen sollte sich davor hüten, diese Errungenschaften geringzuschätzen. 

Die Staaten der islamischen Welt haben viel zu verlieren

30. November 2023

Die Trauer über das Leid auf beiden Seiten der Kämpfe in Gaza ist aufrichtig. Diese schlimmen Wochen hat niemand herbeigesehnt. Aber diese Trauer ist keine sichere Position gegen Vernichtungskriege. Aus ihr kann keine gegenseitige Anerkennung des Daseins von Völkern und Staaten hervorgehen. Ein „Gleichgewicht des Leids“ kann keine sicheren Existenzrechte begründen. Nur eine pluralistische Welt souveräner, territorial begrenzter Staaten kann sie bieten. Aus dieser Erkenntnis erwächst die Aufgabe, den Blick etwas zu weiten und ihn auf die Gesamtheit der Länder des Nahen und Mittleren Ostens zu richten. Das soll nicht getan werden, um irgendeinen größeren Gesamt-Schuldigen zu suchen, sondern um sich an die Fortschritte zu erinnern, die in vielen Ländern dieser Weltregion in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gemacht wurden. Eine Fixierung auf die „Palästina-Frage“ würde diese Fortschritte gefährden. Es würde zu einer dramatischen Verengung kommen – zu einem politischen Kurzschluss, der die Entwicklungsanstrengungen in dieser Region entwertet und zunichte macht. 

Eine direkte Friedenslösung für die „Palästina-Frage“ ist nicht in Sicht. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge würde jeder „Frieden“ für den gar nicht klar abgrenzbaren Raum „Palästina“ in sich schon den Keim neuer Kämpfe tragen. Das gilt auch für die oft beschworene „Zwei-Staaten-Lösung“. Nur in Anlehnung an einen größeren Umkreis von Staaten im Nahen und Mittleren Osten, könnte ein endloser Verdrängungskampf vermieden werden. 

Daraus folgt: Für einen längeren geschichtlichen Zeitabschnitt muss die Weiterentwicklung der schon bestehenden Staaten im Vordergrund stehen. Das gilt für die Länder mit islamischer Geschichte und Prägung, und es gilt auch für Israel. Gegen die Hamas führt Israel einen gerechten Verteidigungskrieg, bei dem es um seine Existenz geht. Und da steht es gar nicht so allein, wie es scheint. Welcher Nachbarstaat kann wirklich ein Interesse an einer solchen Staatsvernichtung durch extremistische Kräfte haben? Diese Vernichtung könnte sehr leicht eine Massenbewegung auslösen, die auch Staaten des islamischen Kulturkreises in den Abgrund reißen würde. Die Kräfte, die bisher die Stabilität und die Entwicklung ihrer Länder vertreten haben, stünden dann auf verlorenem Posten. Eine solche Wendung der Dinge ist also keineswegs in ihrem Interesse. Sie haben viel zu verlieren. 

Die Bedeutung der Staatsbildung 

Um das zu verstehen, muss man freilich die Aufgabe der Staatenbildung besser verstehen. Und man müsste die Aufbauleistungen und Fortschritte, die es auf allen Seiten tatsächlich gibt, hervorheben. Gegenwärtig steht eher das Leiden im Vordergrund. In der massenmedialen Weltöffentlichkeit stehen sich die Konfliktparteien nur als Betroffene gegenüber. Die internationale Diplomatie scheint sich nur um die Begrenzung des Leidens auf beiden Seiten zu drehen. Aber stabile Existenzrechte können nicht einfach auf „die Menschen“ bezogen sein, sondern müssen sich auf souveräne, verantwortungsfähige Staaten gründen.  

Die Entwicklung einer Staatenwelt im Nahen und Mittleren Osten

Das führt einerseits dazu, die Aufbauleistung des Staates Israel als ein bewundernswertes Beispiel und Vorbild für die Entwicklung in dieser Weltregion mit ihren harten Bedingungen und Knappheiten anzuerkennen. Und nicht so zu tun, als wäre Israel nicht mehr als ein Gebilde, das von der Unterdrückung und Ausbeutung anderer Menschen lebt („Apartheid“). Die „antikoloniale“ Hassrede, die die gesamte Geschichte der Neuzeit in eine Zerstörungs- und Totschlagslegende umschreiben will, versucht gegenwärtig, an Israel ein Exempel zu statuieren, und hier einen „Weltfeind“ aufzubauen. Und das findet durchaus einen Widerhall. Das zeigt die durchaus breite Zustimmung, die eine UN-Resolution zur Nahost-Krise gefunden hat, die den Vernichtungsangriff der Hamas auf Israel nicht einmal erwähnt. Doch das ist nur die eine Seite des Problems. 

Auf der anderen Seite geht es auch darum, die Aufbauleistungen und Fortschritte der verschiedenen Länder des islamischen Kulturkreises im Nahen und Mittleren Osten anzuerkennen. Wer die Gesamtgeschichte dieser Region im 20. Jahrhundert betrachtet, kann nicht umhin, diese Leistungen und Fortschritte anzuerkennen. Und anzuerkennen, dass sie im Rahmen einer schrittweisen Ausbildung eines Pluralismus von unabhängigen Staaten geschahen. Das bedeutet, dass sie eine eigene Leistung darstellen und nicht nur eine das Vorbild des Westens nachahmende und von ihm abhängige Entwicklung war. Zur Begründung von Existenzrechten im Nahen und Mittleren Osten muss man daher all denen widersprechen, für die „arabisch“ und „Islam“ von vornherein nur etwas Minderwertiges oder gar Böses bedeutet. Die Länder und Menschen dieser Region haben schon gezeigt, dass sie sehr wohl zu umsichtigen Entscheidungen und guten Entwicklungen fähig sind. 

Die arabisch-islamische Welt am Scheideweg 

Es ist noch gar nicht so lange her, dass verschiedene arabische Staaten ihren Frieden mit Israel machten und es zu Kooperationen im gemeinsamen Interesse kam. Die Palästina-Frage war nicht gelöst (und sie ist auf absehbare Zeit wohl auch nicht lösbar), aber die Bedeutung dieser Frage schien sich relativiert zu haben. Sie hinderte die verschiedenen Staaten nicht mehr daran, ihre eigenen Entwicklungsinteressen zu verfolgen. Lange Zeit hatte das Feindbild Israel vielen Regierungen im Nahen Osten als Alibi gedient, um von der wirtschaftlichen Stagnation und von der Erstarrung der Machtverhältnisse im eigenen Land abzulenken. Aber das hatte sich in den letzten Jahren geändert. Das lag auch daran, dass sich der Fokus der Regierenden auf die eigene Entwicklung ihrer Länder verschoben hatte. Man suchte neue wirtschaftliche und kulturelle Betätigungsfelder, insbesondere auch in den stark vom Erdöl-Export abhängigen Ländern (Qatar, Saudi-Arabien). Andere Länder wie Marokko oder die Türkei machten Fortschritte bei der Diversifizierung ihrer Industrie und der Stärkung ihrer Rolle im internationalen See- und Luftverkehr. Und es kam zu gewissen politischen Lockerungen und Öffnungen, auch bei den Rechten von Frauen im öffentlichen Leben. 

Auch ein Blick in die Geschichte lohnt sich. In den ersten Jahrzehnten nach Erringung der Unabhängigkeit (bis in die 1970er Jahre) dominierte in vielen Ländern eine weltlich-sozialistisch orientierte Führungsschicht. Erst als diese Führungsschicht angesichts nicht haltbarer Versprechungen ermüdete und ihre Glaubwürdigkeit verlor, gewann ein politischer Islam an Einfluss. Die Führung verlagerte sich vielerorts auf religiöse Parteibildungen und Regierungen – die Übernahme des Sozial- und Bildungswesens sowie des Kultur- und Medienbereichs, spielte dabei eine wichtige Rolle. Doch nun gibt es auch bei dieser engen religiösen Führung schon seit einigen Jahren Verschleißerscheinungen – das zeigen die oben erwähnten Lockerungen und Öffnungen und macht diese bedeutungsvoll.

Es wäre aber ganz falsch, hier von einer neuen „Aufbruchstimmung“ zu sprechen, dazu sind die inneren Ressourcen der Länder zu knapp und der wirtschaftliche Druck von außen zu groß – zum Beispiel stehen die typischen Leichtindustrien des Mittelmeerraums unter dem ostasiatischen Konkurrenzdruck. Vor allem gibt es den immensen Druck durch das starke Bevölkerungswachstum. Vor dem harten Hintergrund dieser Knappheit bekommen kleine Fragmente von Arbeit und öffentlichem Leben – als kleinen Freiheiten des Alltags – einen neuen Wert. Und gleichzeitig bleibt der Islam stark. Er wird als Unterpfand für die Eigenständigkeit der Länder und für die Würde ihrer Bürger verstanden. So sollte die Situation der Länder vorsichtig als Situation „zwischen Fortschritt und Krise“ beschrieben werden. Aber das ist eine Situation, in der die Menschen der arabisch-islamischen Welt jetzt durchaus etwas zu verlieren haben.   

Die Situation im Gazastreifen ist ein Sonderfall 

Über die Situation im Gaza-Streifen kann vieles gesagt werden. Sicher ist es richtig, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht mit der Hamas und auch nicht mit den lauten Demonstrationen auf der Straße gleichgesetzt werden darf. Aber die Situation in den Gebieten, die den arabischen Palästinensern zur Selbstregierung überlassen wurden, dürfen auch nicht mit der Situation der anderen arabischen Länder gleichgesetzt werden. Im Gaza-Streifen ist nicht einmal in Ansätzen ein Entwicklungsmodell erkennbar, das auf die eigenen Kräfte baut. Das Gebiet ist extrem von der Zufuhr von außen abhängig: von Geld, von Nahrungsmitteln, von Fahrzeugen und Maschinen, von Fachleuten. Das Gebiet wurde wie ein Lager regiert. Hier entsteht tagtäglich der Eindruck, die arabischen Palästinenser hätten nichts zu verlieren, und das ist ein Nährboden für den Extremismus. Wie könnte Israel diesen Nährboden auflösen, ohne sich selbst abzuschaffen? Ist die so oft beschworene „Zwei-Staaten-Lösung“ wirklich tragfähig oder nur ein Formelkompromiss? Redlicherweise muss zugegeben werden, dass eine definitive Lösung des Palästina-Problems nicht in Sicht ist. Deshalb wäre es ganz falsch, jetzt alles auf eine solche Lösung zu setzen. Auch die arabisch-islamischen Länder können ihre eigene Entwicklung nicht an eine solche Lösung der Palästina-Frage binden.     

Staat und Territorium 

Auf den ersten Blick erscheint die 2-Staaten-Lösung für das „Palästina-Problem“ einfach und naheliegend. Es ist eine eingängige Formel, die Gerechtigkeit für beide Seiten suggeriert. Aber sie stellt eigentlich gar nicht die für ein Staatswesen grundlegende Frage: Ist das Staatswesen in seiner Anlage tragfähig? Kann es die Existenzrechte einer ganzen Gesellschaft schützen und materiell füllen? Es muss nicht autark sein, sondern kann Außenhandel treiben und Bündnisse schließen. Um sich selbst behaupten zu können, muss es ausreichend Mittel haben, um sie im Austausch einbringen zu können. Falls dies nicht der Fall ist, wäre ein solcher Staat ständig darauf angewiesen, von äußeren oder höheren Mächten versorgt und beschützt zu werden? Er wäre auf Gedeih und Verderb auf fremde Entscheidungen angewiesen. Er wäre ein bloßes Protektorat. Das ist der große Vorbehalt, der gegen eine 2-Staaten-Lösung besteht: Dieser Raum ist zu eng, um zwei tragfähige, souveräne Staaten zu tragen. Ein Nebeneinander von zwei Staaten würde zu immer wieder neuen Existenzkrisen auf der einen oder anderen Seite führen. Und damit wäre der Keim zu neuen Verdrängungskriegen gelegt. 

An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass es auch anderswo im Nahen und Mittleren Osten ähnliche Probleme gibt: wo Staaten in einzelne Teilgebiete zerfallen und es separatistische Tendenzen gibt. Man denke an den Irak, Libyen und Syrien. In einigen Ländern gibt es Bevölkerungs-Enklaven, die den Staat, in dem sie wohnen, gar nicht als ihren Staat ansehen (Libanon). Es gibt in den Großstädten mancher Länder eine große, entwurzelte, jüngere Generation, die zu „ihrem“ Staatswesen eine sehr geringe Bindung haben. Sie haben vor einigen Jahren im sogenannten „arabischen Frühling“ manche Länder an den Rand einer Staatskrise gebracht. Ein Teil ist auch für einen islamischen Extremismus empfänglich. Angesichts dieser Lage ist die territoriale Integrität der bestehenden Staaten im Nahen und Mittleren Osten ein kostbares Gut. Sie darf nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden, sondern muss entschieden verteidigt werden. Leider haben das westliche Staaten in der jüngeren Vergangenheit nicht getan, sondern sich berufen gefühlt, in einzelnen Ländern politisch und militärisch zu intervenieren – zum „Tyrannensturz“ gegen die etablierten Regierungen. Um die Folgen ihres Tuns haben sie sich nicht gekümmert, und damit mancherorts (siehe Libyen) nur den Zerfall des territorialen Zusammenhalts befördert. In anderen Ländern (siehe Ägypten) sind sie glücklicherweise nicht zum Zuge gekommen.

Wie die Massenmigration die Länder des Nahen Ostens gefährdet 

In der gegenwärtigen Krise fällt auf, wie restriktiv ein Land wie Ägypten mit der Ausreise von Bewohnern des Gazastreifens umgeht, und wie es mit aller Härte eine Massenimmigration auf ägyptisches Territorium verhindert. Ägypten weiß um die destabilisierende Wirkung, die eine solche Fluchtbevölkerung auf seine innere Lage ausüben kann. In Syrien und dem Libanon kann man sehen, wie sich eine solche Bevölkerung als politische und militärische Macht im Lande konstituiert und zum Instrument fremder Mächte (wie dem Iran) werden. Und noch etwas ist wichtig an der Haltung Ägyptens: Bei aller Härte hütet sich Ägypten davor, gegen die Migranten vordergründig zu polemisieren und sie moralisch zu verdammen. Das geschieht nicht aus Angst vor Eskalation, sondern aus Einsicht in die schwierigen Bedingungen, unter den die Menschen im Gazastreifen leben müssen. Ägypten erkennt diesen Ernst der Lage an und fühlt diesen Ernst mit, aber es sagt trotzdem „Nein“. Dies „Nein“ ist nicht willkürlich und „autoritär“, sondern reflektiert reale Gefahren. Das hat allgemeinere Gründe, die für den gesamten Nahen Osten und die Südanrainer des Mittelmeeres gelten. Dort sieht man sich einer jungen Überbevölkerung gegenüber, die sich sehr leicht in eine entwurzelte, nomadisierende, bindungslose, gewaltbereite Überbevölkerung verwandeln kann. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich an eine Marokko-Reise im Herbst 2013, bei der unserer Reiseführer, der aus einem Provinzort im Süden des Landes stammte, uns die großen Bemühungen der Regierung schilderte, die junge Bevölkerung in den kleinen und mittleren Provinzstädten zu halten. Es geht also nicht nur um eine Massenimmigration von Fremden, sondern um eine Binnenmigration – eine Landflucht in die Städte, die die Städte in wahre Heerlager einer demographischen Reservearmee verwandeln. Und diese junge Überbevölkerung ist dann für alle möglichen Ideologien empfänglich, die sie als Opfer der Weltgeschichte darstellen und ihnen ein Recht auf Rache zusprechen. Die Länder des Nahen Osten müssen also aus eigener Erfahrung und aus eigener Selbsterhaltung zum Palästina-Extremismus auf Distanz gehen. Denn ein ähnlich-bindungslose Extremismus wächst, in der ein oder anderen Form, auch in diesen Ländern und bedroht ihre wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Errungenschaften. 

Die Fortschritte arabisch-islamischer Länder 

Gerade jetzt wäre es wichtig, von den Errungenschaften und Fähigkeiten der arabisch-islamischen Welt zu sprechen. Aber wer in der westlichen Politik und Öffentlichkeit tut das? Dazu müsste man ja anerkennen, dass es grundlegende Errungenschaften überhaupt gibt. Man müsste sie auch in den Punkten anerkennen, wo sie nicht dem westlichen Weg in die Moderne entsprechen. Die Anerkennung muss also auch die Entwicklungspfade anerkennen, die aus den eigenen Traditionen der verschiedenen Länder hervorgehen. Eine Außenpolitik, die ihren Namen verdient, darf sich nicht bloß irgendwelche Rosinen westlicher Werte aus der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gesamtheit eines arabisch-islamischen Landes herauspicken, sondern muss die Souveränität dieser Gesamtheit anerkennen. Die jetzige Krise ist der Moment, wo dies Bewerten und Hineinregieren gegenüber der arabisch-islamischen Welt ausdrücklich zurückgenommen werden sollte. Gerade jetzt käme es darauf an, die Länder der Region mit ihren spezifischen Bedingungen zu betrachten und zu verstehen. 

Außenpolitik oder „Weltinnenpolitik“? 

Die sogenannte „wertegeleitete“ Außenpolitik neigt immer dazu, in andere Länder hineinzuregieren. Sie ist im Grunde eine „Weltinnenpolitik“ und gar keine Außenpolitik – deren Eigenart ja darin bestehen muss, auch mit genuin anderen Ländern und Staaten zu verkehren und einen Modus vivendi zu finden.

Bloß kein „Kulturkampf“ gegen die arabisch-islamische Welt

Angesichts des Vernichtungs-Terrors gegen Israel mag mancher dazu neigen, die Auseinandersetzung zu „vertiefen“, indem man den Terror und den anschließenden Jubel darüber auf generelle „Ursachen“ zurückführt – auf eine ethnische Ursache („die Araber“) oder auf eine religiöse Ursache („der Islam“). Aber das schwächt den Kampf gegen den Terror, weil man ihn zu einem globalen Kulturkampf ausweitet. So werden alle Staaten und Gesellschaften der Region aufgrund einer ethnischen, religiösen, kulturellen „Identität“ als Feind markiert. Ein angeblich in sich ewig gleicher „arabisch-islamischer Kulturkreis“ wird zum Erbfeind des Westens erklärt, und wir stecken fest in einer weltweiten Konfrontation der Kulturkreise im Sinne von Huntingtons „Clash of Civilizations“. 

Diese Steigerung ist gefährlich, und sie ist auch unnötig. Sie zerstört die bestehenden positiven Anknüpfungspunkte für eine friedliche Koexistenz in einer pluralistischen Staatenwelt. Sie will von den Realitäten im Nahen Osten nichts wissen. Man erinnert sich noch an den schändlichen Auftritt des deutschen Fußballs bei der WM in Qatar, wo man das Land wegen Ausbeutung und sexueller Unfreiheit an den Pranger stellen wollte. Funktionäre, Journalisten und Spieler verletzten grob das Gastrecht und den Sportsgeist der ersten Fußball-Weltmeisterschaft in dieser Region. Und der Vorsitzende des Deutschen Fußball Bundes fordert jetzt eine „europäische Koalition“ gegen die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft 2034 an Saudi-Arabien. 

Nicht eine, sondern zwei Aufgaben 

Die deutsche Außenpolitik muss in der gegenwärtigen Krise zwei Aufgaben im Blick haben. Es ist unbedingt wichtig, Israel in seinem Vorgehen gegen den Terror nachhaltig zu unterstützen. Hier darf es keine faulen Kompromisse geben, wie es die deutsche Stimmenthaltung in der oben erwähnten UN-Abstimmung war. Innenpolitisch muss der Schutz jüdischer Einrichtungen und Bürger wirklich durchgesetzt werden. Der Schutz darf nicht durch eine „neutrale“ Haltung der Behörden verwässert werden. Die deutsche Politik wird nicht daran gemessen werden, welche „Lehren“ aus der Vergangenheit sie verkündet, sondern daran, welche Taten die deutsche Staatsräson hier und jetzt zustande bringt. 

Aber es gibt eine zweite Aufgabe. Die deutsche Politik muss dazu beitragen, dass die gegenwärtige Verengung auf die Palästina-Frage aufgebrochen wird. Es geht um die Einsicht, dass es im Nahen Osten Errungenschaften und Interessen gibt, die weiter führen als der Palästina-Konflikt. Dazu braucht Deutschland ein positives, konstruktives Verhältnis zu den Ländern der arabisch-islamischen Welt. Es muss der Verführung zu einem Kulturkampf widerstehen. Gegen die Massenimmigration aus dem Süden müssen endlich harte Grenzen gezogen werden, aber das darf nicht mit einer wertenden Einmischung in die inneren Verhältnisse der Staaten der Region verbunden werden. Wird die jetzige Politik des erhobenen moralischen Zeigefingers weiterverfolgt, wird auch die Erfüllung der ersten Aufgabe scheitern. Denn dann wird der Kampf gegen den Terror als Hegemonialkrieg des Westens gegen die islamische Welt erscheinen. Das wäre verheerend. Dagegen hilft nur eine positive Grundeinstellung zu dieser Welt. Und ein ausdrücklicher Abschied von der Außenpolitik des erhobenen Zeigefingers.     

Aber ist das nicht zu viel verlangt? 

Kann man in dieser Zeit verlangen, zwei verschiedene Aufgaben zu bearbeiten, die nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind? Wo doch das heute dominierende Denken nur das „eine“ Gute und das „eine“ Böse wahrhaben will.   

Die Vernunft des aktiven Ertragens 

Was ist die Alternative zum eitlen Drama von größten Bedrohungen und ultimativen Rettungen? Deutschland braucht eine realitätsbezogene Maxime seines Handelns. 

Die Vernunft des aktiven Ertragens 

21. Oktober 2023

Im ersten Teil dieser Artikelfolge wurde die Gefangenschaft dargestellt, in die ein Land sich begibt, wenn es seinen Kurs durch die Erwartung dunkelster Gefahren und sonnigster Rettungen bestimmen lässt. Wenn es also zwischen größter Angst und größten Hoffnungen hin und her gerissen ist. Der Glaube, dass dies extreme Hin und Her besonders motivierend wirkt, täuscht. Im Gegenteil werden durch eine solche Dramatisierung der Welt die Räume und Zeiten des Handelns eng und kurz. So geschieht es auch im Deutschland unserer Gegenwart. Die Beschwörung extremster Gefahren und ebensolcher Rettungen führt zur Logik der „Wenden“, die hierzulande Staat und Wirtschaft in Beschlag genommen hat. So hat Deutschland den festen Boden und die Kontinuität verloren, der die Grundbedingung ist für längere Festlegungen auf einen Bildungsgang, auf einen Beruf, auf eine Familie und natürlich auch für größere Investitionen in ein Unternehmen oder eine Infrastruktur. Die längeren Handlungsstränge und die jederzeitige Verlässlichkeit der Gesetze werden so zerstört. 

Eine erste Konsequenz lautet: Abstand gewinnen zum Extremismus von Gefahr und Rettung. Dazu muss man zu dem täglich in den Massenmedien servierten Drama von „Die Welt ist aus den Fugen“ und „Wir schaffen das“ auf Distanz zu gehen. Es müssen nicht nur überzogene Bedrohungen relativiert werden, sondern auch überzogene Erwartungen an die Zukunft zurückgenommen werden. Für die beiden großen Ordnungssysteme „Staat“ und „Wirtschaft“ ist eine Orientierung an höchsten Gefahren oder höchstem Glück keine hilfreiche Option. Planetare Katastrophen und rosige Zukünfte kann man sich immer vorstellen – als Werk von Literaten mag das durchgehen. Aber weder ein Staatswesen noch eine Volkswirtschaft können sich auf solche Extreme gründen. Die realen Krisen und realen Lösungen legen diesseits des Dramas von höchster Gefahr und ultimativer Rettung. Auch ein „ewiger Frieden“ steht nicht zur Wahl. Man kann Kriege einhegen, aber nicht für jede Situation ächten und für immer verbannen.  

Welche Signatur wird das 21. Jahrhundert haben? 

Unsere Gegenwart ist durch Belastungen geprägt, die die begrenzten Kräfte der Menschen übersteigen. Das ist geschichtlich nichts Neues. Neu ist der Glaube, dass die Menschheit in unserer Zeit die Erlösung von den Belastungen in den eigenen Händen hat. Dass sie über die Kräfte verfügt, um auch die größten planetarischen Umbauten zu bewerkstelligen. Erst dieser Extremismus der Erwartungen führt zur Idee einer „großen Transformation“, die im 21. Jahrhundert geschafft werden soll. In Deutschland hat dieser Glaube die Gestalt aller möglichen „Wenden“ angenommen, der das ganze Land besetzt hat: Energiewende, Agrarwende, Verkehrswende, Ernährungswende, Bildungswende… Inzwischen wird nun auch „die Zeit“ selber gewendet, damit wirklich kein Stein mehr auf dem anderen bleibt. Wie kann das Land aus diesem Extremismus wieder herausfinden? Sicher nicht dadurch, dass man die Belastungen leugnet oder beschönigt. Nein, dies Jahrhundert wird tatsächlich ein hartes, mühevolles und auch gefährliches Jahrhundert sein. Der entscheidende Punkt ist, ob man glaubt, diesen harten Tatsachen entkommen zu können, oder ob man sie als grundlegende Gegebenheit akzeptiert und mit ihr leben und arbeiten lernt. 

Das wäre die Gegenthese: Dies 21. Jahrhundert wird nicht das Jahrhundert der großen, definitiven Lösungen sein, sondern ein Jahrhundert provisorischer Lösungen, die auch dunkle, „böse“ Dinge nicht ausschließen können. Ein Jahrhundert, das auch tragische Geschehnisse enthalten wird. Wenn Deutschland sich also der Macht von Hysterie und Hybris entziehen will, muss es in Arbeit und Leben in einem viel größeren Maße das Gegebene akzeptieren. Wenn es die Macht der „Wenden“ brechen will, muss es ein positives Verhältnis zum „Ertragen“ gewinnen. Nur so kann auch das Regieren eine neue Redlichkeit bekommen. 

Wie ein Land durch „Unerträglichkeiten“ unregierbar wird 

Wenn man nach dem Prinzip sucht, nach dem dies Land regiert wird und wie dies Regieren in den Medien bewertet wird, findet man dort eine recht einfache Maxime: Alles irgendwie Böse ist zu meiden, nur das unbefleckte Gute ist zu suchen. Diese Maxime ist heutzutage zu einem Tabu gesteigert: In der Politik ist es zur gängigen Münze geworden, einen Vorschlag oder auch nur eine Wortwahl mit dem Wort „unerträglich“ zu brandmarken, wenn es nur irgendwie an etwas Böses, Dunkles, Hässliches grenzt. So ist die Forderung, dass etwas ertragen werden muss, zum Tabu geworden. Eine solche Forderung gilt als Beweis für eine menschenverachtende Gesinnung. Ein Beispiel ist die Migrationskrise: Man empfindet die harte Situation des Zurückweisens an der Grenze als „unerträglich“ und landet dann bei einer völligen Überlastung des Landes. Auf diesem Wege sind wir inzwischen bei einer völlig unbeherrschbaren Situation angelangt.

Über die weichgebettete Freiheit 

Aber diese Falle gibt es auch dort, wo die eigenen Bürger vor etwas vermeintlich „Unerträglichen“ bewahrt werden sollen. Ein Beispiel ist der Umgang mit der Corona-Krise. Zu Beginn der Corona-Krise hat der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („An den Grenzen der Verfassung“, 6.4.2020) eine bestimmte „Programmierung“ der politischen und rechtlichen Ordnung der Bundesrepublik beschrieben. Er bezieht sich dabei auf Situationen, in denen die Knappheit der intensivmedizinischen Mittel dazu führt, das Entscheidungen getroffen werden müssen, wer diese Mittel bekommt und wer nicht. Er schreibt, dass „…unsere politische und rechtliche Ordnung darauf programmiert ist, das Entscheidungsdilemma der Selektion, das meint `Triagieren´, so weit zu verhindern, wie es irgend geht. Man kann sogar die ganze Identität, das Besondere unserer Republik so verstehen, dass wir prospektiv und vorsorgend alles tun, die Zwänge der Not und des blanken Elends, die banale Logik der Katastrophen und der Kriege gar nicht erst entstehen zu lassen, um die freiheitliche Wertordnung nicht zu gefährden.“ Was di Fabio – zustimmend – hier als „das Besondere unserer Republik“ bezeichnet ist die Herrschaft der Maxime, dass Härten um jeden Preis vermieden werden müssen. Die freiheitliche Grundordnung wird hier an ein extremes Reinheitsgebot gebunden: Wo Not, Elend, Katastrophen, Krieg auftreten, ist sie gefährdet. Wo aber die Freiheit nur als weichgebettete Freiheit vorstellbar ist, wird sie eng und selektiv. Sie existiert nur als wohlausgestattete und wohlbehütete Freiheit, und die gibt es nur an wenigen Orten. Und sie ist von großen materiellen Zuwendungen abhängig. Ohne die Fähigkeit, Härten zu ertragen, ist die Freiheit also nur eine halbe Freiheit. 

Über die harte Seite der Freiheit 

Für das Handeln in einer realen Welt ist die einfache Alternative „gut oder böse“ eine allzu naive Maxime. Sie versagt dort, wo man das Gute nicht haben kann, ohne sich auf das Böse einzulassen. Wo Gutes und Böses, Schönes und Hässliches, Helles und Dunkles unlösbar miteinander verkoppelt sind, macht eine Maxime, die das Gute und Schöne nur unbefleckt empfangen will, ein Land und seine Bürger in kritischen Situationen hilflos. Sie macht den Horizont der Wahrnehmung und die Reichweite des Handelns eng. Mit anderen Worten: Wer die harte Seite der Freiheit nicht aushalten kann, macht die Freiheit klein. 

Eine Maxime, die in einem Jahrhundert wie diesem die Handlungsfähigkeit eines Landes sicherstellen kann, müsste also das Entweder-Oder zwischen dem Guten, Schönen, Hellen und dem Bösen, Schmutzigen, Finsteren aufgeben und durch eine positive Verkopplung ersetzen: Wer mehr Gutes will, muss sich auf mehr Böses einlassen. Wer mehr Schönes will, muss mehr Schmutziges aushalten. Wer eine größere Reichweite der Freiheit will, muss die harte, schwierige, unfreie Seite der Freiheit hinnehmen. Es geht also nicht um einen „Sieg“ des Guten über das Böse, sondern um eine Anpassung an Gegebenheiten, die man nicht ändern kann. So entsteht eine Welt „diesseits“ der absoluten Bedrohungen (bei einem Sieg des Bösen) und der absoluten Erlösungen (bei einem Sieg des Guten). 

Die Tugend des aktiven Ertragens 

Dies Sich-Einlassen, Sich-Anpassen, Aushalten von Widrigkeiten kann nicht bloß ein Nebenprodukt von Handlungen sein, die eigentlich den völligen Sieg über die Widrigkeiten angestrebt haben – und die dann, widerwillig, ein Übel hinnehmen. Es geht um eine positive Maxime, die Gut und Böse einschließt. Das wäre nicht irgendein „Kult des Bösen“, der das Finstere, Schmutzige und Böse zu einem Wert an sich erklärt, sondern es geht um die Zuwendung zu einer unabhängig sich entwickelnden, nicht völlig erkennbaren, äußeren Welt. Erst durch den Gegenpart dieser Wirklichkeit, die wir nicht beherrschen können, bekommt unsere Freiheit ihre Größe und Würde. Es ist die Würde, real zu sein – und aus einem nur selbstbezogenen Wünschen und Wollen herauszutreten. In diesem Sinn gibt es ja die „Würde der Arbeit“, die wir angesichts einer schweren Arbeit empfinden.   

Tocquevilles Kapitän 

In seinen Betrachtungen über die Zustände in Amerika, die der französische Philosoph und Staatsmann Alexis de Tocqueville in den 1830er Jahren verfasste, findet sich ein Kapitel „Der Ehrbegriff in der Demokratie“. Dort gibt es eine Passage, in der die Bedeutung des Ertragens sehr deutlich zum Ausdruck kommt: „In Amerika wird der kriegerische Mut wenig geschätzt; der Mut, den man am besten kennt und am höchsten achtet, besteht darin, der Wut des Ozeans zu trotzen, um schnellstens im Hafen zu sein, die Nöte der Wüste ohne klagen zu erdulden und die Einsamkeit, die grausamer ist als alles Elend; der Mut, der für den plötzlichen Zusammenbruch eines mühevoll erworbenen Vermögens Unempfindlichkeit verleiht und neue Kraft eingibt, wieder von vorne anzufangen. Dieser Mut ist es, der für die Erhaltung und Prosperität des amerikanischen Staates besonders notwendig ist und der von ihm besonders geehrte und gefeiert wird. Ohne ihn wäre man ehrlos.“  (Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika)

Was zum Rückbau übersteigerter Krisen erforderlich ist 

Wenn man zu verstehen versucht, wie Staat und Wirtschaft in Deutschland von einem riesigen, alles verschlingenden Wende-Maschine besetzt werden könnten, stößt man immer wieder auf dieselbe Leerstelle: Die Lösung des Ertragens kommt nicht vor. Eine politisch-moralische „Kultur“ hat die Oberhand gewonnen, in der alles Harte zum absolut Schrecklichen geworden ist und nicht mehr ausgehalten werden darf und kann. Eine Lösung kann dann nur noch in einem totalen Sieg über alle Üble und Finstere bestehen. So war es – wie oben beschrieben – in der Corona-Krise, bei der in Deutschland noch starke Restriktionen aufrechterhalten wurden, als sie in anderen Ländern schon lange beendet waren – weil man hierzulande um jeden Preis kritische Zustände im Gesundheitswesen vermeiden wollte und weil man von einem radikalen Lock-Down phantasierte, der das Virus „schnell besiegen“ könne. Inzwischen ist man zu einer solchen Null-Covid-Politik auf Distanz gegangen, aber man tut sich schwer, das Grundproblem – das Tabu des Ertragens von Leid und Tod – offen in Frage zu stellen. So ist man für den Fall einer neuen Pandemie schlecht gerüstet. 

In einer viel größeren Dimension zeigt sich die Bedeutung des Ertragens in der Klima-Krise. Der Schwerpunkt der gegenwärtigen Klimapolitik in Deutschland liegt nicht auf Schutzmaßnahmen, die die Folgen extremer Wetterereignisse mildern können. Auch nicht auf wasser- und forstwirtschaftlichen Umbaumaßnahmen, die ein Aushalten verlängerter Hitze und Dürreperioden ermöglichen würden. Stattdessen stellt man eine definitive Lösung („Klimaneutralität“ durch Ausstieg aus fossilen Energieträgern) in Aussicht. Diese radikale Beseitigung aller Klimaprobleme entwertet die Verbesserung von Schutzmaßnahmen angesichts neuer (und alter) Unbillen des Klimas. Die große „Ursachenbekämpfung“ führt zur Vernachlässigung jener Sphäre, in der eine Kombination aus anstrengender Arbeit und Aushalten von Widrigkeiten der Natur gefragt ist. Dabei lassen die Resultate der „großen“ Klimapolitik auf sich warten und sie erscheint mehr und mehr als akademische Alibi-Veranstaltung, um sich dem mühevollen Alltag vor Ort – vor allem auf dem Land – nicht aussetzen zu müssen.

In der Migrations-Krise gibt es einen ähnlichen Gegensatz zwischen einer „großen“ Scheinlösung (durch ein schnelles, massenweises Wechseln der Landeszugehörigkeit) und einer „kleinen“ Reallösung (durch die langsame, mühsame Entwicklung im eigenen Land). Die kurze Härte einer Flucht, die insbesondere für junge, alleinstehende, gewaltbereite Männer gar nicht so hart ist, ist mit dem langen, mühevollen Entwicklungs-Weg eines Landes und den dort Tag für Tag zu bewältigenden Schwierigkeiten überhaupt nicht vergleichbar. Das ist mit den „Nöten der Wüste“ gemeint, von denen Tocqueville spricht. Hier ist wahrlich ein Ertragen gefragt, das vor allem ein Ertragen der Langsamkeit kleiner Fortschritte ist. Und das gilt insbesondere auch für jene Länder, die im Laufe des 20. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit erkämpft haben und die danach einen Bevölkerungsüberschuss produziert haben, den sie kaum bewältigen können – und den auch kein anderes Land dieser Welt aufnehmen kann. So muss Deutschland wie andere Länder auch endlich die eigenen Grenzen hüten und die Spannungen ertragen, die mit dem Zurückweisen von Migranten verbunden sind. Aber es muss auch in Außenpolitik und Außenhandel die Tatsache ertragen, dass die Herkunftsländer souverän sind und wir nicht das Recht haben, sie auf unsere Normen zu verpflichten. 

Man könnte hier eine Erörterung anschließen, wie ein begrenzter Konflikt um den Kurs der Ukraine zu einer neuen Fundamental-Konfrontation werden konnte, die nur durch einen militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen „Sieg über Russland“ lösbar ist. Und ein solcher „Sieg“ ist nicht nur in weite Ferne gerückt, sondern es ist auch höchst zweifelhaft, ob er für Deutschland und Europa überhaupt wünschenswert ist. 

Die Vernunft des aktiven Ertragens 

Gegenüber den „Großkrisen“, die seit Beginn des 21. Jahrhunderts in immer dichterer Folge ausgerufen werden, und die immer mit der gleichen, opferreichen Wende-Politik beantwortet werden, zeichnet sich also eine Alternative ab. Immer spielt dabei die Fähigkeit des Ertragens eine Schlüsselrolle. Aber niemals geht es nur um ein stoisch-gelassenes, bloß selbstbezogenes Ausharren, sondern um ein aktives, sich an eine gegebene Realität anpassendes, arbeitendes Ertragen. Es geht um ein Gebot der Vernunft: Wenn es überhaupt eine menschliche Wirksamkeit auf Erden gibt und diese Wirksamkeit aber begrenzt ist, ist es – wenn man mit etwas sehr Schweren konfrontiert ist – sehr unvernünftig, dies Schwere unter größten Opfern wegschaffen zu wollen. Vernünftig ist, dies Schwere hinzunehmen, seine negativen Auswirkungen möglichst einzuhegen und dadurch Spielräume zu gewinnen. Wenn eine solche Vernunft zur Signatur dieses 21. Jahrhunderts wird, ist viel erreicht. 

Gefangen in einem unlösbaren Drama

Deutschland ist auf einem Kurs, der immer größere Opfer fordert. Die Opferbereitschaft der Bürger sinkt. Doch das bedeutet noch keine Abkehr von den Zielen, die das Land auf seinem Kurs immer weitertreiben.  

Gefangen in einem unlösbaren Drama

19. September 2023

Ist Deutschland an einem „Kipppunkt“? Manches scheint darauf hinzudeuten. Die Meinungsumfragen zur politischen Stimmung in Deutschland zeigen einen starken Vertrauensverlust für die Regierenden. Die Kritik macht sich fest an krassen Fehlleistungen wie dem „Heizungsgesetz“. Sie ist scharf, was bestimmte Personen und Parteien betrifft. Sie wird bestärkt durch die wirtschaftliche Rezession. Allerdings reicht dieser Vertrauensverlust noch nicht so tief, wie die Rede vom Kipppunkt suggeriert. Die großen Ziele, die den jetzigen Kurs des Landes bestimmen, werden noch kaum in Frage gestellt. So gibt es im Vertrauensverlust eine schwerwiegende Lücke: Zwischen den Opfern und den Zielen wird noch keine Verbindung hergestellt. Die Ziele gelten „an sich“ noch als gut und alternativlos, während die Opfer bloß als „Murks“ bei der Umsetzung angesehen werden. Deshalb ist das Land in diesem Herbst 2023 weit davon entfernt, seinen Kurs zu korrigieren. Es ist hin und her gerissen zwischen Vertrauensverlust und fortbestehendem Vertrauen. Die Mehrheit der Bürger schwankt zwischen der Ablehnung von Maßnahmen, deren zerstörerische Wirkung sie ganz handfest spüren, und dem Glauben an ein Weltdrama, in dem große Bedrohungen nur durch große Opfer gelöst werden können. Eine Abwägung von Opfern und Zielen, die zu dem Schluss führen könnte, dass die Ziele die Opfer nicht wert sind, kommt so gar nicht zustande. So bleibt das Land in einem unlösbaren Drama gefangen, das es immer wieder zu neuen Opfergängen treibt. Die Lage ist also noch nicht reif für einen Kurswechsel. Aber man sollte sich nicht dazu verleiten lassen, den Deutschen irgendeine besondere moralische Schwäche anzudichten. Vielmehr sollte man verstehen, dass es nicht leicht ist, das Szenario der ultimativen Bedrohungen und letztmöglichen Rettungen hinter sich zu lassen.     

Wie „unsere Ziele“ zu einer unanfechtbaren Macht wurden 

Die „Klimapolitik“ zeigt exemplarisch diese Gefangenschaft. In ihrem Namen erfolgen die tiefen Eingriffe in Produktionsenergie, Verkehr, Heizung, die die Bürger als Angriff auf ihre Existenz ansehen. Diese Eingriffe werden gerechtfertigt, indem ein globaler „Klimakollaps“ als große und akute Gefahr beschworen wird, vor der alle Opfer des Landes klein erscheinen. Zugleich wird eine große Rettung in Gestalt der „erneuerbaren Energien“ in Aussicht gestellt, die angeblich zum Greifen nahe ist – wenn man nur mit höchstem Tempo Windräder, Wärmepumpen etc. baut. Dann, so wird weiter versprochen, werden wir ein neues Wirtschaftswunder wie nach dem 2.Weltkrieg erleben, den sogenannten „Green Deal“. Und da dies Wunder nur von unserem Willen („ehrgeiziges Ziel“) abhängt, können wir den Übergang mit einer Sonderverschuldung (einer Art Kriegsanleihe) bewältigen, die einfach vorgreifend als „Sondervermögen“ verbucht wird. So ist ein gewaltiges, geschlossenes Szenario entstanden, aus dem es kein leichtes Entrinnen gibt. 

Mit der Klimapolitik wurde in Deutschland ein System von Zielen installiert, das wie eine Art zweite Verfassung funktioniert. Dies System steht außerhalb jeder Abwägung mit anderen Aufgaben und Rechtsgütern. In der politischen Rede wird die Formel „Wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen, müssen wir…“ inzwischen wie ein Mantra heruntergemurmelt. Man geht davon aus, dass niemand es wagt, „unsere Klimaziele“ in Frage zu stellen. Dabei reicht die Kombination von größtmöglicher Bedrohung und größtmöglicher Rettung so weit ins Spekulative, dass sie im Grunde gar nicht widerlegbar ist. Wenn der gesunde Menschenverstand einwendet, man brauche für einen so komplexen Gegenstand wie dem Weltklima eine viel umfangreichere und längere Forschung, und auch bei den erneuerbaren Energien müsse man erst langsam Erfahrungen mit der Leistungsfähigkeit und Stabilität dieser Technologie machen, wird ihm ein atemloses „Wir haben keine Zeit! Es ist eigentlich schon zu spät!“ zugerufen. Wer darauf verweist, dass in der Wende-Hast gut funktionierende Betriebsanlagen, Kraftwerke, Fahrzeuge und Heizungen zum alten Eisen geworfen werden und eine gigantische Wertvernichtung stattfindet, wird auf die goldene Subventions-Brücke verwiesen, die alle Verluste bezahlbar macht – auf Pump. 

So zeigt das Klima-Drama exemplarisch, was den jetzigen Kurs des Landes im Innersten zusammenhält. Die Kombination aus finstersten Bedrohungen und sonnigsten Rettungen macht die Welt zu einem Schauplatz der Zwänge. Die immensen Opfer sind keine „Fehler“, sondern ergeben sich ganz logisch aus diesem Szenario. Solange dies Szenario nicht in Frage gestellt wird, findet der Opfergang dieses Landes kein Ende. Und der Ausstieg aus diesem Zwangsdrama, kann nicht als ein schneller „Ruck“ geschehen, sondern nur als ein allmählicher, zäher Erfahrungsprozess. Die Behauptung, dass wir mit der Klimapolitik auf einem guten Weg sind und die Opfer allmählich weniger werden, lässt sich nicht theoretisch entkräften, sondern nur durch die realen Erfahrungen mit dem Opfergang. Ebenso lässt sich die Behauptung, dass wir vor einem Klimakollaps stehen, nur durch die Erfahrung entkräften, dass trotz extremer Wetterereignisse das Leben auf dieser Erde weitergeht. 

„Regieren am Limit“? 

Am Montag, den 11.9.2023 präsentierte die ARD zur besten Sendezeit einen Film mit dem Titel „Ernstfall – Regieren am Limit“. Im Vorstellungstext der ARD heißt es: „Die deutsche Regierung unter Olaf Scholz kämpft in Zeiten des Krieges in Europa mit großen Herausforderungen wie der Unterstützung der Ukraine, der Sicherstellung der Energieversorgung, der Bekämpfung der Inflation und der Klimakatastrophe.“

Der Film war kein Fernsehspiel aus der Welt literarischer Phantasie, sondern wurde dem Publikum unter der Bezeichnung „Dokumentarfilm“ präsentiert. Wie selbstverständlich ist hier vom „Krieg in Europa“ oder der „Klimakatastrophe“ die Rede – als wäre so ein Krieg und so eine Katastrophe bereits eingetreten. Und der Kanzler „kämpft“. Das ist Notstands-Sprache, obwohl ein solcher Notstand gar nicht parlamentarisch-demokratisch festgestellt wurde, wie die Gesetze dieses Landes es fordern. 

Wetterextreme, Hungersnöte, Epidemien, Militärinterventionen sind zunächst einmal begrenzte Krisen. Aber in unserer Zeit herrscht eine fatale Neigung, solche begrenzten Krisen zu fundamentalen Weltdramen zu steigern, die dann von einem Punkt aus gelöst werden sollen. Den Wetterextremen will man begegnen, indem weltweit alle fossilen Energieträger ausgeschaltet werden. Der Migrations-Krise will man Herr werden, indem man sie steigert und anstelle selbstverantwortlicher Nationen ein globales „Menschenrecht“ auf Asylsuche ausruft. Und auch in der Ukraine-Krise scheint die Lösung nur in einem Steigern zu liegen: Ein begrenzter militärischer Konflikt ist Anlass, um einen neuen Weltkampf zwischen einem „Reich der Freiheit“ und einem „Reich der Autokraten“ auszurufen. Wir hatten schon Zeiten, in denen eine friedliche Koexistenz unterschiedlicher Systeme als Ordnungsprinzip der Welt akzeptiert wurde. Nun aber soll es nur noch eine einzige Gesamtsystem-Lösung geben. 

So werden die Räume der Welt gleichgeschaltet und eng gemacht. Und zugleich werden die Zeiten der Welt dramatisch verkürzt. Überall regiert die Vorstellung, dass wir eigentlich keine Zeit mehr haben für langsame Entwicklungen – weil wir „terminalen“ Katastrophen „zuvorkommen“ müssen. Überall werden die Uhren auf „5 vor 12“ gestellt. Wir befinden uns in einer Art Wettlauf mit einer ablaufenden Zeit. Und daraus wird dann gefolgert: Lieber jetzt ein heftiger, schmerzvoller Eingriff – und dann haben wir es geschafft. So sind absurde Fristen für die Durchsetzung einer „Klimaneutralität“ beschlossen worden. Auch die „Null-Covid-Politik“, die zeitweise in Deutschland gefordert wurde, war von dieser Bauart: ein radikaler Lockdown, und dann sollte die Gefahr ein für alle Mal vorbei sein. Und in der Ukraine-Krise gibt es die Neigung zu einer „Null-Russland-Politik“: Eine militärische, politische, wirtschaftliche und kulturelle Offensive soll Russland völlig zu Boden werfen, und damit soll Frieden herstellbar sein.       

In Wahrheit wird ohne Limit regiert 

Kann man, angesichts dieser Entwicklungen, die Regierungsform unserer Zeit als „Regieren am Limit“ bezeichnen? Das ist eine krasse Verharmlosung. Wo gibt es denn im heutigen Regieren ein Limit? Wo gibt es eine Grenze, die diese Regierung in Beachtung der Ressourcen und Kräfte dieses Landes verlässlich festgelegt hat? Wir sehen an den verschiedensten Fronten nur ein Steigern der Einsätze. Nichts ist gelöst. Die als „gelöst“ verbuchten Krisen – wie die Migrationskrise und die Schuldenkrise – kommen in verstärkter Form zurück. Deutschland ist ein Land geworden, dass ohne Limit regiert wird. Unsere Nation, und auch manch andere Nation, ist auf einen Kurs gebracht worden, der schon weit jenseits jeder vernünftigen Grenze verläuft. Und es werden auch keine Anstalten gemacht, die verlorene Grenze wiederzufinden und in diese Grenzen zurückzukehren. 

Das aber liegt an der Art der Ziele, die als „unsere Ziele“ Tag für Tag vor der Nation beschworen werden. Denn in diesen Zielen gibt es gar keine Begrenzung. Sie gelten absolut und bedingungslos. In diese Ziele ist gar kein Haltepunkt eingebaut. Es gibt kein Gegengewicht, dass es erlauben würde, die Ziele zu relativieren. So wird der Einwand, dass die Verwirklichung der Klimaziele beim gegenwärtigen Stand der Technik zu einem Einbruch der Produktivität der Betriebe und der Tragleistung der Infrastrukturen führt, dadurch vom Tisch gewischt, dass „unsere Klimaziele“ ein ungleich höheres Gut seien – weil „der Planet“ oder gar „die Natur“ auf dem Spiel stehen. Und gegen den Einwand, dass die Aufnahmekapazität unserer Kommunen begrenzt ist und es deshalb eine Obergrenze für Asylbewerber geben muss und damit auch die Zurückweisung an Grenzen, genügt die Beschwörung des Absolut-Ziels, dass angesichts bedürftiger Menschen alle anderen Anliegen zurückstehen müssen – koste es, was es wolle. 

Das Land kann in eine Katastrophe rutschen

Dadurch, dass Deutschland unter die Herrschaft absoluter Ziele gestellt wurde, ist unsere gesamte staatliche und wirtschaftliche Grundaufstellung entwertet worden. In diesem Sinn leben wir nicht mehr in der Bundesrepublik, sondern in einem programmierten Land – „purpose driven“ heißt das im Neusprech unserer Gesellschaftslenker. Von hier droht die Gefahr, dass der jetzige Opfergang noch ein viel größeres Ausmaß bekommt. Das hängt auch mit der Tatsache zusammen, dass die herrschenden Ziele nicht nur Schriften und Reden sind, sondern dass der Mechanismus von Drohung und Rettung sich sozial, kulturell und institutionell verfestigt hat. Ein beträchtlicher Sektor der Gesellschaft wirkt an diesem Mechanismus mit und profiliert sich durch ihn. Kulturell hat sich vielerorts die Neigung durchgesetzt, die vormals unabhängigen Komplexe der Wissenschaft, der Kunst und der Medien in den Dienst der „höheren“ Ziele zu stellen. Institutionell gibt es inzwischen höchstrichterliche Urteile, die dem Parlament und der Regierung detaillierte Vorgaben machen, wie das Klimaziel umzusetzen ist. Urteile, die unseren Verpflichtungen und Vorleistungen in der Schuldenkrise, in der Migrationskrise oder in der Ukraine-Krise verlässliche Verfassungs-Grenzen setzen, gibt es nicht.  

So kann das Land zu immer größeren Opfern geführt werden, ohne dass es darauf reagieren kann – denn die großen Ziele wurden ohne das Gegengewicht anderer Güter und Rechte installiert, das ein Abwägen erzwingen könnte. Ja, dies Land kann in eine wirkliche Katastrophe rutschen. Um diese kritische Situation unseres Landes zu ermessen, reicht es nicht, auf Krisenerfahrungen der 1970er Jahre zurückzukommen. Die heutige Lage ist verfahrener. Die Kräfte, um aus ihr herauszufinden, müssen erst neu entwickelt werden. Und es ist ja nicht Deutschland allein, das in einer solchen Gefangenschaft steckt 

Der späte Ausweg aus der Urkatastrophe von 1914 

Vielleicht ist ein Vergleich mit der Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die dann in die europäische „Urkatastrophe“ von 1914 mündete, hilfreich. Damals wuchsen die sozialen und nationalen Feindbilder. Es gab auch ein Fremdeln mit der industriellen Moderne, obwohl diese Moderne schon das schlimmste Elend des 19. Jahrhunderts gemeistert hatte und sich die Situation in Fabriken und Großstädten stabilisiert hatte. Dennoch breitete sich eine kulturelle Stimmung von Hysterie und Hybris aus, die dann zu einer längeren Periode von Weltkrieg und Bürgerkrieg führte. Die Welt hatte sich verengt, und es gelang längere Zeit nicht, einen Ausweg aus der Übersteigerung von Gefahren und Heilszielen zu finden. 

Aber dann, in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, wurde er doch gefunden. Dabei sollte man eine geschichtliche Tatsache festhalten: Es war kein Ausweg mit einer „großen Transformation“ oder ähnlichen wundersamen Rettungen. Der Ausweg bestand in einer Abrüstung der großen Gefahrenbeschwörungen und Heilserwartungen. In diesem Sinn kann es hilfreich sein, sich das kritische Datum 1914 wachzurufen: Die Lösung kann nur in einer Abrüstung der absoluten Ziele bestehen. 

Ein „Deutschlandpakt“, der von einer Abrüstung der Ziele nichts wissen will

Die Haushaltsdebatte im Deutschen Bundestag ist immer eine Schlüsseldebatte, in der es – ob die Redner es wollen oder nicht – um die Lage der Nation geht. Anfang September 2023 hat eine solche Debatte stattgefunden. Der Bundeskanzler hat einen „Stillstand“ im Lande beklagt und „eine nationale Kraftanstrengung“ gefordert: „Die Bürgerinnen und Bürgerinnen sind diesen Stillstand leid. Und ich bin es auch.“ Er hat also eine Beschleunigungsrede gehalten. Eine Schneller-Schneller-Rede. Und der Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7.September (Jasper von Altenbockum) stößt ins gleiche Horn: Die Koalition müsse erst zusammenrücken, „um energisch in Angriff nehmen können, was sie sich vorgenommen hat.“ Die Liste der Vorhaben, „die nach Fortschritt und Tempo schreien“ werde lang und länger, heißt es im Leitartikel. Aber ist „mehr Tempo!“ wirklich das Gebot der Stunde? Soll etwa die „Klimaneutralität“ noch schneller umgesetzt werden? Sollen die Migrantenströme, die an der Südgrenze nicht aufgehalten werden, schneller in Europa verteilt werden? Soll die Ukraine angesichts einer stagnierenden Offensive noch schneller aufgerüstet werden? 

Nein, etwas ganz Anderes wäre jetzt geboten. Die deutsche Nation braucht ein Innehalten, um den Weg, auf den sie sich begeben hat, zu überprüfen. Bestimmte Ziele, wie der Ausstieg aus den Basis-Technologien „Verbrennungsmotor und Verbrennungsheizung“ müssten aufgeschoben werden. Angesichts fundamentaler Unsicherheiten und einer schnell anwachsenden Kostenlawine wäre ein Moratorium bei der „Klimawende“ angebracht. 

Doch der Kanzler will der Nation dies Innehalten zur Überprüfung der beschlossenen Ziele nicht gewähren. Er will in einem Moment, in der die Zweifel wachsen, in der aber ein großer Teil der Opposition die Ziele noch nicht in Frage stellen mag, schnell die Reihen schließen. Er will den Bundestag und mit ihm die Bürger auf dem jetzigen Erkenntnis-Stand festhalten und für die unerreichbaren und sinnlosen Ziele in die Pflicht nehmen. Nur zu diesem Zweck wird jetzt ein „Deutschlandpakt“ ins Gespräch gebracht.

VW – Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft

VW – Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft

Bei der Volkswagen AG geht es nicht um eine der gewohnten Strukturwandels-Krisen, sondern um die ganze Existenz als großer Automobilhersteller. Und auch die gegenwärtige Wirtschaftskrise ist eine Unternehmenskrise.

Gerd Held, 10. Februar 2025

Die VW-Krise ist erstmal aus den Schlagzeilen. Aber sie ist durch die im Dezember vereinbarten Sanierungsmaßnahmen nicht gelöst. Es ist der Glaube an die Kräfte eines „Kompromisses“, eines „Zusammenhaltens“ in „Zuversicht“, der dazu führt, erstmal nicht tiefer in den Abgrund zu schauen, vor dem der größte deutsche Autobauer steht. Dabei kommt in der Krise von VW exemplarisch die Misere der deutschen Wirtschaft zum Ausdruck. Diese Misere liegt nicht daran, dass ein an sich wohlbegründeter Strukturwandel nur „verschlafen“ wurde. Die deutsche Wirtschaft befindet sich nicht nur in einer Übergangskrise, bei der eigentlich feststeht, dass tatkräftige Unternehmen sie meistern können. Nein, der ganze Übergang ist fragwürdig geworden. Es gibt berechtigte Zweifel, ob die gesetzten „obersten Ziele“ einer technologischen Neuerfindung des Automobils und einer weiteren Globalisierung der Unternehmens-Standorte überhaupt unternehmerisch vernünftig sind. Das aber würde bedeuten, dass die Krise der deutschen Wirtschaft in ihrem Kern eine existenzielle Unternehmenskrise ist, bei der es darum geht, ob in Zukunft überhaupt noch Unternehmen die tragenden Säulen der Volkswirtschaft sein werden.
Man könnte also erwarten, dass nun die Grundentscheidungen, die die Tätigkeit der Unternehmen belasten, überprüft und gegebenenfalls revidiert werden. Aber das passiert nicht. Die Krise ist an einem toten Punkt angelangt, wo einerseits noch ein Weiter-So praktiziert wird, und andererseits das Vertrauen in eine nachhaltige Überwindung der Krise Tag für Tag geringer wird. So herrscht eine merkwürdige Unentschiedenheit. Ist das eine persönliche Charakterschwäche der Verantwortlichen? Nein, eher ist es ein Fehlen klarer Kriterien, nach denen die Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit des eingeschlagenen Kurses beurteilt werden kann. Die Krise ist also letztlich eine Krise des unternehmerischen Urteilsvermögens. Die deutsche Wirtschaftskrise ist – ohne dass man sich dessen schon recht gewahr geworden wäre – eine Krise der unternehmerischen Vernunft. Um sie muss die Auseinandersetzung geführt werden. Und dieser Kampf findet innerhalb der Unternehmen statt, wo die Signale unübersehbar sind, dass die selbst gesetzten Ziele sich außerhalb der Grenzen unternehmerischer Vernunft bewegen. Und sie findet zwischen den Unternehmen und den von außen gesetzten politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen statt, die sichtlich die Anforderungen der unternehmerischen Vernunft missachten.
Deshalb ist die Krise von VW ein bedeutsames und schwerwiegendes Geschehen – sowohl für dies einmal so große und erfolgreiche Unternehmen, als auch für den Industriestandort Deutschland, dessen erfolgreiche Geschichte VW über Jahrzehnte mitgeschrieben hat.

Die VW-Krise ist nicht überwunden

Am 23. Dezember 2024 erschien im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein ganzseitiges Interview mit dem VW-Vorstandsvorsitzenden Oliver Blume. Zu diesem Zeitpunkt war ein Abkommen mit der IG Metall und dem Betriebsrat über einen Personalabbau und Einsparungen bei Löhnen und Gehältern schon beschlossene Sache. Blume bezifferte die „nachhaltigen Kostenentlastungen“ für die Volkswagen AG auf 15 Milliarden pro Jahr. Das bedeutet real eine Reduzierung der Produktionskapazitäten um rund 730000 Fahrzeuge, die dauerhaft sein soll. VW schrumpft also. Das entspricht nach Blume, „dem Produktionsumfang von zwei bis drei großen Werken“. Und er fügt in dem Interview hinzu: „Wichtig ist, dass wir unsere Kernmarke VW so aufstellen, dass sie ihre Investitionen selbst finanzieren kann.“ Man könne und wolle sich nicht mehr auf unterstützende Einnahmen aus dem Auslandsgeschäft verlassen, „beispielsweise aus China“. Und der VW-Chef spricht auch von den politisch gesetzten Rahmenbedingungen und davon, dass „das Wirtschaftsmodell Deutschland adjustiert werden“ müsse:
„Unsere Industrie hat lange davon gelebt, dass wir hier hervorragende Produkte entwickeln und produzieren, um sie in die ganze Welt zu liefern. Jetzt sehen wir geopolitische Verschiebungen und Protektionismus. Und technische Regulierungen, die sich global weit auseinanderentwickeln.“
Das ist erstmal sehr richtig und eine Portion Realismus. Der Markteinbruch bei den Elektro-Automobilen in Europa und die schweren Verluste von VW-Marktanteilen in der Welt, insbesondere in China, zeigen also Wirkung. VW ist existenziell gefährdet, und diese Situation ist durchaus exemplarisch für den Industriestandort Deutschland. Aber bedeutet das geschlossene Abkommen, dass VW über den Berg ist? Die Krise betrifft tragende Säulen des Geschäftsmodells, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten verfolgt wurde. Einsparungen und Reduzierungen der Produktionskapazitäten reichen da nicht.

Es geht um die Grundaufstellung des Unternehmens

Gemessen an der Tiefe der Krise sind die Aussagen, die der VW-Chef Blume in dem Interview macht, ziemlich schwach. Sie sind eine Mischung von Lösungen, aus denen nicht hervorgeht, mit welcher Grundaufstellung das Unternehmen aus der Krise herauskommen soll. Insbesondere sind die Kürzungen nicht mit einer Zurücknahme von Zielen verbunden, die zu der jetzigen Situation geführt haben. Der harte Kern der VW-Krise besteht ja darin, dass zwei große Auswege, auf die VW gesetzt hat, sich jetzt als ruinös erweisen. Zum einen ist der technologische Ausweg in die E-Mobilität keine Lösung für das Automobil als Massenverkehrsmittel. Setzt ein großer Autohersteller auf diese Zukunft, wird er seine Größe verlieren. Zum anderen ist auch der Ausweg in eine noch stärkere Globalisierung versperrt. Eine Exportoffensive, wie sie in vergangenen Jahrzehnten erfolgreich war, scheitert heute daran, dass andere Länder zu starken Hersteller-Ländern geworden sind. Also steht auf zwei zentralen Feldern bei nüchterner Betrachtung eine wirkliche Wende zum Besseren nicht in Aussicht. Die Einschnitte, die bei VW jetzt beschlossen wurden und die nicht bloß als kurzfristige Anpassung verstanden werden, sind im Grunde ein Eingeständnis, dass es hier kein Weiterkommen gibt.
Aber die Führung des Unternehmens und auch die Vertreter der Belegschaft scheinen nicht die Kraft aufzubringen, sich von diesen Grundentscheidungen wirklich zu verabschieden. Es wird noch nicht einmal in klaren Alternativen gedacht. Über dem Interview in der FAZ steht die Aussage des VW-Chefs „Es liegt noch viel Arbeit vor uns“. Das kann man als vorsichtigen Hinweis lesen, dass VW noch große, schwierige Entscheidungen vor sich hat. Aber das „viel Arbeit“ kann auch dahingehend verstanden werden, dass es nun nur noch um viele kleinere Details geht. Und dann liest man den Satz: „Die grundsätzliche strategische Richtung hin zur E-Mobilität ist klar“. Blume will also an der bisherigen technologischen Grundentscheidung weiter festhalten. Soll also „viel Arbeit“ in ein Fahrzeug-Angebot investiert werden, für das kein entsprechender Markt da ist?
Bei den gewaltigen betrieblichen und infrastrukturellen Investitionen für die E-Mobilität ist es höchst zweifelhaft, ob sie wirklich als reale Investitionen zu zählen sind. Das heißt, ob sie wirklich eines Tages Überschüsse erzeugen, aus denen das ausgegebene Geld wieder hereingeholt wird. Andernfalls hätte man da nur eine gigantische Investitionsruine errichtet. Soweit das durch eine zusätzliche Sonder-Verschuldung von Unternehmen und Staat finanziert wird, ist mehr als fragwürdig, aus welchen Erträgen die Schulden je abgetragen werden können. Die Energiewende könnte sich also als ein ewiger Zuschussbetrieb und als eine schwere Belastung für die ganze Volkswirtschaft erweisen. Und auch bei der Globalisierung sind die deutschen Autobauer und politisch Verantwortlichen im Land an einem toten Punkt angelangt. Sie mögen sich nicht vom Exportbasis-Dogma trennen, und müssen dann zusehen, wie andere Länder ihre Binnenmärkte selbst bedienen. Und wie sie – siehe China – auch ihrerseits auf den Weltmarkt vordringen.
Die Vorstellung, dass das Unternehmen VW eigentlich auf dem richtigen Kurs ist, und nur einzelne Anpassungen erforderlich sind, ist daher falsch. Es geht nicht um eine Übergangssituation, die nur irgendwie „überbrückt“ werden muss, um dann wieder in Fahrt zu kommen. Diese Vorstellungswelt bewegt sich in Stimmungen zwischen Angst haben und Mut machen. Damit kommt man in der Welt der Realwirtschaft nicht zurecht. Kein Unternehmen kann sich auf dieser Basis längere Zeit halten. Es muss auf gegebene Realitäten mit eigenen Realitäten antworten. Umso wichtiger ist es, sich das Wesen und die Gesetze dieser unternehmerischen Realität noch einmal in Erinnerung zu rufen.

Über die unternehmerische Vernunft

Um die Misere von VW zu begreifen, muss man zunächst die Fähigkeiten und Anforderungen kennen, die das Wesen eines modernen Wirtschaftsunternehmens ausmachen. In dieser Hinsicht ist der eingangs zitierte Satz von Oliver Blume ein sehr richtiger und wichtiger Satz: „Wichtig ist, dass wir unsere Kernmarke VW so aufstellen, dass sie ihre Investitionen selbst finanzieren kann.“ Dieser Satz handelt von einer auf Dauer angelegten Fähigkeit moderner Unternehmen: Dass sie sich aus ihren eigenen Überschüssen immer wieder reproduzieren können. Die Produktivität von Unternehmen misst sich nicht an einmaligen Überschüssen, sondern an Überschüssen, aus denen immer wieder von neuem Einkommen der Belegschaft und der Kapitaleigner bezahlt werden können. Und aus denen die Investitionen finanziert werden können, damit die Reproduktion der Unternehmen gewährleistet ist. Das kann die einfache Reproduktion sein, die den natürlichen Verfall und den Verschleiß in der Produktion ausgleicht. Oder die erweiterte Reproduktion, die die Maschinen und das Arbeitsvermögen des Unternehmens quantitativ oder qualitativ vergrößert.
Es geht also erstens um Eigenständigkeit, und zweitens um Dauerhaftigkeit. Beides ist im Profit enthalten, der an den Kapitaleinsatz gekoppelt ist. Von „Kapital“ im Unterschied zu bloßem „Reichtum“ kann erst die Rede sein, wenn es diese sich selbst reproduzierende Fähigkeit hat. Die unternehmerische Vernunft muss dieser Eigenschaft gerecht werden. Dass sie das tatsächlich kann, ist eine historische Errungenschaft. Die Zivilisation musste eine bestimmte Höhe der Produktivität erreicht haben. Und eine bestimmte institutionelle Ordnung musste gewährleisten, dass die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung der Reproduktionsaufgabe dem oder den beteiligten Akteuren zugerechnet wurde – die Eigentumsrechte.

◊◊◊

Gegenwertig wird der Zustand und die Bedeutung von Unternehmen vor allem mit dem Gründungsgeschehen (den „Start Ups“) verbunden. Aber das geht an der Hauptsache vorbei und führt in die Irre. Das „Gründen“ ist ja noch das Leichteste und immer schnell getan. Obendrein wird hier das (Risiko-)Kapital größtenteils von fremder Hand zur Verfügung gestellt. Es wird gar nicht von den Gründern erarbeitet. Man kann eine große „Gründerszene“ haben, die zwar gewisse Umsätze macht, aber jahrelang keine Überschüsse erwirtschaftet.
Ist ein Unternehmen für die Einkommen und Investitionen immer mehr auf Schulden oder Subventionen angewiesen, ist es schon nicht mehr ein gesundes Unternehmen. Zu dessen Wesen gehört, eigenständig und dauerhaft Überschüsse erwirtschaften zu können. Wenn in der Unternehmens-Landschaft eines Landes ein immer größerer Teil der Unternehmen durch mehr Schulden oder Subventionen am Leben erhalten werden muss, kann von einer modernen, kapitalgetragenen Marktwirtschaft nicht mehr die Rede sein. Ohne eigenständige Unternehmen verliert auch das Land seine Eigenständigkeit. Und es verliert seine Motivation. Denn das ist ja der ökonomische Clou der Moderne: Dass sie zu Anstrengungen für positive Erträge motiviert, indem sie diese Erträge dort lässt, wo sie entstehen, und erst in einem zweiten Schritt einen Teil dieser Erträge für gemeinschaftliche Aufgaben und Infrastrukturen einzieht.

◊◊◊

Diese Reproduktivität aus eigenen Überschüssen (Profiten) ist der gute harte Kern des Kapitalismus. Diese Reproduktivität beruht nicht auf einer Moral, die von außen den Unternehmern auferlegt werden muss und in die Unternehmen hineingetragen werden muss. Sondern sie ist Teil der Logik des Kapitals. Mit der Re-Investition von Teilen des Überschusses steht und fällt das Gesamtkapitals. Würde man die Überschüsse als bloßen Schatz behandeln und Stück um Stück verzehren, wäre bald der Produktionszusammenhang nicht mehr aufrechtzuerhalten – geschweige denn zu erweitern. Das ist ein mächtiges, originär unternehmerisches Motiv zur Reproduktivität.
Ein oberflächlicher Blick sieht bei der Produktivität eines Unternehmens nur den einmaligen Akt. Und das gibt Raum für alle möglichen Vorurteile: Ein heute sehr verbreitetes Vorurteil lautet, dass in der Welt der Unternehmen der Imperativ des „immer höher, immer weiter, immer größer, immer schneller“ herrschen würde. Dass nur die höchsten Profite zählen würden. Dass die kapitalistische Konkurrenz deshalb eine gnadenlos verdrängende Konkurrenz auf Leben und Tod wäre. Wer nicht bei dieser Maximierung mitmache, sei zum Untergang verurteilt. Und da alle mitmachen, kommt es zu einer ruinösen Steigerung, die schließlich zu einer terminalen Krise führen würde.
So macht man der ökonomischen Vernunft einen falschen Schauprozess, in dem man ihre Eigenschaften von vornherein völlig verzerrt hat. Man übersieht geflissentlich, dass es für das Kapital völlig logisch ist, bei einer Investition in eine erweiterte Reproduktion sehr vorsichtig zu sein – denn man setzt dann ja die erzeugten Überschüsse und auch das Kapital, das sie bisher erzeugt hat, aufs Spiel. Der Schauprozess basiert also im Grunde auf der Annahme, dass die Haftung mit eigenem Eigentum kein Grund zu besonderer Sorgfalt ist, sondern ein Grund zu besonderem Leichtsinn und grenzenloser Verschwendung.

◊◊◊

Es geht hier um die Frage, ob der unternehmerischen Vernunft eine Kraft zur Selbstbegrenzung innewohnt oder nicht. Ein realwirtschaftliches Faktum kann zeigen, dass es diese Kraft gibt, und dass sie gar nicht in einer besonderen persönlichen Weisheit des Unternehmers besteht, sondern von den Gegenständen der unternehmerischen Tätigkeit. Es fällt nämlich auf, dass sich die Konkurrenz in verschiedenen Branchen zu sehr verschiedenen Unternehmenslandschaften führt. Es gibt keineswegs überall die Tendenz, dass nur einige wenige Monopolisten übrigbleiben und das Marktgeschehen unter sich ausmachen. Die Schwerindustrie führt, auf Grund des Kapitalaufwandes und der Unteilbarkeit von Produktionsprozessen zu wenigen Akteuren, während die Leichtindustrie viel mehr Unternehmen umfasst. Der Flugzeugbau weist höhere Konzentrationsgrade als der Automobilbau auf. Aber in beiden Branchen bietet die Spezialisierung von Flugzeugen bzw. Fahrzeugen auch Platz für kleinere Hersteller. Ebenso führen Teilbarkeiten des Herstellungsprozesses auch zur Trennung zwischen Hauptunternehmen und Zulieferern. Statt eines monotonen Trends zum „immer größer“ gibt es ein immer wieder neues Spiel der Grenzen. Und dies Spiel folgt weniger den Launen der Personen als den Veränderungen der Dinge.
Diese reproduktive Orientierung der unternehmerischen Vernunft bindet sie stets von neuem an die Realität dieser Welt. Die Tatsache, dass die Überschüsse eines Unternehmens zeitweilig die Form des Geldes annehmen, ändert an diesem Realismus nichts. Das Geld ist eine verallgemeinerte Form des Unternehmensprofits. Und es ist prinzipiell für die unterschiedlichsten Käufe (Rückverwandlungen in Sachwerte) offen. Aber dass heißt nicht, dass man sich darauf zurückziehen kann, diese abstrakte Form des Reichtums bloß als Schatz aufzuhäufen und anzubeten. Bei aller Offenheit ist die Rückverwandlung in die Bestimmtheit eines Sachwertes (ob als Einkommen oder als Investition) unverzichtbar. Die kapitalistische Ökonomie hat diese Rückverwandlung gewaltig ausgedehnt – allein schon durch die geschichtliche Entwicklung, in deren Lauf sie aus der Handelssphäre in die Produktionssphäre vorgedrungen ist. So hat die reproduktive Vernunft der Unternehmen ihr Potential erst richtig durchgesetzt.
Auch in anderer Hinsicht ist der Blick auf die Realwirtschaft und ihre Geschichte hilfreich: Sie zeigt, dass Unternehmen immer die Fähigkeit hatten, längere „träge“ Perioden zu überstehen, in denen es bei Technologie und Arbeitsverfahren sich einfach keine Gelegenheiten zu Erweiterung und Innovation gab. Eine kapitalistische Volkswirtschaft besteht immer auch aus Branchen, Unternehmen und Unternehmensteilen, die relativ „alte“ Produkte und Herstellungsverfahren verwenden. Das macht ihre Breite und Komplexität aus. Auch ihre Überlebensfähigkeit. Es hat daher nichts mit unternehmerischer Vernunft zu tun, wenn heute in Deutschland zwanghaft nach sogenannten „Zukunftstechnologien“ gesucht wird und nur diese als erstrebenswert betrachtet werden. Und diese Verengung der Zukunft auf das Neue dann als Stärkung der „Resilienz“ (Widerstandskraft in Krisen) gilt – wo diese Flucht nach vorne doch gerade krisenanfällig macht.
Es gibt kein höheres Gesetz, dass jedes kapitalistische Unternehmen immer nach einer erweiterten Reproduktion streben muss. Ein kapitalistisches Unternehmen braucht unbedingt Überschüsse (Profite), aber die Überschüsse müssen nicht so hoch sein, dass sie um jeden Preis eine Erweiterung tragen müssen. Es funktioniert auch bei einfacher Reproduktion: bei dem bloßen Ersatz des natürlichen und produktiven Verschleißes der Maschinen und Anlagen. In der Realität kommt es oft vor, dass ein Unternehmen in einem tragenden Teil bewährte Technologie, Maschinerie und Fachkönnen verwendet und in einem kleineren Teil mit neuen Dingen experimentiert. Dass es also Standbein und Spielbein hat.
Nur durch diese reproduktive Flexibilität ist die erstaunliche Beständigkeit des Kapitalismus zu erklären, die der Kapitalismus in den vergangenen Jahrhunderten gezeigt hat. Könnte er wirklich nur dem Steigerungs-Gesetz des Höher, Weiter, Größer, Schneller folgen, wäre er längst untergegangen.

◊◊◊

Ein anderes grundlegendes Merkmal der unternehmerischen Vernunft wurde bisher noch nicht erwähnt. Es geht um die Dinge, die ein Unternehmen bei seiner Tätigkeit als Aufgaben (und Kosten) berücksichtigen kann, und die Dinge, die es als Aufgaben (und Kosten) nicht berücksichtigen kann. Es geht also um die Unterscheidung und Grenze zwischen den sogenannten „internen Kosten“ und „externen Kosten“. Zunächst einmal muss hier hervorgehoben werden, dass ein Unternehmen sehr viele und sehr verschiedene Kosten berücksichtigt. Aber einige Kosten sind im Prinzip unendlich groß und können daher nicht im vollen Umfang berücksichtigt werden. Die dadurch entstehenden Kosten würden jedwede Möglichkeit zu positiven Erträgen zunichtemachen. Zum einen können Unternehmen nicht Einkommen bezahlen, die alle Bedürfnisse der beteiligten Menschen befriedigen. Die menschlichen Bedürfnisse und Wünsche sind im Prinzip unendlich. Zum anderen können Unternehmen auch nicht alle Aufgaben der Naturerhaltung und Naturentfaltung erfüllen, weil auch diese Aufgaben im Prinzip unendlich sind. Auf beiden Seiten wird es also externe „soziale“ und „ökologische“ Kosten geben, die nicht „internalisiert“ werden können. Sie können nicht alle berücksichtigt werden, sondern müssen extern bleiben.
Dabei ist eine Tatsache noch gar nicht erwähnt worden, die die gegenseitige Beziehung der sozialen (menschenbezogenen) Kosten und den ökologischen (naturbezogenen) Kosten betrifft: Diese Beziehung ist eine konträre, gegenläufige Beziehung. Eine größere Steigerung bei der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und Wünsche muss mit einer stärkeren Belastung der Naturbedingungen und Ressourcen bezahlt werden. Eine stärkere Berücksichtigung natürlicher Knappheiten muss mit weniger Einkommen auf Seiten der Menschen bezahlt werden. Gerade diese Gegenläufigkeit der Aufgaben, die ein Unternehmen berücksichtigen muss, zieht der „Internalisierung externer Kosten“ enge Grenzen. Gewiss kann der technologische Fortschritt oder eine höhere Effizienz bei der Unternehmensorganisation die Spielräume etwas erweitern. Aber die Grenzen bleiben eng, und die Steigerungen müssen konkret auf dem jeweiligen Tätigkeitsfeld eines bestimmten Unternehmens oder einer bestimmten Branche wirksam sein. Eine generelle Wette auf ein allgemeines „Gesetz des Fortschritts“ hilft den Unternehmen nicht. Sie müssen immer von der konkreten Situation ihrer Industrie ausgehen. Sie müssen dabei immer mit der Möglichkeit rechnen, dass diese Industrie in einer historischen Phase ist, in der es keine großen Sprünge gibt, sondern nur kleinere und langsame Entwicklungsschritte. Für abstrakte Gesetze können sie sich nichts kaufen.

◊◊◊

Die „Internalisierung externer Kosten“ ist ein großes Thema unserer Zeit. Nachdem dabei lange Zeit vor allem sozial-menschliche Bedürfnisse und Ansprüche gestellt wurden, werden jetzt zusätzlich ökologische Restriktionen (siehe Klimarettung, Rettung der Artenvielfalt) betont. Aber dabei geschieht nicht eine Internalisierung in dem Sinn, dass die gegenläufige Beziehung zwischen sozialen Kosten und ökologischen Kosten berücksichtigt wird. Vielmehr werden die ökologischen Aufgaben einfach zu den sozialen Bedürfnissen hinzuaddiert – sie werden also auf die fortbestehenden sozialen Bedürfnisse einfach draufgesattelt. Ein Beispiel sind die sogenannten ESG-Kriterien, über deren Erfüllung mittlere und größere Unternehmen nach einer EU-Verordnung penibel Bericht erstatten müssen. Hier werden die verschiedenen Kriterien auf einer Liste nebeneinandergestellt und nebeneinander behandelt. Ob und wie das Unternehmen diese Ansprüche in ihrer Produktionsaufgabe zusammenführen kann und positive Erträge erzielen kann, bleibt offen. Die Unternehmen werden zur Übernahme von zusätzlichen Aufgaben und Ausgaben veranlasst, die dann eventuell ihren Wertschöpfungs-Zusammenhang sprengen. Die Aufgabe der „Internalisierung“ wird den Betrieben nach dem Prinzip „Friss, Vogel, oder stirb“ vor die Füße gekippt.
Die „Internalisierung von externen Kosten“ ist daher keine wirkliche Internalisierung, sondern nur eine von außen dem Unternehmen auferlegte Zusatzlast. Sie ist ein Einfallstor für die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft. Man hört immer wieder das Argument, dass eine Nichtbeachtung human-sozialer und ökologischer Aufgaben auf die Dauer (wegen sozialer Unruhen und Naturkatastrophen) „viel teurer“ käme als eine sofortige Behandlung und Bezahlung als „Kosten“. Doch damit würde das Problem nur in die Unternehmen verlagert, die in den Ruin getrieben würden. Eine Wirtschaft mit positiven Erträgen würde in eine Defizitwirtschaft verwandelt, deren Verschuldung Tag für Tag wächst. In eine solche Wirtschaft würde niemand investieren. Und es gäbe auch kein Motiv mehr, bei der Arbeit Tag für Tag Mühe und Sorgfalt aufzubringen. Es gehört offenbar zur wirtschaftlichen Vernunft, dass sie einen erheblichen Teil der natürlichen und menschlichen Entwicklungen als Externa hinnimmt und sich nur, soweit es geht, vor den schlimmsten Folgen schützt. Dass man also viele Entwicklungen, an deren Ursachen man nichts ändern kann, in ihrem Verlauf „palliativ“ mildert.

◊◊◊

Und noch ein Punkt ist hier wichtig. Die unternehmerische Vernunft ist nicht die einzige Vernunft, die in einem modernen Land vorhanden sein muss. Es gibt auch eine staatliche Vernunft, die sich von der unternehmerischen Vernunft unterscheidet und anderen Kriterien folgt. Der Staat unterliegt eigenen Leistungskriterien, auch er muss liefern – wie es exemplarisch in den verschiedenen Infrastrukturen ihren Niederschlag findet. Auch hier werden viele, verschiedene und gegenläufige Dinge integriert. Und auch hier gibt es Externa, die kein Staatswesen in seinen Strukturen auffangen kann. Doch zieht die staatliche Vernunft die Grenze zwischen intern und extern etwas anders als es die unternehmerische Vernunft es tut. Die unternehmerische Vernunft „produziert“. Sie geht induktiv vom Einzelding aus und kann in der wiederholten Herstellung von Produkten Überschüsse erwirtschaften. Die staatliche Vernunft ist nicht auf solche Überschüsse gerichtet, sondern setzt breiter an: Sie richtet sich auf eine Allgemeinheit und hebt deren Niveau. Ob es um Wegesysteme, Leitungssysteme, Müllentsorgung, Gesundheit, Bildung geht – immer richtet sich die staatliche Vernunft auf eine Allgemeinheit und leitet deduktiv daraus ihre Strukturen und Größenordnungen ab. Sie muss selber keine Überschüsse erwirtschaften, sondern nur „Bedingungen der Möglichkeit“ von Überschüssen herstellen. Der Staat finanziert sich aus diesen Überschüssen und ist insofern von einer eigenständigen und starken unternehmerischen Vernunft abhängig. Der moderne Staat hat seine eigenen sachlichen Effizienzgesetze. Er ist nicht in erster Linie ein personales Herrschaftssystem. Er hat seine eigenen Internalisierungs-Grenzen: Er kann nur einen Teil der sozialen Ansprüche und ökologischen Restriktionen integrieren. Generell kann man sagen, dass Staaten einen weiteren Umkreis von sozialen Ansprüchen und ökologischen Restriktionen internalisieren können. Aber das liegt nicht daran, dass ihre Vernunft einen höheren Standpunkt innehat oder moralisch besser ist, sondern dass sie nicht tagtäglich mit der Erzielung von Überschüssen beschäftigt sein muss.
Man kann es auch so ausdrücken: Die Gesamtheit der Unternehmen stellt eine große Produktionsmaschine dar, während die Gesamtheit der staatlichen Einheiten eine große Hebemaschine ist. Diese Unterscheidung ist wichtig. Die Differenzierung zwischen einer Unternehmenswelt und einer Staatswelt ist eine Errungenschaft moderner Länder. Sie ist effizienter als eine Vermischung von Unternehmen und Staat. Wenn Unternehmen wie ein Staat funktionieren sollen, oder wenn Staaten wie Unternehmen funktionieren sollen, kommt es zu einer Überlastung und Überdehnung – sowohl auf Seiten des Staates als auch auf Seiten der Unternehmen. Nur eine klare Differenzierung zwischen unternehmerischer und staatlicher Vernunft kann das vermeiden. Die unternehmerische Vernunft, um die es in diesem Essay geht, kann also niemals die alleinige Patentformel für ein modernes Land sein. Aber sie ist eine tragende Säule.

Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft

Eine nähere Betrachtung der unternehmerischen Vernunft – der „Unternehmensräson“, wenn man so will – kann helfen, besser zu verstehen, was bei VW auf dem Spiel steht, und welche Mechanismen hier am Werk sind. Wer bei unternehmerischer Vernunft nur an etwas denkt, das irgendwie „zu eng“, zu kurzsichtig“, „zu einseitig“, zu egoistisch“ ist, wird dazu neigen, sie mit zusätzlichen Aufgaben und höheren Zielen zu befrachten. Das führt zu einer Überlastung und zu einer Auflösung des Zusammenhalts und Zusammenhangs des Unternehmens. Das Unternehmen kann seine produktiven und reproduktiven Vorzüge gar nicht mehr zur Geltung bringen. Von dieser Art ist die VW-Krise. Ihre tieferen Gründe liegen nicht in einer Übertreibung oder „Radikalisierung“ der unternehmerischen Vernunft, sondern in einer Überlastung durch unternehmensfremde und uferlose Ziele. Mit einem anderen Begriff: Es handelt sich um eine Überdehnungskrise.
Wenn man versucht, den tieferen Gründen der VW-Krise nachzugehen, die auch eine Krise anderer großer Automobil-Unternehmen und eine allgemeine Unternehmens-Krise in Deutschland ist, dann stößt man immer wieder auf den gleichen Vorgang: auf Versuche, externe Veränderungen in interne Umstrukturierungen zu transformieren. Doch führen diese Internalisierungen zu einer Überdehnung der Unternehmen. Sie verzehrt ihre Wertschöpfung und damit auch die Ressourcen, auf denen ihre Fähigkeit zur eigenen Reproduktion beruht. Die bedingungslose „Öffnung“ eines Unternehmens für unkontrollierbare Faktoren und Entwicklungen zerstört seine Existenz.
Die VW-Krise ist keine Krise einzelner, isolierter Fehlentscheidungen, wie sie immer vorkommen und relativ leicht korrigierbar sind. Sie ist auch keine Krise im Rahmen eines Strukturwandels, bei dem eine sichere neue Struktur zur Verfügung steht, die an die Stelle der alten Struktur gesetzt werden kann. Die VW-Krise ist eine systematische Krise, die die Grundaufstellung des Unternehmens betrifft. Diese Krise hat insbesondere mit den Grenzen des Unternehmens zu tun. Diese Grenzen können nicht beliebig ausgedehnt werden, wenn nicht die Integrationsleistung des Unternehmens und seine (Re-)Produktivität Schaden nehmen soll.
Deshalb ist es wichtig, an das Wesen und die Eigenart der unternehmerischen Vernunft (und der realen Unternehmens-Welt) zu erinnern und diese gegen falsche Kritik in Schutz zu nehmen. Das ist offenbar in Deutschland bitter notwendig. Denn wir erleben gerade eine schwere Wirtschaftskrise, die sichtlich eine Überlastungskrise der Unternehmen ist. Nach langen Jahren, in denen die Unternehmen sich in ihren öffentlichen Äußerungen sehr zurückgehalten haben, ist seit einiger Zeit eine Änderung zu beobachten. Verschiedenste Unternehmerverbände sehen sich gezwungen, die Bedrohung ihrer Existenzgrundlagen deutlich auszusprechen.
Allerdings spielen Unternehmen als tragende Säule in Deutschland im politischen Diskurs dieses Landes selten eine Rolle. Man liest von „Brutto und Netto“, oder von „Arbeitsplätzen“, als würden Arbeitsplätze und Kaufkraft unmittelbar durch politisches Handeln erzeugt. Es wird auch der Eindruck erweckt, das politische Handeln könne – an den Unternehmen vorbei – Sozialleistungen oder Infrastrukturen einfach durch die Aufnahme von Schulden finanzieren. In Wirklichkeit lassen sie sich nur mittelbar finanzieren – durch das Bestehen einer Unternehmenslandschaft, in der positive Erträge erwirtschaftet werden. Da liegt die wirtschaftliche „Mitte“ dieses Landes.

◊◊◊

Die Volkswagen-AG ist nicht in eine unhaltbare Position geraten, weil sie zu sehr einem unternehmerischen „Egoismus“ gefolgt ist, sondern weil unternehmensfremde Sichtweisen und Ziele dominant geworden sind.

VW – Eine Überdehnungskrise

Wenn man genau hinsieht, was VW in die Krise gestürzt hat und was das Unternehmen weiterhin in einer unhaltbaren Situation hält, dann sind es nicht Fehlentscheidungen, die aus der inneren unternehmerischen Logik erwachsen sind. Die also auf ein „zu viel“ an unternehmerischem Denken zurückzuführen sind. Nein, es sind äußere, unternehmensfremde Sichtweisen und Ziele, die ins Unternehmen eindringen konnten. Der Autobauer wurde dadurch überlastet und in seinem Handeln überdehnt. Das Modewort „Herausforderungen“ spiegelt das wider – und verharmlost es zugleich, denn „Herausforderung“ ist mit der Vorstellung verbunden, dass es um etwas im Prinzip Erfüllbares geht. Es ist dann nur eine subjektive Frage, ob man die Herausforderung „annimmt“ oder nicht. In dem bereits zitierten Interview mit dem VW-Chef Oliver Blume (FAZ, 23.12.2024) wird er gefragt: „Nächstes Jahr drohen in Europa Strafzahlungen, weil die Autobranche strengere CO2-Regeln nicht einhalten kann. Wie teuer wird es für Volkswagen?“ Blume antwortet: „Die Ziele sind tatsächlich extrem anspruchsvoll.“ Das ist genau jene „leichte Sprache“, die den Eindruck erweckt, hier würde ein Anspruch an das Unternehmen gestellt, der zwar groß, aber doch irgendwie erfüllbar sei. In Wirklichkeit werden die Strafzahlungen, wenn sie nicht noch abgeschafft werden, ruinös für große Autounternehmen, die sowieso schon in großen Ertragsschwierigkeiten stecken. Es geht bei VW jetzt nicht um subjektive Bereitschaft und Moral, sondern um die objektiven Bedingungen der Wertschöpfung. Man kann 100mal den Klimawandel beschwören, aber wenn die Maßnahmen, die ihn (angeblich) eines Tages aufhalten sollen, jetzt die Produktivität der Unternehmen zerstören und sie nichts und niemand mehr bezahlen können, wird die „Klimarettung“ zu einer absurden Veranstaltung. Es ist daher ein richtiger Impuls, dass inzwischen eine Mehrheit im Lande die Krise der Wirtschaft mit größerer Sorge betrachtet als die Veränderungen beim Klima.
Man muss also insgesamt die Verschiebungen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten bei VW durch neue Ansprüche, die von außen an das Unternehmen herangetragen und in das Unternehmen hineingetragen wurden, neu betrachten und neu bewerten.

Zwei unhaltbare Positionen der Grundaufstellung von VW

Eine große Verschiebung, die sich jetzt als unhaltbar erweist und ganz wesentlich zur VW-Krise geführt hat, ist eine technologische Verschiebung. Sie erfolgte im Namen der Klimarettung: Die CO2-Emmissionen der Verbrenner-Motoren galten als Verursacher der Klimakrise. Über die Einstufung der CO2-Emissionen und aller ihrer angeblichen Folgen als externe Kosten, die es unbedingt zu internalisieren gelte, sollte eine fundamental andere Technologie, die Elektro-Motoren, als kostengünstiger erscheinen. Gegenüber den gigantischen Kosten der Klimakrise, sollten sich die zusätzlichen Kosten der E-Mobilität ökonomisch rechnen. Die fundamentale technologische Verschiebung sollte als „Gewinn“ verbucht werden können. Doch es ist etwas anderes geschehen. Der Wechsel von der Verbrenner-Technologie zur Elektro-Technologie hat sich in der Fahrzeug-Herstellung und in der Versorgungs-Infrastruktur als so teuer und unsicher erwiesen, dass der Fahrzeug-Absatz zusammengebrochen ist. Der Wechsel, der als Internalisierung externer Kosten begründet wurde (und nach wie vor so begründet wird), hat sich als Schritt ins Leere erwiesen. Als Massenverkehrsmittel für ein breites Publikum hat sich das E-Automobil als untauglich und unerreichbar erwiesen. Eine überzogene Internalisierung externer Kosten ist hier exemplarisch gescheitert: Sie führt hier nicht zu einer Erweiterung einer Volkswirtschaft, sondern zu einer Unerreichbarkeit von Gütern, die bisher erreichbar waren. Sie führt zur Verkleinerung von volkswirtschaftlicher Aktivität. Der Massenmarkt für Automobile schrumpft zu einem Sondermarkt für gehobene Schichten. Die Internalisierung ökologischer Kosten wurde einerseits durch politische Setzungen (zum Beispiel CO2-Preisaufschläge auf die fossilen Kraftstoffe) durchzusetzen versucht. Diese Internalisierung wurde andererseits aber auch von zahlreichen Automobil-Unternehmen als strategisches Ziel beschlossen.
Diese Internalisierung ist jetzt in der Krise, und das Unternehmen VW steht – als Großserienhersteller des Massenverkehrsmittels Automobil – mitten in dieser Krise.
Diese Internalisierung ökologischer Kosten kann man in einer größeren historischen Perspektive betrachten. Sie ist nicht die erste Großkrise durch eine überzogene Internalisierung, mit der sich die Moderne auseinandersetzen musste. Im 19. Jahrhundert war die Moderne mit der „sozialen Frage“ konfrontiert. Sie musste tatsächlich elende Zustände der Industriearbeiterschaft überwinden und diese Internalisierung gelang auch, soweit sie im Rahmen einer wachsenden Produktivität geschah. Das richtige Maß war durchaus nicht konfliktfrei zu finden, sondern war mit erheblich sozialen Auseinandersetzungen verbunden. Aber es musste verhindert werden, dass die soziale Frage sich zu einem grenzenlosen Konflikt steigerte. Diese Radikalisierungsgefahr war im 19. Jahrhundert real: Eine starke Strömung wollte die unternehmerische Vernunft (den Kapitalismus) als „Ursache“ für eine unaufhaltsame Verelendung der Mehrheit der Gesellschaft abschaffen. Aber die Moderne überstand diese Drucksituation. Sie marschierte nicht in eine wirtschaftliche Selbstzerstörung im Namen der „sozialen Kosten“. Jetzt aber sehen sich die Länder, die die Radikalisierung der sozialen Frage vermieden haben und sich über längere Zeit erfolgreich entwickelt haben, mit einer neuen Radikalisierung konfrontiert. Sie erfolgt von der Seite der Umweltbedingungen, im Namen der „ökologischen Frage“. Und wieder geht es darum, die Gefahr einer grenzenlosen Internalisierung – einer Internalisierung um jeden Preis – abzuwenden. Die Internalisierung muss im Rahmen der produktiven Möglichkeiten gehalten werden. Vor allem auch im Rahmen der realen technologischen Möglichkeiten. Und wiederum geht es darum, die Beschwörung terminaler Krisen zurückzuweisen: Diesmal muss die unternehmerische Vernunft gegen die finstere Mär von der Überhitzung des Planeten verteidigt werden.

◊◊◊

Ein anderer Teil der Krise betrifft das Verhältnis zwischen Inlands- und Auslandsstandorten von VW. VW ist traditionell ein Hersteller mit großen Inlandsstandorten, der aber in den vergangenen Jahrzehnten einen erheblichen Anteil der Fertigung und der Zulieferer ins nähere und fernere Ausland verlagert hat. Das ging so weit, dass am Ende der Hauptteil der Überschüsse von VW in China erwirtschaftet wurde. Diese Auslagerung ist Folge des Versuchs, die Aufstellung von VW auf dynamischere Märkte auszurichten. Man versuchte also, die Globalisierung in eine erweiterte Aufstellung des Konzerns „einzubauen“. Diese Internalisierung ging eine Zeit lang gut, aber inzwischen ist diese Ausdehnung des Unternehmens fragwürdig geworden. Es geht dabei nicht nur darum, dass bei der Ausdehnung einzelne Fehler gemacht wurden, sondern darum, dass solche Weltkonzerne des Automobilbaus aus tieferen, guten Gründen überholt sind. Der Umkreis der Weltregionen und Länder, die eigene Großunternehmen der Automobilherstellung aufbauen konnten und die in fast allen Fahrzeugklassen inzwischen konkurrenzfähig sind, ist gewachsen. Der alte Vorsprung, der VW zu einem führenden Weltlieferanten machte, ist dahin, und es kann auch nicht erwartet werden, dass das Unternehmen einen solchen Vorsprung wieder erringen kann. Hier hat ein Umschlagen in der Problemstellung stattgefunden: Nicht ein zu enger Binnenmarkt ist in der Krise und die Globalisierung von Autounternehmen ist der Ausweg. Vielmehr ist jetzt ist dieser Ausweg in der Krise – wegen der Pluralisierung der Unternehmenswelt in der Automobilherstellung.
Diese Ausdehnung des Unternehmens Volkswagen im Namen der „Globalisierung“, die sich nun großenteils als Überdehnung herausstellt, lässt sich – wie der Internalisierung ökologischer Kosten – in einem größeren historischen Zusammenhang verstehen. Es ist hier ein geheimer Glaube am Werk, der im Grunde ein sehr naiver Glaube ist: Man glaubt an ein höheres Gesetz, das zu immer größeren Einheiten von Wirtschaft und Staat führt. Dass alles immer mehr „weltweit“ wird, soll ein Zeichen von „Fortschritt“ und „Gang der Geschichte“ sein. Bei näherem Hinsehen werden als Beleg aber nur die Ströme von Verkehr und Kommunikation angeführt. Das sind raumüberwindende Bewegungen. Es geht um Aktivitäten, Erfahrungen, Berufe in der Zirkulationssphäre. Im Laufe der neuzeitlichen Geschichte gab es in der Tat eine Zeit, in der der Kapitalismus sich vornehmlich in der Zirkulationssphäre bewegte – die Epoche des Handelskapitals und die Eröffnung weltweiter Verkehrswege und Nachrichtensysteme. Aber das Industriezeitalter eröffnete eine ganz anderes, viel weiteres Feld der Moderne: die Produktionssphäre. Hier war die Logik nicht Raumüberwindung, sondern Entdeckung und Nutzung bisher verschlossener Ressourcen – die Länder wurden tiefer durchgearbeitet und die Standorte der Unternehmen beschränkten sich nicht auf wenige Städte oder Rohstoff-Fundorte. Der Kapitalismus entfaltete sich, indem er sich räumlich fixierte und verdichtete – es begann die Ära der Territorialstaaten und der Nationalökonomie. Darin war schon eine Pluralisierung der Staatenwelt und der Unternehmenswelt angelegt, die im 18., 19. und 20. Jahrhundert immer weitere Kreise zog. Gewiss gab es immer auch Vorsprünge und Hegemonien, aber der Haupttrend war ihre Relativierung. Die Globalisierung von VW (und vielen anderen Unternehmen aus klassischen Industrieländern), die auf die Erzielung von Vorsprungs-Erträgen setzte, ist im Grunde eine alte Strategie, die auf die Dauer nicht haltbar sein kann. Diese Unhaltbarkeit ist jetzt akut geworden. Sie ist das zweite fundamentale Problem, das sich mit der VW-Krise stellt und die Grundaufstellung des Unternehmens betrifft.
VW stößt jetzt nicht nur auf neue Konkurrenten, sondern auch auf einen ganzen historischen Trend: Der Pluralisierungs-Trend in der Staatenwelt und Unternehmenswelt erfährt in diesem 21. Jahrhundert einen neuen Schub. Die Eckwerte des Weltmarkts für Automobile werden nicht mehr von den Unternehmen der klassischen Industrienationen gesetzt, sondern immer mehr von neuen Automobilnationen. Diese Nationen, die sich das Recht erkämpft haben, ihren Weg selbst zu bestimmen, müssen ihre Bedingungen und Prioritäten zur Geltung bringen und tun das auch.

◊◊◊

So wird an zwei fundamentalen Positionen – bei der technologischen Aufstellung und bei der Standort-Aufstellung – klar, wie weit sich das Großunternehmen VW auf unsicheres Terrain begeben hat. Und wie es dort nun in einer Entwicklungssackgasse steckt. Wie aber konnte es dazu kommen? Was war das Einfallstor für diese Überdehnung des Unternehmens?

Die täuschende Leichtigkeit der Überdehnung (I):
Eine freundliche Natur und eine luftige Globalität

Die Ausgangslage von VW war eigentlich gut: Das Unternehmen hatte sich in den ersten drei Jahrzehnten der Bundesrepublik einen guten Ruf und große Marktanteile erarbeitet. Solide technische Weiterentwicklungen waren gelungen, und das Hauptgewicht der Fertigung lag in Deutschland. Auch der Zusammenhalt des Unternehmens war gut. Die Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmensführung und Belegschaft funktionierte, weil hier beide Seiten – bei aller Unterschiedlichkeit – starke Bindungen an das Unternehmen hatten, die auf Leistungen und Gegenleistungen beruhten. Wie konnte es zu Verschiebungen kommen, die das Unternehmen auf unsicheres Gelände führten? „Falsche Entscheidungen“ wären eine zu einfache Erklärung. Auch politisch-ideologische Verirrungen können nicht erklären, warum ein solides Großunternehmen den bisherigen Pfad verlässt. Es muss eine Entwertung dieses Pfads stattgefunden haben. Und mit ihm eine Zerstörung der unternehmerischen Vernunft.

◊◊◊

Es muss einerseits einen Großtrend in der Gesellschaft gegeben haben, der die bisherige Grundlage dieser Vernunft entwertet hat. Jede Entwertung setzt andere Sachverhalte und Maßstäbe voraus, die als „größer“ und „besser“ gelten können. Das kann man tatsächlich an den beiden Verschiebungen, die bei VW im Lauf der vergangenen Jahre und Jahrzehnte stattfanden zeigen: Hier ist einerseits eine „Ökologisierung“ der Ökonomie am Werk, die den Eindruck erweckt, einen umfassenderen Maßstab in die Ökonomie einzuführen. Und es ist andererseits eine „Globalisierung“ der Ökonomie am Werk, die auch den Eindruck erweckt, einen umfassenderen Maßstab – den planetaren Maßstab – in die Ökonomie einzuführen. Merkwürdigerweise führen diese Maßstäbe aber nicht zu der Konsequenz, dass nun härter gearbeitet und gewirtschaftet werden muss, sondern dass sich damit das Tor zu einer leichteren Welt öffnet.
Im Fall der Ökologisierung ist ja immer von einer freundlichen, freigiebigen Rousseau-Natur die Rede, die mit ihren Geschenken nur darauf wartet, dass wir endlich „naturnäher“ produzieren. Das Beispiel der Energien, die scheinbar fix und fertig aus Wind und Sonne abgeleitet werden können und die euphemistisch „erneuerbare“ Energie genannt werden, zeigt diese betonte Leichtigkeit sehr deutlich. Es ist eine täuschende Leichtigkeit, denn sie blendet aus, dass solche „erneuerbaren“ Energien vor allem sehr unregelmäßig anfallende, volatile Energien sind, die mal zu wenig und mal zu viel liefern, um ein Stromnetz, dass flächendeckend und kontinuierlich ein hohes Niveau sicherstellen muss, zu speisen.
Im Fall der Globalisierung ist immer von der relativ leichten Tätigkeit des Austauschs und der Kommunikation die Rede (und von der Digitalisierung, die alles mühsame Arbeiten am Gegenstand durch Tastendruck zu erledigen verspricht). Und die auch verspricht, dass man ein Großteil der globalisierten „Neuen Arbeit“ nicht in den Zwängen einer großen Fabrik, eines großen Büros, eines großen Krankenhauses oder einer großen Bildungsstätte verrichten muss, sondern im „Home Office“. Das ist das süße Geheimnis der „größeren Maßstäbe“, die nun in die unternehmerische Vernunft eingeführt werden sollen: Sie sollen angeblich mit einer neuen Leichtigkeit einhergehen. Mit Arbeitszeitverkürzung, abwechslungsreicher Arbeit, höherer Bildung für alle und Sonderurlaub für lebenslanges Lernen.

◊◊◊

Was hier ausgeblendet wird, wird sofort klar, wenn wir uns die klassische Definition von ökonomischem Wert noch einmal vor Augen führen: Es ist die Knappheit von Gütern, die ihnen erst einen Preis verleiht. Und es gibt die Möglichkeit, diese Knappheit unternehmerische Vernunft und die Arbeit einer Belegschaft zu mildern (nicht: abzuschaffen). Das wiederum verleiht dem Tun von Unternehmern und Belegschaften ihren Wert verleiht. Dazu muss sie sich aber auf die Knappheit und Widerständigkeit eines Gegenstandes einlassen – also auf die Realität einer knappen und widrigen Natur.
Wie nett ist das Naturbild, und wie wohlfeil die Pflicht, von der Herbert Grönemeyer uns singt (Herbert Grönemeyer, Stück vom Himmel):
„Die Erde ist unsere Pflicht. Sie ist freundlich, freundlich. Wir eher nicht.“
Diese „freundliche Erde“ ist ein kitschiges Wunschbild ist, das von den Widrigkeiten, Knappheiten, Ungewissheiten der realen Natur nichts wissen will. Doch jetzt, nach einem starken Ausbau der „freundlichen“ erneuerbaren Energien werden die unfreundlichen Realitäten sichtbar – zum Beispiel in den Dunkelflauten, wenn weder der Wind bläst noch die Sonne scheint. Da behält doch das „Gesetz der Knappheit“ Recht, das in jedem guten Volkswirtschafts-Lehrbuch ganz vorne steht. Bei Paul A. Samuelson lesen wir in seiner „Volkswirtschaftslehre Band 1“ (S.35), was ein Ignorieren des Knappheits-Gesetzes bedeuten würde,
„…es gäbe keine wirtschaftlichen Güter, das heißt keine Güter, die relativ knapp sind, und man bräuchte sich kaum mit Fragen der Wirtschaft oder des `Wirtschaftens´ zu beschäftigen.“
Eine „Ökologisierung der Ökonomie“, die auf die Annahme gebaut ist, dass die Natur per se eine gute Natur ist, läuft auf eine Abschaffung jeglicher Ökonomie hinaus. Genauso sieht das Einfallstor aus, durch das die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft in die Wirtschaft eindringt. Ein ähnliches Einfallstor ließe sich bei einer näheren Betrachtung der „Globalisierung der Ökonomie“ zeigen.

Die täuschende Leichtigkeit der Überdehnung (II):
Fortschreitendes „Upgraden“ des Automobil-Angebots

Die Verbindung von ausufernden Maßstäben und einer täuschenden Leichtigkeit spiegelt sich auch in der Entwicklung der Modellpalette von VW wider. Das Automobil wurde immer stärker mit Dingen aufgeladen, die mit der Fahrleistung, mit der Fahrsicherheit, mit der Funktionalität der Ausstattung und der Qualität der Verarbeitung wenig oder gar nichts zu tun hatten. Aber die Fahrzeuge sollten nun „Geschichten erzählen“ und der Selbstdarstellung der Fahrenden dienen – und zugleich das Umweltbewusstsein der Fahrenden bedienen. Dieser Weg führte bis zur „Alternativlosigkeit“ des E-Automobils mit immer mehr Automatisierungs- und Unterhaltungsfunktionen. Aber diese Entwicklung setzte schon vorher ein, mit dem ständigen „Upgrading“ der Modelle. Ein Golf am Ende der 1980er Jahre wies schon große Unterschiede zu dem Golf auf, der 1974 zum ersten Mal auf den Markt kam. Er war auch erheblich teurer. Er wurde immer mehr zu einem gehobenen Mittelklasse-Wagen, während der Golf vorher noch eher der Klasse des VW „Käfer“ zuzurechnen war. Er war damals, wie der vor ihm der Käfer, noch das Auto des Facharbeiters.

◊◊◊

So lassen sich vielleicht vier Phasen der Fahrzeug-Entwicklung bei VW unterscheiden:
1.) Die Dominanz des „Käfers“ und der Etablierung des „Golf“, der einen bedeutenden technologischen Fortschritt darstellte, aber noch auf einem Niveau angesiedelt war, das den Präferenzen und dem Geldbeutel qualifizierter Arbeiter entsprach (bis Ende der 1980er Jahre).
2.) Das „Upgrading“ der verschiedenen Fahrzeuge der VW-Flotte beginnt. Die Antriebe sind noch Verbrennermotoren, aber die Fahrzeuge werden größer, aufwendiger und werden mehr auf „Stil“ getrimmt. Zugleich ist es eine Phase verstärkter Ausgliederung von Produktions- und Zuliefer-Standorten (bis Ende der 2000er Jahre).
3.) In der dritten Phase wird China zum zweiten Standbein des Gesamtunternehmens. Und der strategische Umstieg auf das Elektro-Auto wird beschlossen und schrittweise umgesetzt. Damit ist eine Kosten- und Preissteigerung für die gesamte Fahrzeug-Flotte verbunden, die sich in der ersten Upgrading-Phase schon ankündigte. Der Golf erscheint nun definitiv ein Fahrzeug für den gehobenen Mittelstand. Diese Phase könnte man bis in die jüngere Vergangenheit ansetzen.
4.) Nun aber hat eine vierte Phase begonnen: Sie ist gekennzeichnet von einem Markteinbruch bei den E-Automobilen und einem Markteinbruch im China-Geschäft. Aber die Einsicht, dass hier wirklich eine Phase am Ende ist, und eine Klarheit über die dann tragfähige Neuaufstellung ist noch nicht da. VW ist gegenwärtig an einem toten Punkt angekommen.


Es ist wichtig festzuhalten, dass der Weg in die jetzige Krise nicht in der ersten Phase begann, sondern erst in der zweiten Phase. In der dritten Phase wurde der Trend zum „Upgrading“ mit dem einseitigen Umstieg auf die E-Automobile dann wirklich exklusiv. In dieser Entwicklung ist auch ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel enthalten. Es herrscht nicht mehr die Sachlogik der automobilen Leistung, die der Orientierung des Facharbeiters entspricht, sondern die Distinktions-Logik des sozialen Aufstiegs und des „feineren Geschmacks“, der sich von der Massenware der „gewöhnlichen Leute“ abzuheben versucht.

◊◊◊

Um das zu verdeutlichen, kann ein Blick in ein kleines Buch, das im Jahr 2000 publiziert wurde und einen beträchtlichen Erfolg hatte, hilfreich sein. Der Autor ist Florian Illies, und der Titel lautete: „Generation Golf“. Der Titel ist vielversprechend. Wird mit dem VW Golf nicht eine Errungenschaft aus der Ära zelebriert, als Deutschland noch ein vorbildliches Industrieland war? Doch Illies (Jahrgang 1971) hat eine merkwürdige Sicht auf den Golf, der da zum Symbol einer ganzen Generation erklärt wird. Er schreibt (Seite 54):
„Als der Golf 1974 erstmals vom Band lief, sollte er vor allem an die Erfolge des Käfers anknüpfen. Die Philosophie klang recht lapidar: Motor vorn, Klappe hinten, dazwischen fünf Sitzplätze. Das erste Modell hatte 50 PS und fuhr 140 Stundenkilometer Spitze. Zwei Jahre später gab es den Golf dann auch als GTI…Erst drei Jahre später wurde das erste Golfmodell zum Kultauto: und zwar in Form des Cabrios, das ab 1979 produziert wurde und offenbar, von einigen roten und weißen Ausrutschern abgesehen, ausschließlich in den Farben Dunkelblau und Schwarz. Der dunkelblaue Golf als Cabrio ist das Gründungsautomobil der Generation Golf.“
Diese Darstellung passt nicht recht zu den Tatsachen. Denn der Golf, der 1974 auf den Markt kam (Florian Illies war damals drei Jahre alt) war keineswegs ein „lapidarer“ Nachfolger des VW „Käfers“. Um ihn nach diesem großen Erfolgsmodell auf den Markt zu bringen, und das mit sehr großen technischen Änderungen, bedurfte einigen Mutes (und mehrere zu kurz geratener, erfolgloser Anläufe). Der „Motor vorne“ war mit einem Antrieb vorne und einem stark verbesserten Fahrverhalten verbunden. Dazu kamen eine verbesserte Sitzposition und verbesserte Sitze. Der Motor war wassergekühlt, seine Leistung ließ sich steigern und wurde bald gesteigert. Schon kurz nach dem 50 PS-Modell brachte VW den „Golf S“ mit 70 PS und 170 km/h Spitze heraus, der wirklich eine ganz neue Agilität auf die Straße brachte. Der Autor dieser Zeilen kann das beurteilen: Ich habe 1979 ein Golf S als Jahreswagen von einem VW-Werkangehörigen gekauft, und war wirklich begeistert, ohne dass ich den Wagen als „Kultauto“ empfand. Es genügte einfach der Vergleich mit den Leistungen meiner vorherigen Fahrzeuge – einem Fiat 600, einem Renault R 4 und einem VW Käfer. Hingegen ist der Golf, den Florian Illies zum Inbegriff einer ganzen Generation stilisiert, ein Golf Cabrio von 1990. Das mag ein Auto für starke Auftritte gewesen sein, aber unter dem Gesichtspunkt der Fahrzeug-Leistung war er eigentlich nichts Neues gegenüber den Golfs der ersten Generation. Das Golf-Cabrio gehörte schon in die Phase des „Upgrading“. Nebenbei bemerkt hatte das Cabrio des alten VW-Käfers eine sehr viel passendere sportliche Eleganz als das Golf-Cabrio, das eher wie ein Kasten daherkam.
Die Lektüre von Illies Buch „Generation Golf“ ist insofern interessant, als hier ein Wechsel des Bewertungsmaßstabs ins Spiel kommt, der der Konzeption und Konstruktion von Automobilen nicht unbedingt guttut. Das Auto wird hier zu einem Zeichen, zu einer Sprache. Wir sollen das Auto nicht fahren und ihm in seiner Materialität als Fahrzeug etwas abgewinnen, sondern wir sollen mit seinem Gebrauch eine Geschichte von uns selbst erzählen, von unserer Generation. Es ist interessant, woher Illies diese Sichtweise entlehnt. Auf S.56 ist von einer Werbeagentur die Rede, die den Begriff „Generation Golf“ offenbar erfunden hat:
„Das als erste erkannt zu haben, ist der große Verdienst der Düsselsdorfer Werbeagentur DDB, die Mitte der neunziger Jahre ihre Werbekampagne folgendermaßen auf den Punkt brachte: Der Grundgedanke war, die Verwenderschaft des Golf alsGeneration Golf´ zu codieren´.“
Aus heutiger Sicht mutet diese Hochstilisierung eines VW-Fahrzeugs merkwürdig schief und aus der Zeit gefallen an. Die Suche nach einem „Kultauto“ erscheint uns in einer Zeit, in der das Auto als Massenverkehrsmittel unbrauchbar und unerschwinglich zu werden droht, als blinde Eitelkeit. Ein großer Autobauer wie VW müsste vom Teufel geritten sein, wenn es das Schicksal des Unternehmens solchen „Codierern“ überlässt. Es geht jetzt um eine Rückkehr zum harten Kern des Autofahrens.

Die täuschende Leichtigkeit der Überdehnung (III):
Statt Sozialpartnerschaft eine allwissende „neue Mitte“

Ende Dezember 2024 gab es in der „Süddeutsche Zeitung“ und im „Spiegel“ im Zusammenhang mit dem VW-Kürzungsprogramm Meldungen, dass auch das Management des Unternehmens dazu beitragen soll. Dort konnte man lesen, dass die im Mai ausgezahlten Boni so stark sinken sollten, „dass das Jahreseinkommen von rund 4000 Managern 2025 und 2026 um zehn Prozent sinke“. Das erstaunliche an diesem Satz sind eigentlich nicht die Kürzungen, sondern die Zahl „4000 Manager“. Wie kommt es zu dieser gewaltigen Zahl? Was zählt da alles zum Management der Volkswagen-AG? Offenbar handelt es sich um eine eigene Schicht, die nicht zum engeren Führungskreis zählt, weil ja nicht wirklich mit 4000 Managern der Kurs von VW bestimmt werden kann. Aber die 4000 zählen auch nicht zur Belegschaft, denn sie stehen ja in einem gesonderten, gehobenen Vertragsverhältnis.
In diesem Zusammenhang wird eine Bemerkung bedeutsam, die eine Teilnehmerin auf einer Warnstreik-Kundgebung im Dezember am VW-Standort Emden vor laufender Fernsehkamera machte. Die Kollegin wies darauf hin, dass VW noch vor zwei, drei Jahren zahlreiche Neueinstellungen für die Umstellung auf die E-Mobilität vorgenommen habe. Da würde man gerne Näheres erfahren. Für welche Aufgaben geschahen die Einstellungen? Hat das eventuell auch etwas mit den sogenannten ESG-Kriterien zu tun, die nach einer EU-Verordnung große und mittlere Unternehmen erfüllen müssen? „ESG“ bedeutet „Ecological“, „Social“ und „Governance“. Es also um „höhere“ Ziele, die zusätzlich zu den herkömmlichen Unternehmenszielen erfüllt sein müssen. Darunter fällt zum Beispiel das (soziale) „Diversity Management“ oder eine detaillierte Dokumentation über die verwendeten Rohstoffe und Vorprodukte, und deren ökologische und sozialen Herstellungsbedingungen. Da wäre es natürlich wichtig zu wissen, was für Tätigkeiten da entstehen, woher sich das Personal rekrutiert und welche Bildungsgänge (höhere Bildungsgänge?) absolviert wurden. Offenbar ist da bei VW (und überhaupt in Industrieunternehmen) in den letzten Jahren ein ganz neues „gehobenes“ Milieu entstanden, das mit der Fertigung der Fahrzeuge wenig zu tun hat. Die Frage ist: Fühlt sich dies Milieu mit der klassischen VW-Belegschaft noch verbunden? Und wie loyal ist es gegenüber dem Unternehmen VW?

◊◊◊

An diesem Punkt ist eventuell ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der schon vor einiger Zeit erschienen ist (am 23.8.2019) hilfreich. Er berichtet davon, dass in der Führung und Zielfindung von namhaften Unternehmen größere Umwälzungen stattfinden. „Vor dem G-7-Treffen versprechen große Unternehmen mehr soziales und ökologisches Engagement“, heißt es da. Und es wird der Vorstandsvorsitzende des Lebensmittelkonzerns Danone mit den Worten zitiert: „Wir müssen die die Führungskräfte von morgen anziehen. Das ist schwieriger als früher.“ Immer häufiger würden Mitarbeiter, Kunden und Investoren von den Unternehmen ein soziales oder ökologisches Engagement erwarten, heißt es in dem Artikel. Natürlich sind es nicht „die Mitarbeiter“, „die Kunden“ und „die Investoren“, sondern es geht um „Führungskräfte von morgen“, die sich nicht aus dem Unternehmen heranbilden lassen, sondern die von außen, aus der gehobenen Mittelschicht der Gesamtgesellschaft in die Unternehmen Eingang finden. Aus Anlass des damaligen G-7-Gipfels in Biarritz setzte der französische Präsident Macron „Konzernchefs, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisation“ zusammen in Szene. Der FAZ-Artikel berichtet von einer Koalition von 34 internationalen Unternehmen von Danone über BASF bis zu Goldmann Sachs, die sich den Titel „Business for Inclusive Growth“ nennt.
Es liegt nahe, hier einen Zusammenhang mit dem Gebot der „Internalisierung externer Kosten“ zu sehen. Hier scheint sich eine ganz neue Schicht in den Unternehmen anzusammeln zu haben, für die die unternehmerische Vernunft „zu eng“ ist, und die sich nicht so sehr für die Erträge des Unternehmens interessieren, sondern vielmehr ganz bestimmte ökologisch oder soziale Ziele verwirklicht sehen wollen. Das Unternehmen wird von ihnen in den Dienst solcher „konkreten“ Ziele gestellt. Dazu wird gerne der Begriff „purpose driven“ verwendet, der etwas besonders Gutes und Smartes ausdrücken soll. Aber dies auf einzelne besondere Zwecke gerichtete Denken und Handeln ist – verglichen mit der unternehmerischen Vernunft – im Grunde eine Verengung und Vereinseitigung. Denn die „Abstraktheit“ der unternehmerischen Vernunft, die zunächst einmal darauf abzielt, überhaupt Überschüsse zu erwirtschaften, um sie dann auszuschütten und es den Empfängern zu überlassen, für welche Zwecke sie sie einsetzen, ist offener und flexibler. Der Versuch, ein Unternehmen gleich für einen bestimmten Zweck in Dienst zu stellen, glaubt zu sehr an die Güte der eigenen Zwecke, und will sie nicht einer offenen Wahl zwischen Alternativen überlassen.

◊◊◊

Offenbar gibt es inzwischen einen ganzen „Purpose Drive Sektor“, der seiner guten Zwecke gewiss ist. Und der nur dann bereit ist, in Unternehmen Verantwortung zu unternehmen, wenn das Unternehmen seinem guten Zweck zu Diensten ist. Und der Hinweis auf die „Nachwuchssorgen“ der Unternehmen kann als Indiz gewertet werden, dass es offenbar schwierig ist, aus dem gewaltig angewachsenen akademischen Nachwuchs Menschen für normale Unternehmensziele zu gewinnen. So kann es dazu kommen, dass sich Unternehmen dazu genötigt sehen, in ihren Betrieben ein Milieu zuzulassen, das eigentlich ein Fremdkörper im Betrieb ist. Auf diesem Weg finden die Externalitäten auch personell Eingang in die Unternehmen. So erklären sich manche erstaunlichen Zahlen, und man kann sich vorstellen, wie es bei VW zu der Zahl von „4000 Managern“ gekommen ist.
Hier hat offenbar eine gewichtige strukturelle Veränderung stattgefunden. Eine „neue Mitte“ hat sich gebildet, die sich deutlich von den beiden Lagern unterscheidet, die wir aus der Geschichte von Industrieunternehmen als „Sozialpartner“ kennen. Diese Partnerschaft konnte sich zusammenfinden, weil beide Seiten – trotz aller Unterschiede – ein vitales Interesse am Gedeihen des Unternehmens hatten. Die „neue Mitte“ ist anders: Sie braucht keine Partnerschaft. Sie beansprucht für sich allein das Wissen und die Macht, um die „einzig richtigen“ und „einzig guten“ Ziele des Unternehmens zu bestimmen. Diese „neue Mitte“ gelangt auf dem Ticket der „Offenheit“ ins Unternehmen, um dann sogleich die Unternehmensgrenzen zu „erweitern“. Und diese Dehnung des Unternehmens geschieht ohne Rücksicht auf die Stetigkeit wirtschaftlicher Erträge und positiver Bilanzen. Die Dehnung wird ja von Leuten getragen, die sich nicht im Unternehmen hocharbeiten mussten, sondern unternehmensfern zwischen Studien und Aktivismus – selbstverständlich global – unterwegs waren. So ist das Unternehmen für sie eigentlich gar kein fester Rahmen, gar kein „Haus“, dem sie sich zugehörig fühlen. Oder, um es einmal ganz einfach zu sagen: Sie lieben VW nicht.
Doch jetzt ist bei VW und vielen anderen Unternehmen in den verschiedensten Branchen eine Krise ausgebrochen. Nein, es ist keine Krise der unternehmerischen Vernunft, ganz im Gegenteil. Es ist eine Krise der Erweiterungen und Zusatzbelastungen, die auf Kosten und zu Lasten dieser Vernunft geschehen sind. Die ihre Grenzen eingerissen haben. Jetzt haben sich die Ausdehnungen als Überdehnungen erwiesen. In dieser Richtung kann es nicht weitergehen.

Die VW-Krise ist eine Überdehnungskrise

Aus den hier skizzierten Verschiebungen in der Grundaufstellung von VW ergibt sich ein dramatisches Gesamtbild. Die Verschiebungen waren Überdehnungen. Sie haben das Unternehmen jetzt an einen Abgrund geführt. Es steckt in einer historischen Sackgasse, in der es nicht einfach Abwarten kann, und erst recht keine Flucht nach vorn nach dem Motto „Jetzt erst recht“ versuchen kann. Es muss sich – je eher, desto besser – aus diesen zu weit vorgeschobenen Positionen zurückziehen, um wieder sicheren Boden unter die Füße zu bekommen und auch seinen inneren Zusammenhalt wiederzufinden.
Das Einfallstor war der Versuch, externe Kosten ohne Rücksicht auf die Unternehmens-Produktivität zu internalisieren. Zu diesem Versuch kam es, weil das Unternehmen von der scheinbaren Größe der externen Aufgaben verführen ließ. Und weil sich das Unternehmen auch von einer täuschenden Leichtigkeit dieser Aufgaben verführen ließ. Die technischen und geoökonomischen Probleme wurden kleingeredet und beschönigt. Diese Maßlosigkeit und Realitätsferne hatte sich über einen längeren Zeitraum im Unternehmen eingenistet. Aber sie ist keine Erfindung von VW, sondern eine allgemeine Erscheinung der sogenannten „postindustriellen“ Gesellschaft. Sie hat sich in Deutschland und anderen klassischen Industrieländern entwickelt. Nun aber sind es die Unternehmen, die die Folgen dieses Trends existenziell zu spüren bekommen. Es stellt sich heraus, dass die Ausdehnungen tatsächlich Überdehnungen waren. Die Externalitäten zeigen zunehmend ihre Sperrigkeit, Widrigkeit, Knappheit. Als Kräfte, die von außen kommen, zerren sie am Unternehmen und reißen es gewissermaßen auseinander. Sie lösen den technischen, wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Zusammenhang vieler Unternehmen – großer, mittlerer und kleiner Unternehmen – auf. Der Fall des großen und erfolgreichen deutschen Unternehmens Volkswagen ist hier exemplarisch.

◊◊◊

Die Versuche, externe Kosten zu internalisieren, haben das Unternehmen zu Vorleistungen gezwungen, von denen gar nicht sicher war und weiterhin ist, ob sie eines Tages so hohe Erträge erbringen, dass die Vorleistungen sich wirklich rechnen. Sie können eigentlich nicht als Investitionen verbucht werden. Aber die Sprache ist an diesem Punkt unscharf. Es ist vom „Potentialwachstum“ die Rede, aber da Technologien und Standorte verbucht, deren wertschöpfender Charakter gar nicht nachweisbar und bilanzfähig ist. Im Teil I dieser Textreihe wurde schon gezeigt, dass die Externalitäten eine im Prinzip unendliche Größe sind, und dass es eine Grundvoraussetzung für die unternehmerische Vernunft ist, eine Grenze zwischen „unternehmens-intern“ und „unternehmens-extern“ zu ziehen. Wenn den Unternehmen dieses Landes auferlegt würde, alle möglichen Kosten präventiv auf sich zu nehmen und dann den Käufern ihrer Produkte in Rechnung zu stellen, gäbe es keine Unternehmen mehr. Es würde eine baldige Zahlungsunfähigkeit der Unternehmen eintreten, und – in der Folge – auch eine Zahlungsunfähigkeit des Staates.
Es wurde im Teil I auch eine besondere Tücke dargestellt, die im Sammelbegriff „Externalitäten“ verborgen ist. Bei den Externalitäten gibt es eine Gegenläufigkeit von sozial-humanen Anforderungen und ökologischen Anforderungen. Steigert man die sozial-humanen Anforderungen, geht das zu Lasten der ökologischen Anforderungen. Heute ist dieser Zwiespalt unübersehbar geworden, denn es gibt eine Steigerung der Anforderungen auf beiden Seiten und ein ständiges Hin und Her zwischen der Betonung der einen Externalität und der Betonung der anderen Externalität. Dies Hin und Her reißt die Unternehmen hin und her. Und es zerreißt sie über kurz oder lang.
Es ist in unserer Gegenwart, insbesondere in den klassischen Industrieländern, eine fundamentale Unredlichkeit am Werk – wie sie in der Geschichte beispiellos ist. Man steigert die ökologische Betroffenheit in extremste Größenordnungen (die tägliche Beschwörung einer terminalen, planetarischen Klimakatastrophe) und treibt man die sozial-humanen Ansprüche auf extremste Höhen: Sozialer Aufstieg für alle, Ausgleich aller Handikaps, Privilegien für immer neue Sondergruppen, endlose Selbstfindung statt Berufsausbildung, Zurückdrängung der Berufstätigkeit zu Gunsten aller möglichen Auszeiten zur „Work-Life-Balance“. Die Geschichte der Menschheit hat gewiss monströse Totalitarismen gesehen, mit beispiellosen Massenvernichtungen. Aber was heute an Weltuntergangs-Beschwörung bei gleichzeitiger eitelster Selbstverwirklichung veranstaltet wird, ist – auf eine andere Weise – auch monströs.

◊◊◊

So steht VW vor einer sehr grundlegenden Aufgabe. Das Unternehmen Man muss aus der Überdehnungskrise herausfinden, und das geht nur durch eine Rehabilitierung der unternehmerischen Vernunft. Die Unternehmen müssen in ihrer Eigenart und ihrer spezifischen Leistung verstanden und geschützt werden. Sie brauchen keine „Förderung“ von außen, sondern einen defensiven Schutz vor Überlastungen. Das aber bedeutet heute: einen massiven Rückbau von bereits eingeführten Zusatzaufgaben, Normenverschärfungen, Kontroll- und Berichtspflichten, Rechtsunsicherheiten… Die Unternehmen haben aber auch eine große interne Aufgabe. Sie müssen ihre Unternehmen von den externen Lasten und Aufgaben befreien, die sich in ihnen schon festgesetzt haben und in das Unternehmen integriert wurden, obwohl es sich im Grund um Fremdkörper handelt.
Die Grundrichtung, um aus der Überdehnungskrise bei VW herauszufinden, muss also defensiv sein. Sie muss auf den Punkt zurückkommen, wo das Unternehmen die Gebote der unternehmerischen Vernunft verlassen hat und gewissermaßen „falsch abgebogen“ ist. Es geht um einen Rückgriff. Aber auch um ein tieferes, besser fundiertes Verständnis der unternehmerischen Vernunft – damit ihre Verteidigung in Zukunft besser gelingt. Es geht also um eine Rekonstruktionsaufgabe. Dazu mehr im dritten und letzten Teil dieser Text-Serie.

◊◊◊

Die Überdehnungskrise des größten deutschen Autobauers kann nur mit einer eindeutig defensiveren Grundaufstellung überwunden werden.

VW – Die Rekonstruktionsaufgabe

Die Aufgabe, vor der das Unternehmen Volkswagen steht – und vor der im Grund auch die deutsche Wirtschaft steht – ist anders und schwieriger als die Aufgabe, die sich in einer Strukturwandels-Krise stellt. Bei so einer Krise weiß man, dass nach schmerzhaften Eingriffen ein sicheres neues Ufer schon da ist. Doch im Fall der Autoindustrie gibt es kein sicheres Ufer namens „Elektro-Automobilität“. Und auch das Ufer „Globalisierung“ bietet heute nicht mehr einen konkurrenzlosen Vorsprung und hohe Erträge für die etablierten Automobilhersteller. Die Grundaufstellung, die bisher diese beiden Positionen setzte, erweist sich nun als nicht mehr haltbar. So steht eine schwierige Entscheidung an: Es muss ein strategischer Rückzug angetreten werden.
Allzu sorglose Grundentscheidungen müssen ausdrücklich als Fehlentscheidungen revidiert werden. Ein Teil der Investitionen – in Technologien und in Auslandsstandorte – muss abgeschrieben werden. Das ist auch moralisch schwierig, da der bisherige Kurs ja als kühne Vorwärtsbewegung verstanden und legitimiert wurde. Da erscheint ein Rückzug erstmal als Niederlage und schmähliche Schwäche. Deshalb ist die Neigung groß, einen solchen Rückzug weit von sich zu weisen. Oder ihn immer wieder hinauszuzögern. Und doch gibt es auch die Erfahrung, dass die Unfähigkeit zu einem rechtzeitigen Rückzug zu unvergleichlich größeren Opfern führt. Zu größeren materiellen Opfern und zu größeren moralischen Opfern wegen der Entscheidungsschwäche. So ist es oft doch von Vorteil, wenn man rechtzeitig eine defensivere Aufstellung gewählt hat. um wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.

Der Mut zum Rückzug

Wenn eine Überdehnungskrise vorliegt, ist der Vorwurf an die Führung eines Unternehmens, sie habe „den Wandel verschlafen“, fehl am Platze. Er übt Druck in die falsche Richtung aus. Er treibt die Dinge nur weiter in die falsche Richtung und führt dazu, dass weitere Anstrengungen und Investitionen auf einem Kurs versenkt werden, der zu keinem tragfähigen Neuland führt. Man zeichnet das falsche Bild einer Automobilindustrie, die sich in einer „Übergangsituation“ befinde, die es nur zu „überbrücken“ gelte, damit dann wieder goldene Zeiten anbrechen. Aber die „Brücke“, für die jetzt eine letzte siegbringende „Anstrengung“ gefordert wird, führt ins Leere. Und irgendwann werden diejenigen, die jetzt gegen die „Schwarzmalerei“ zu Felde ziehen, dem Publikum verkünden müssen, dass der große Transformations-Feldzug doch verloren ist. Ja, manches in Deutschland erinnert, wie der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe richtig schreibt, an die letzten Jahre der DDR. Und manches sollte vielleicht sogar an das jähe Ende von 1918 erinnern, dem bekanntlich auch eine große, angeblich „siegbringende“ Offensive vorausging. Die deutsche Geschichte bietet gute Gründe, frühzeitiger als in der Vergangenheit auf Krisenzeichen zu reagieren, die einen eingeschlagenen Kurs fragwürdig machen.
Aber es geht natürlich nicht um einen absoluten „totalen“ Rückzug – etwa in dem Sinn, sich von positiven Erträgen und großer Industrie zu verabschieden, wie es jetzt die Vertreter eines „negativen Wachstums“ predigen. Es geht darum, das richtige Maß des Rückzugs zu finden. Wenn man aus einer Sackgasse herauskommen will, muss man zurückfahren. Und man muss den Punkt finden, wo man gewissermaßen falsch abgebogen ist. Mit Mut allein ist es nicht getan, sondern es ist auch die unternehmerische Vernunft gefragt. Eine defensivere, konservativere Aufstellung findet man nicht, wenn man hinter die industrielle Moderne zurückfährt. Auch nicht, wenn man sich „Industrie“ mit den Bildern des 19. Jahrhunderts vorstellt. Die Automobilindustrie kann anknüpfen an die unternehmerische Vernunft, wie sie in den ersten 30 Jahren der Bundesrepublik erfolgreich war. Und wie sie ihre Erfolge auf vielen Gebieten noch bis in die 2000er Jahre verlängert hat.
Allerdings gab es damals auch schon Tendenzen, in denen sich die heutige Misere andeutete und die als Vorgeschichte der Überdehnung angesehen werden können. Man denke an das „Upgrading“ der Modelle. Der „Golf“ wurde schon zu Verbrenner-Zeiten immer aufwendiger konzipiert und ausgestattet. Er wurde auch immer teurer. Schon in den 90er Jahren wurde er mehr und mehr Fahrzeug der gehobenen Mittelklasse. Jener Klasse, die in dieser Zeit als „Neue Mitte“ durch Politik und Medien geisterte. Es ging um die Bildungsaufsteiger, mit Abitur und Hochschulabschlüssen. Die Facharbeiter als „Ecklohngruppen“ in der Industrie waren damit nicht gemeint.
Eine andere Aufstellung müsste die Verteidigung des Massenverkehrsmittels „Automobil“ zu ihrem strategischen Hauptziel machen. Die Herstellung dieses Massenverkehrsmittels hat VW groß gemacht. Solange dies Ziel galt, war VW in der Lage, seine Investitionen aus eigenen Mitteln zu investieren, wie der Vorstandvorsitzende Blume richtigerweise als unternehmerischen Grundsatz festhält. Wenn man Fahrzeuge bauen will, die für eine breite Mehrheit erschwinglich sind, muss man also wieder zurückkehren zur erprobten, hochentwickelten und massentauglichen Technologie der Verbrenner-Antriebe. Das müsste eindeutig als das Standbein festgelegt sein, was andere Antriebe und Fahrzeugtypen – als Spielbein – nicht ausschließt.
Und auch die „Chinastrategie“, die davon ausging, dass VW durch die globale Verlagerung von Produktions-Standorten in starke Wachstums-Länder eine neue Existenz als Weltkonzern aufbauen kann, war bei Eintritt in die 2000er Jahre schon in Ansätzen da. Die neueren Verschiebungen auf dem Weltmarkt zeigen nun, dass für einen so großen Außenbeitrag zum Unternehmensertrag die Zeiten vorbei sind. VW hat in starken Wachstumsländern wie China keinen großen Vorsprung mehr. Das muss dazu führen, das Verhältnis von Binnenmarkt und Weltmarkt defensiver zu bestimmen: Die Binnenstandorte in Deutschland und Europa müssen das Standbein sein.

Die Rekonstruktionsaufgabe

Das bedeutet, dass man sich eine Wende der Lage nicht einfach als großen „Ruck“ vorstellen sollte, sondern als einen längeren Prozess der Rückverschiebung. Es geht um die Rehabilitierung einfacherer, erschwinglicherer Fahrzeuge. Und um die Rehabilitierung der Fertigung in Deutschland. Notwendig ist dabei nicht ein vollständiger Abschied von E-Mobilität und Auslandsfertigung, sondern ein Wechsel zwischen Standbein und Spielbein. Es geht also um eine Rückverschiebung des Unternehmens zu den Standbeinen, die über viele Jahrzehnte immer wieder fähig waren, sich an Veränderungen maßvoll anzupassen. Nur durch eine Rückverschiebung auf das Standbein des herkömmlichen Fahrzeugbaus mit Verbrennungsmotor und auf das Standbein der Inlands-Fertigung kann man das Maß der Änderungen finden, die für eine „Bodenbildung“ in der aktuellen VW-Krise notwendig sind.
Und es geht noch um eine dritte Rückverschiebung: Die Überdehnung von VW war mit einer Verschiebung der sozialen Verhältnisse und Beziehungen im Unternehmen verbunden: eine neue „gehobene Mitte“, die weder den Unternehmerstandpunkt, noch den Belegschaftsstandpunkt einnahm, wuchs überproportional und schob sich in eine Schlüsselposition. Hingegen wurde der Aufstieg von VW und etliche Jahrzehnte mit hohem Leistungsstandard und gelungener Weiterentwicklung des Fahrzeug-Angebots in der Dualität von Unternehmer-Seite und Belegschafts-Seite vollbracht. Die Grundlage für diese Erfolgsgeschichte war die Tatsache, dass beide Seiten – trotz ihrer Gegensätzlichkeit – eine starke Bindung zum Unternehmen hatten. Das Milieu der „neuen Mitte“ hat diese Bindung nicht, und ist so eine ständige Quelle von Überdehnungen der Unternehmensaufstellung. Hier muss eine Rückverschiebung auf den Dualismus zwischen Unternehmerseite und Belegschaftsseite stattfinden.

◊◊◊

Diese drei Rückverschiebungen sind die Grundlage für die Lösung der Rekonstruktionsaufgabe, die sich angesichts Misere der deutschen Wirtschaft stellt. „Rekonstruktion“ ist ein Aufbau, der an älteren Entwicklungswegen und Errungenschaften anknüpft, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte abgebrochen wurden. Dabei geht es wohl um eine moderne Dynamik, aber um eine kontinuierliche Dynamik. „Rekonstruktion“ ist keine Nostalgie für mythische „alten Zustände“. Aber sie wendet sich auch gegen einen anderen Mythos: den Mythos, wir wären in ein ganz neues Zeitalter eingetreten. Der Mythos, dass wir alle Brücken hinter uns verbrennen könnten. Das ist die Vorstellung, die mit dem Wortvorsatz „post“ („nach“) transportiert wird: „postindustriell“, „postkolonial“. „postmodern“… Es ist viel zutreffender, wenn wir die Vorstellung einer großen, vor einigen Jahrhunderten gerade erst angebrochenen „Neuzeit“ oder „Moderne“ beibehalten. Die Misere unserer Gegenwart könnte und sollte dann als eine vorübergehende Verirrung in einigen Ländern und Weltregionen verstanden werden. Es ist dann auch keine Verirrung auf Grund irgendeiner „Rückständigkeit“, sondern eine Verirrung, die in fortgeschrittenen Ländern stattfindet, die sich aufgrund ihrer Erfolge in einer täuschenden Machbarkeit der Welt und Leichtigkeit des Daseins besteht. Eine Machbarkeit und Leichtigkeit, die weder der Industrie noch der Moderne insgesamt zu eigen ist. Die Krise ist keine Krise der Moderne, sondern eine Krise des Versuchs, die Moderne durch eine „große Transformation“ zu überwinden und einfach mal eben eine ganze neue Ära aus der Taufe zu heben. Welch naiver Glaube hier am Werk ist, zeigt sich darin, dass nun schon nach relativ kurzer Zeit die Rechnungen der „ganz neuen Ära“ nicht aufgehen.

◊◊◊

Die Rekonstruktionsaufgabe können wir nur verstehen, wenn wir uns im Denken und Handeln von der Vorstellung immer neuer „Zeitenwenden“ verabschieden. Und
wenn wir stattdessen die Stetigkeit des (komplexeren und langsameren) Fortschreitens der klassischen Moderne wieder aufnehmen und weiterführen. In diesem Sinn geht es um eine Rehabilitierung der unternehmerischen Vernunft.
Das Bild, das den Unternehmer als eine moderne Heldenfigur zeichnet, führt leicht in die Irre. Seine Bewährung besteht nicht nur in besonders kühnen Projekten und bahnbrechenden Erfindungen. Es gibt auch kein höheres Gesetz, das jedes Unternehmen zur Orientierung auf „Hightech“ zwingt. Ebenso wenig bestehen die „modernen Zeiten“ in einem monotonen „Vorwärts, Vorwärts!“. Eher geht es um Tempowechsel. Längere Perioden des langsamen Fortschreitens in kleinen Schritten gehören auch dazu, sogar Perioden der Stagnation. Technologische Sprünge, die ganze neue Basis-Technologien hervorbringen, sind eher die Ausnahme als die Regel. Solche Sprünge können auch nicht durch „Forschungspolitik“ künstlich erzeugt werden. Die gegenständliche Welt gibt Entdeckungen und Entwicklungen nicht dann frei, wenn die Menschen es wollen. Deshalb besteht die unternehmerische Vernunft darin, dass sie diese objektive Sperrigkeit der Welt akzeptiert. Daraus folgt die Aufgabe, den Stand der technischen Entwicklung ständig sorgfältig und ergebnisoffen zu prüfen.
In dieser Hinsicht ist die Diagnose, die der österreichische Ökonom Joseph A. Schumpeter zur Krise von 1929 gestellt hat, interessant. Schumpeter, dessen Beitrag eigentlich vor allem mit der „produktiven Zerstörung“ in Verbindung gebracht wird, sah die Krise von 1929 als Resultat einer „Überschätzung“: Es sprach von „übertriebenen Gewinnerwartungen“ während der zweiten industriellen Revolution in den 1920er Jahren. Diese Gewinnerwartungen hätten die allgemeine Risikobereitschaft so gesteigert, dass viele Investments auf großen Schulden basierten. Schumpeter weist also auf die Bedeutung einer realistischen Einschätzung von technologischen Entwicklungen hin.
Doch eine solche realistische Einschätzung liegt für die Antriebstechnologie im Fahrzeugbau nicht vor – nicht von VW oder anderen Automobilunternehmen, nicht von Deutschland, Europa oder anderen Weltregionen. Es gibt nicht einmal eine fundierte Debatte zwischen unterschiedlichen Einschätzungen. Sie wird ersetzt durch Begriffe wie „Zuversicht“, die das Fehlen einer belastbaren Einschätzung überspielen. Es ist daher falsch, auf einer so schwachen Grundlage für die E-Mobilität pauschal das Zertifikat „Zukunftsinvestitionen“ auszustellen, und in ihrem Namen die gesamte herkömmliche Technologie zum alten Eisen zu werfen.

Der VW-Sanierungsplan verfehlt die Rekonstruktionsaufgabe

In dem bereits zitierten FAZ-Interview mit dem VW-Chef Oliver Blume fragen die Journalisten nach den Veränderungen, die Blume vom Wirtschaftsstandort Deutschland erwartet:
„Zunächst einmal müssen wir unsere eigenen Hausaufgaben machen. Gleichzeitig muss das Wirtschaftsmodell Deutschland adjustiert werden. Unsere Industrie hat lange davon gelebt, dass wir hier hervorragende Produkte entwickeln und produzieren, um sie in die ganze Welt zu liefern. Jetzt sehen wir geopolitische Verschiebungen und Protektionismus. Und technische Regulierungen, die sich global stark auseinanderentwickeln.“
Das berührt sehr wohl die kritischen Punkte, aber es bleibt merkwürdig vage. Es herrscht eine merkwürdige Zweiteilung: auf der einen Seite „die Hausaufgaben“ (die Blume erledigen will) und auf der anderen Seite eine „Adjustierung“ des deutschen Wirtschaftsmodells (die nicht präzisiert wird). Hat der Chef des größten deutschen Autobauers nicht ein gewichtiges und vor allem konkretes Wort zu den notwendigen Veränderungen dieses Wirtschaftsmodells zu sagen? Kann er seine Aufgaben bei VW überhaupt erfüllen, solange sie ganz wesentlich von einem Wirtschaftsmodell vorgegeben werden, das gar keinen Raum für die unternehmerische Vernunft lässt? Und kurz darauf gleitet er in eine platte „Aufbruchs“-Rhetorik ab, auf die er als Unternehmer gerade nicht ausweichen darf:
„Deutschland braucht einen Aufbruch – weg vom Standstreifen zurück auf die Überholspur. Wichtig sind zum Beispiel: geringere Abgaben, Abbau bürokratischer Hürden, bezahlbare Energie, Sicherheit bei Förderzusagen. Das wäre im Sinne von Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätzen und künftigem Wohlstand.“
Das ist keine Liste präziser Maßnahmen, die jetzt in diesem Land für das Weiterbestehen der Automobilindustrie unabdingbar sind. Sie werden kaum in der Lage sein, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen.
Auch die Neuaufstellungen, die Blume vom Sanierungsprogramm bei VW berichtet, wirken merkwürdig unentschlossen. Man will kein Ziel streichen, und auf dieser Basis das beseitigen, was Kunden bisher vom E-Mobil-Kauf abhielt. VW will preisgünstigere E-Automobile anbieten. Es sollen wieder stärker hybride Fahrzeuge (Mischformen von E-Motoren und Verbrenner-Motoren) angeboten, um den Reichweiten-Problemen entgegenzuwirken. Die Probleme bei der Batterie-Produktion sieht Blume als kurzfristig lösbar an. Zu den Problemen in China macht der VW-Chef eine sehr forsche Aussage: „In China liegen noch ein zwei schwierige Jahre vor uns. Es wird zu Kapazitätsanpassungen kommen.“ Aber dann: „Wir haben alle Möglichkeiten, um in China auch in Zukunft erfolgreich zu sein – mit lokaler Entwicklungskompetenz, mit auf die lokalen Kundenwünsche angepassten Fahrzeugen und mit wettbewerbsfähigen Kosten.“ Aber ist es nicht gerade China, das all die „lokalen“ Produktionen, die es selber meistert, auch in die eigenen Hände zu überführen? Und was die technologische Zukunft des Automobilbaus betrifft, erneuert der VW-Chef seine einseitige Festlegung: „Die grundsätzliche strategische Richtung hin zur E-Mobilität ist klar.“ Eine forsche Ansage machte auch der Markenchef der Volkswagen AG, Thomas Schäfer, in der Bild am Sonntag: „Wir wollen auch im Elektrozeitalter die Nummer eins in Europa sein – mit mindestens drei VWs im Top-zehn-Ranking der EU.“
Man kann schon jetzt prognostizieren, dass diese forschen Zukunftserklärungen als bloße Stimmungsmache und grobe Verletzung der unternehmerischen Vantwortungt scheitern werden. Auf jeden Fall wird auf dieser Grundlage kein großes Automobilunternehmen mit hohen Absatzzahlen für ein breites Publikum wiederhergestellt werden. Vertrauen von Kunden, Belegschaft und Investoren wird durch diese Unentschiedenheit und Unübersichtlichkeit nicht zu gewinnen sein. VW hat sich nur etwas Zeit gekauft. Aber diese Zeit könnte bald schon abgelaufen sein.

Eine EU-Verordnung, die sich nun als ruinös erweist

Am 11.10.2024 berichtet die FAZ von einem gemeinsamen Positionspapier der Wirtschaftsminister der Bundesländer Niedersachsen, Hessen, Sachsen, Berlin (alle SPD), in dem sie die Bundesregierung und die EU-Kommission auffordern, „die geltende abrupte Absenkung der CO2-Flottengrenzwerte durch eine flexible Absenkung zu ersetzen“. Ein Überschreiten der Grenzwerte, deren Verschärfung für das Jahr 2025 festgelegt ist, werde milliardenschwere Strafen nach sich ziehen, die nötige Investitionen erschwere. Der europäische Automobilverband ACEA hatte schon im September kurzfristige Erleichterungen gefordert, weil ansonsten Strafzahlungen von bis zu 15 Milliarden Euro drohen. Eine Überprüfung der Flottengrenzwerte durch eine Expertenkommission, die die EU-Kommission für 2025 in Aussicht gestellt hatte, komme zu spät. Das Positionspapier der SPD-Wirtschaftsminister (es ist in der FAZ vom 14.10.2024 abgedruckt) weist darauf hin, dass die Berechnung auf Basis der Gesamtflotte eines Herstellers die traditionellen Automobil-Hersteller gravierend benachteilige, die bisher die Kunden mit Verbrenner-Automobilen versorgen und dafür große Belegschaften haben. Neugegründete, reine E-Mobil-Hersteller, mit viele weniger Beschäftigten seien nicht betroffen.
Der FAZ-Artikel berichtete von mehreren Treffen zwischen der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und den Chefs verschiedener Automobilkonzerne. Und er berichtete, dass die Kommission an den Flotten-Grenzwerten und Strafen für 2025 festhielt. Begründet wurde dies damit, dass die CO2-Ziele für 2025 schon 2019 vom Europaparlament und vom EU-Ministerrat verabschiedet wurden. Die Branche hätte mithin genügend Zeit gehabt, sich auf die gesetzten Ziele vorzubereiten. Damit wurde behauptet, dass alles erfüllbar sei, wenn man sich nur rechtzeitig anstrengt. Das war eine dreiste Schuld-Zuweisung seitens der EU-Kommission. Denn inzwischen war längst klar, dass die damaligen EU-Grenzwert-Beschlüsse auf völlig illusorischen Einschätzungen beruhten: Man ging von einem boomenden Markt für E-Automobile aus. In Wirklichkeit war dieser Markt im Herbst 2024 schon seit längerer Zeit dramatisch rückläufig. Die Flotten-Grenzwert-Beschlüsse gingen auch davon aus, dass die europäischen Autobauer bei der E-Mobilität große Exporterfolge erzielen würden. In Wirklichkeit waren inzwischen längst chinesische Hersteller weltweit auf dem Vormarsch. Angesichts dieser Lage wäre die Reduktion der CO2-Flottenemission, die notwendig wäre, um die EU-Grenzwerte für das Jahr 2025 einzuhalten und Strafzahlungen zu vermeiden, unerreichbar – es sei denn, die Autounternehmen würden einen Großteil ihrer Verbrenner-Fahrzeuge aus ihrem Angebot entfernen. Damit hat sich die so unscheinbare EU-Verordnung de facto in ein radikales Stilllegungsprogramm verwandelt.

Das Verbrenner-Verbot hat schon begonnen

Aber gibt es eventuell ein Einlenken der EU-Kommission und eine Korrektur der Verordnung? Diesen Eindruck erweckt ein Artikel, der am 31.Januar 2025 in der FAZ unter der Überschrift „Keine CO2-Strafen für VW und Co?“ erschienen ist. Dort heißt es, die Kommission sei „offensichtlich umgeschwenkt“. Ein Aktionsplan, den der zuständige EU-Verkehrskommissar am 5.März 2025 vorlegen will, soll zwar die bekannten Transformationsziele „Förderung von Innovationen, Umstellung auf Elektromobilität, Bau von Ladeinfrastruktur, Batteriefertigung und Umschulung von Arbeitskräften“ wiederholen, aber der FAZ-Artikel fügt hinzu: „Hoffnung können die Autokonzerne aber aus der Zusicherung schöpfen, einen pragmatischen Regelungsrahmen schaffen zu wollen.“ Die Hoffnung soll also auf das Wörtchen „pragmatisch“ gebaut werden. Da hätte man doch gerne Näheres erfahren. Im FAZ-Artikel wird folgende Passage aus einem „Wettbewerbsfähigkeits-Kompass“ zitiert, der noch schnell dem EU-Aktionsplan hinzugefügt worden war:
„Im Rahmen des Dialogs werden wir sofortige Lösungen finden, um die Investitionsfähigkeit der Industrie zu sichern, indem wir mögliche Flexibilitäten prüfen, um sicherzustellen, dass unsere Industrie wettbewerbsfähig bleibt. Ohne die 2025-Ziele zu entschärfen.“
Die EU will also an den Grenzwerten festhalten, aber gleichzeitig „Flexibilitäten prüfen“. Wie soll man sich das vorstellen, was ja eigentlich ein Widerspruch in sich? Und da zitiert die FAZ nun den Europaabgeordneten Peter Liese (CDU):
„Unsere Fraktion will Unternehmen, die die Ziele 2025 nicht erreichen, ermöglichen, Strafzahlungen durch die Übererfüllung der Ziele in den Jahren 2026 und 2027 zu vermeiden.“
Das ist nun freilich eine echte Falle für die Automobilunternehmen. Sie sollen die Ziele hinnehmen, aber gewissermaßen „Erfüllungs-Schulden“ aufnehmen. Sie müssten dann in der Jahren 2026 und 2027 die Grenzwerte stärker unterschreiten, um ihre Erfüllung-Schulden von 2025 auszugleichen. Oder, wenn sie das nicht schaffen, müssten sie einen aufsummierten und daher viel größeren Straf-Betrag zahlen. Damit werden die CO2-Flottengrenzwerte ab dem 1.1.2025, von denen ja nicht der mindeste Abstrich gemacht worden ist, im Nachhinein erst recht ruinös. Es wird also nur scheinbar Milde gewährt, um dann umso härter zuzuschlagen. Einen ähnlichen Vorschlag wie die CDU-Europaparlamentarier hat übrigens der deutsche Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) schon im Dezember 2024 gemacht.
Das Ganze erinnert an jenen alten Mechanismus, durch den arme Bauern nach schlechten Ernten durch billige Kredite in Abhängigkeit von einem reichen Geldgeber gerieten. Diese Bauern konnten in der Regel gar nicht die Erträge erwirtschaften, um aus den Schulden wieder herauszukommen. Sie versanken in einer immer drückenderen Schuldknechtschaft. In eine ähnliche Falle führt eine zeitlichen „Verrechnung“ von Emissions-Strafzahlungen. Ein finsteres Kapitel der Wirtschafts- und Sozialgeschichte lässt grüßen.

Die Überdehnung wird zur Enteignung

Die Affäre um die Flottengrenzwerte zeigt, dass sich die Überdehnungskrise, in der das Unternehmen VW und ein Großteil der europäischen Autoindustrie steckt, mit dem Jahr 2025 zuspitzen könnte. Denn die beiden großen Überdehnungen kommen hier und jetzt zusammen: Die Märkte für die E-Mobilität brechen zusammen, weil eine Technologie, die unter ökologischen Vorzeichen den Unternehmen auferlegt wurde, sich als zu teuer und unpraktisch erweist. Und zugleich findet auch an der Globalisierungsfront eine Verschlechterung statt. Die großen Automobilkonzerne müssen hohe Kosten für Investitionen vor Ort aufbringen, um in einem viel stärker geteilten Weltmarkt nach dem Prinzip „local to local“ weiter präsent zu sein. Die Unternehmen könnten sich genötigt sehen, ihre Produktion von Verbrenner-Fahrzeugen in andere Teile der Welt, deren Märkte kein technologisches Zwangskorsett haben, auszulagern. Und in Europa bliebe dann nichts mehr übrig als eine E-Mobil-Produktion ohne breite Käuferschichten. Und wer glaubt im Ernst, dass man die Leute mit einer vorgezogenen Zwangsreduzierung der Verbrenner-Produktion und mit immer höheren Zwangsabgaben für Benzin und Diesel zur E-Mobilität prügeln kann?
Wir stehen vor der Zuspitzung einer Krise, in der ein ganzer Industriezweig auf verlorenem Posten steht. Eigentlich könnte er hervorragende und bewährte Produkte liefern, für die es auch einen Bedarf gibt. Eigentlich verfügt er über leistungsfähige, zuverlässige Produktionsanlagen und Belegschaften, die das Resultat einer langen Entwicklungsgeschichte sind. All das ist noch da. Es steht noch bereit. Aber jetzt wird es nicht mehr irgendwie in eine große Epoche der E-Mobilität „übergeleitet“. Nein, es wird stillgelegt. Es wird den Kunden, den Belegschaften, den Unternehmern weggenommen. Die erheblichen Kürzungen und Stilllegungen an den verschiedenen VW-Standorten sind Einschnitte, die viel zu tief gehen, um bloße „Anpassungen“ zu sein. Es wird jetzt immer deutlicher, dass hier eine Enteignung stattfindet. Eine technologische Enteignung, die sich Produktionsmitteln und Arbeitsplätzen materialisiert.
So wird die Überdehnungskrise – weil es keine Rückverschiebung gibt – zu einer Enteignungskrise. Bisher konnten die Begründungen, die zur „unvermeidlichen Verkehrswende“, zur „unaufhaltsamen Globalisierung“ und zur „großen Transformation“ vorgetragen wurden, als gedankliche Irrfahrten angesehen werden. Doch jetzt wird die Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit, die diese Begründungen schon enthielten, zur materiellen Zwangsgewalt. Die Affäre um die EU-CO2-Flottengrenzwerte zeigt eine eiskalte Bereitschaft, jetzt vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Enteignung marschiert.
Auch Sätze wie „Das ist mit den EU-Regeln unvereinbar“ oder „Das ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts unvereinbar“ bekommen nun einen anderen Klang. Sie bedeuten nun, dass diejenigen, die diese Regeln und Urteile beschlossen haben, bereit sind, dafür fundamentale Rechte, Güter und Fähigkeiten zu opfern. Und mehr noch: Dass sie die Auflösung tragender Strukturen von Wirtschaft und Staat eines modernen Landes billigend in Kauf nehmen. In einer der größten deutschen und europäischen Industriezweige ist die Zerstörung der Unternehmens-Landschaft eine unmittelbare Gefahr. Sie wird ihrer Fähigkeit beraubt, aus eigenen Mitteln positive Erträge zu erwirtschaften, und so aus eigener Kraft die eigene Existenz zu behaupten.

Die Unternehmen sind der Schlüssel

Durch diese neue Situation bekommt die Rekonstruktionsaufgabe eine zusätzliche Dringlichkeit. Es ist hier noch nichts wirklich gelöst, aber es ist doch schon etwas Gutes geschehen im Land: Die Unternehmen sind stärker in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Die Einschätzungen der Unternehmer zu ihrer Lage und zu ihren Zukunftsaussichten werden mit größerer Aufmerksamkeit verfolgt. Der Glaube, dass es ein Naturgesetz der Marktwirtschaft gibt, nach dem die Dinge bei irgendwelchen Abstürzen wie von selbst wieder auf die Füße kommen, ist brüchig geworden.
Das bietet die Chance einer Rehabilitierung der unternehmerischen Vernunft. Diese Vernunft ist nicht nur etwas, das „die Unternehmer“ haben sollten, sondern das die ganze Wirtschaft eines modernen Landes bestimmen sollte. Es geht um die Erkenntnis und Erfahrung, dass eine moderne Wirtschaft produktive Grundeinheiten braucht, die aus eigenen Mitteln stetig eine Mehrprodukt schaffen können und tatsächlich schaffen. Also Grundeinheiten, die eigenständige Einheiten sind, die nicht von fremder Hand eingesetzt sind, und nicht von ihren Regelungen und Subventionen existenziell abhängig sind. Die nicht bloße Diener und Handlanger zur Umsetzung von höheren Vorgaben, Regeln oder Werten sind. Die Unternehmen sind die Souveräne des Marktes, die Festungen der Freiheit. In ihnen entscheidet sich die Produktivität einer Marktwirtschaft. Sie müssen die verschiedenen Faktoren und Ressourcen zusammenbringen. Sie sind der entscheidende Bilanzort der Wirtschaft. Die Marktwirtschaft eines modernen Landes müsste deshalb eigentlich „unternehmerische Marktwirtschaft“ heißen. Denn das ist das wichtigste Spezifikum, dass die moderne Marktwirtschaft von der Marktwirtschaft früherer Geschichtsepochen unterscheidet. Das Spezifikum, das die Wirtschaft als eine eigenständige Sphäre von der politischen Sphäre unterscheidet. Deshalb ist es im Grunde eine Entmündigung der unternehmerischen Marktwirtschaft, wenn man sie in „soziale Marktwirtschaft“ umtauft, oder – in unseren Tagen – in „ökologische Marktwirtschaft“. Ist hier nicht ein großer Opfergang vorprogrammiert, wenn man „die Gesellschaft“ oder „die Natur“ zum Leitmotiv der Marktwirtschaft erklärt? Man stellt die Marktwirtschaft unter tendenziell unendliche Größen und macht sie anfällig für alle möglichen Übergriffe. Die Unternehmen, die mit ihrem Produktivitäts-Gesetz solche unendlichen Größen konterkarieren könnten, waren lange Zeit zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Jetzt führt kein Weg an ihrer Rehabilitierung vorbei.

◊◊◊

Das könnte auch zur Überwindung eines falschen Gegensatzes führen: zur Überwindung der Vorstellung, dass die Unterschiede, die zwischen der Unternehmerseite und der Belegschaftsseite bestehen, antagonistische Widersprüche sind. Also zur Überwindung der Vorstellung einer unüberwindlichen Feindschaft zwischen beiden Seiten. Es gibt ja eine vielfach unterschätzte und allzu schnell wieder verdrängte Erfahrung der Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik gewesen: dass Unternehmerseite und Belegschaftsseite auf Grund ihrer Zugehörigkeit zum Unternehmen miteinander verbunden sind. Und dass sie deshalb Sozialpartner werden können. Das wurde schließlich auch vom Godesberger Programm der SPD reflektiert, aber es war in den Betrieben gewachsen, bevor es politisch aufgegriffen werden konnte. Die Sozialpartnerschaft ist also eine genuin unternehmerisch-marktwirtschaftliche Partnerschaft. Sie ist nicht etwa eine Frucht der „sozialen Marktwirtschaft“. Eher sind unter Berufung auf neue „gesellschaftliche“ Ansprüche neue Widersprüche in die Sozialpartnerschaft hineingetragen worden. Dazu gehört zum Beispiel der Anspruch, dass die ganze Gesellschaft einen Anspruch auf Bildungsaufstieg und entsprechende Arbeitsplätze hat. Ein noch größerer Zwiespalt wurde in die Sozialpartnerschaft hineingetragen, als zusätzlich zu den sozialen noch „ökologische“ Ansprüche in die Unternehmen hineingetragen wurden. Durch sie wurde die produktive Vernunft der Unternehmen massiv in Frage gestellt. So kann man sich vorstellen, wie die Delegitimierung der unternehmerischen Vernunft und die Entwertung der betrieblichen Bindungen sich Jahr für Jahr tiefer ins Land und seine Unternehmens-Landschaft gefressen hat. Und wie es soweit kommen konnte, dass wir jetzt, im Jahr 2025, tatsächlich eine veritable Unternehmenskrise in Deutschland haben.

◊◊◊

Allerdings sollte man einer Tatsache, die gegenüber der Situation der Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik neu ist, ins Auge sehen. Man könnte ja annehmen, dass die Unternehmensbindungen der damaligen Zeit dadurch begründet waren, dass es Aufbau-Jahre waren und deshalb Zugewinne sowohl für die Unternehmerseite als auch für die Belegschaftsseite ermöglichte. Dass es also eine sogenannte Win-Win-Situation war. In der heutigen Zeit liegen die Tatsachen anders. Es stehen keine zusätzlichen großen Gewinne in Aussicht. Die Rückverschiebungen, die die Rekonstruktions-Aufgabe prägen, können solche Gewinne redlicherweise nicht versprechen. Sie können nur die Wiederherstellung einer tragfähigen Unternehmens-Grundlage versprechen. Das schließt positive Erträge ein, aber sie werden weder die Gewinne der Zeiten des „Wirtschaftswunders“ noch die Zeiten des „Exportweltmeisters“ erreichen.
Das bedeutet, dass die Schlüsselrolle der Unternehmen nicht zu vordergründig auf das Versprechen einer neuen Win-win-Situation gebaut werden sollte. Die Begründung dieser Schlüsselrolle muss defensiver und elementarer ausfallen: Es geht in dieser Zeit um eine Selbstbehauptung der deutschen Wirtschaft. Exemplarisch dafür geht es um die Selbstbehauptung von VW als einem Großunternehmen der Automobilindustrie – einem Unternehmen, das für die Verfügbarkeit des Automobils als Massenverkehrsmittel für breite Bevölkerungsschichten unabdingbar ist.

Der längere Hebel

Es gibt hierzulande durchaus einen beträchtlichen sozialen Sektor, der bereit ist, die Automobilindustrie und das Auto als Massenverkehrsmittel zu opfern. VW ist ihm egal. Es ist ein Sektor, der bereit ist, seine Ziele mit allen Mitteln zu verfolgen – mit rücksichtsloser, kalter Abwicklung; mit arglistiger Täuschung; mit dem Bluff des „geht rechtlich nicht“, mit der Berufung auf „die“ Wissenschaft. Auch der Hebel der massenmedialen Aufblähung gehört dazu. Dagegen nur die besseren Argumente zu haben, reicht nicht. Der Sektor wird noch manchen „Sieg“ auf seinem Spielfeld davontragen: beim täglichen Beschwören und Beschreien finsterer Katastrophen. Manche Stilllegung ist da schnell durchgesetzt. Manches „innovative Projekt“ lässt sich toll in Szene setzen. Aber davon wird das Land nicht satt, sicher und sauber.
An dieser Stelle hat die große Transformation ihren wunderbaren Haken: Diejenigen, die da die Unternehmen und ihre produktiven Fähigkeiten enteignen, sind keineswegs in der Lage diese Fähigkeiten irgendwie zu übernehmen und im Ertrag zu ersetzen. Man sehe sich die Leute, die die großen „Wenden“ ausrufen, nur einmal näher an: Sie haben von Tuten und Blasen keine Ahnung. Sie haben weder Kraft noch Ausdauer zu täglicher, handfester Arbeit. Da liegt ihr süßes Geheimnis: Die Anhänger der großen Transformation. Sie erwarten insgeheim, dass andere diese Arbeit für sie erledigen. Man höre sich nur an, was sie heute zur Überwindung der Arbeitskräfte-Knappheit vorschlagen. Alles kommt vor, nur nicht eine drastische Reduzierung des heutigen Akademiker-Anteils von über 50 Prozent eines Jahrgangs.
So kann man in den kommenden Jahren mit folgendem Szenario rechnen: Es wird im Lande an immer mehr Stellen eine bedrückende Knappheit ausbrechen. Und diejenigen, die reale Betriebe führen können, und diejenigen, für die reale Arbeit kein Problem ist, werden in dieser Knappheit eher Wege zu ihrem Auskommen finden als die Prediger der „Zuversicht“.
Mit diesem Wechsel des Spielfelds eröffnen sich viele Möglichkeiten, Druck auszuüben. Auf diesem Feld liegt der längere Hebel, mit dem die Überdehnung ausgehebelt werden kann. Und mit dem dann auch, auf sicheren Boden, der konstruktive Wiederaufbau geschafft werden kann.