Gute Aussichten – aber nicht für eine schnelle Wende 

Die Arbeitskrise zeigt, in welcher Richtung eine Überwindung der deutschen Krise insgesamt zu suchen ist. Zugleich werden hier schon die Kräfte und Hebel sichtbar, die eine Rehabilitierung des Landes tragen können. (Wie Deutschland ein anderes Land wurde, Teil IV)

Gute Aussichten – aber nicht für eine schnelle Wende 

April 2024

Die Arbeitskrise in Deutschland wird hier nicht angeführt, um sie als Übel zu beklagen und sie den Regierenden zum Vorwurf zu machen. Die Arbeitskrise ist eine Anklage gegen die im Lande herrschenden Verhältnisse. Genauer: Sie ist die richtige Antwort auf einen längeren Prozess der Entwertung von Arbeit und Leistung. Die Arbeitskrise besteht ja nicht darin, dass Arbeitsplätze fehlen, sondern dass Arbeitskräfte fehlen. Dies Fehlen ist nicht Folge einer generellen Arbeitsunlust, sondern Antwort auf eine Entwertung der Arbeit – und zwar insbesondere der sogenannten „einfachen“ Arbeit (Facharbeiter und angelernte Arbeiter in den verschiedensten Branchen und Sektoren). Einer Arbeit, die bei näherem Hinsehen gar nicht so „einfach“ ist, sondern die sich aktiv mit den Widrigkeiten und Knappheiten der materiellen Welt auseinandersetzen muss. Diese Arbeit wird heute in Deutschland – im Verhältnis zu den „gehobenen“ Tätigkeiten – geringgeschätzt. Sie wird als Beschäftigung für „Verlierer“ angesehen. Auf diese Geringschätzung wird nun seit einigen Jahren ganz praktisch geantwortet – mit einem massiven Rückzug aus dieser Beschäftigung. Und sofort stellt sich ein sehr positiver Effekt ein: Auf einmal macht sich ganz handfest bemerkbar, welch elementare Bedeutung die „einfachen“ Tätigkeiten haben. Wie unersetzlich sie sind, um das Land am Laufen halten. Wunderbar, wie die so selbstgewisse „Bildungsrepublik“ und „Zivilgesellschaft“ hier auf dem falschen Fuß erwischt wird! Gerade noch war man sich einig, dass eine Lehre in Industrie, Handwerk und Dienstleistungen eigentlich etwas für Verlierer sei. Jetzt fragt man auf einmal sorgenvoll „Wo bleiben sie nur?“ Plötzlich weht der raue Wind der Realität durch die Republik. Denn es fehlt an wichtigen Gütern und Dienstleistungen. Sie fehlen nicht in irgendwelchen Zukunftsprognosen, sondern im Hier und Jetzt. Eiligst wird versichert, dass man nun schnell Abhilfe schaffen werde. Mit viel „Wir schaffen das!“ und ein bisschen mehr Geld. Aber das wird in dieser Krise nicht funktionieren. Die neue Knappheit ist viel härter und dauerhafter als die Beschwörungskünste der Regierenden. Man kann die Arbeitskrise nicht lösen, ohne die gesellschaftliche Schieflage zu beheben, auf die sie reagiert. Diese Krise berührt den Kern des tiefgreifenden Wandels, der Deutschland zu einem anderen Land gemacht hat. Deshalb muss man für diese Krise dankbar sein. Denn aus ihr kann man ersehen, in welcher Richtung eine Rehabilitierung des Landes erfolgen muss. Und es zeichnen sich hier auch schon die Kräfte und Hebel ab, die diese Rehabilitierung tragen können – und sie gegen Widerstände durchsetzen können. 

Eine naheliegende Lösung, die tabu ist 

Nur eine Rehabilitierung des Gesellschaftsvertrages wird die Arbeitskrise in Deutschland überwinden können. Diese Rehabilitierung kann nicht zu den Bedingungen der gehobenen Mittelklasse gelingen – ein „gehobener Gesellschaftsvertrag“ würde sich noch weiter von den realen Möglichkeiten dieses Landes entfernen. Es muss also um einen Rückbau gehen. Es muss eine erhebliche Reduzierung jenes gehobenen gesellschaftlichen Sektors stattfinden – sowohl in der Größe als auch im Einkommensniveau. Man muss also kein ganz neues Deutschland erfinden, sondern eine – durchaus einschneidende – Anpassung an die Realitäten durchsetzen. Doch von dieser Lösung ist das Land noch weit entfernt. Das zeigen die Vorschläge, die jetzt zur Lösung der Arbeitskrise die Runde machen. Ganz oben steht der Vorschlag, noch mehr Migranten ins Land zu holen. Das bedeutet, dass die Probleme nicht im Land mit den Mitteln dieses Landes gelöst werden, sondern an importierte Mittel. Und diese Logik des Auslagerns steht auch beim zweiten Vorschlag Pate: Die älteren Arbeitnehmer sollen länger arbeiten. „Das größte Potential des deutschen Arbeitsmarktes liegt über 60“ schreibt ein namhafter Vertreter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in einem Beitrag für die FAZ (19.8.2023). Wenn man an diese Arbeitsgeneration appelliert, will man auf eine „alte“ Arbeitsmoral zurückgreifen, die man für jüngere Arbeitsgenerationen schon aufgegeben hat. Das ist eine Auslagerung aus der Jetztzeit und im Grunde ein Offenbarungseid. 

Man sieht, wie hier um jeden Preis ein Bogen um die Lösung gemacht wird, die doch eigentlich naheliegt und die größte Wirkung hätte: Man muss den Irrsinn beenden, dass mehr als die Hälfte der deutschen Gesellschaft auf eine gehobene Laufbahn orientiert wird. Das ist das große Tabu im Lande – die heilige Kuh, die nicht angetastet werden darf. Diese Lösung soll nicht mal als mögliche Alternative erörtert werden. Natürlich wird das Problem im privaten Kreis und in Nebensätzen tausendfach angesprochen. Aber wenn zum Beispiel in einem Immobilien-Report der dramatische Fachkräftemangel im Bausektor beklagt wird, und es dort ausdrücklich heißt, ein Grund dafür sei „die zunehmende Akademisierung, die Handwerksbetriebe finden nicht genug Nachwuchs“ (zitiert in der FAZ vom 8.10.2021), dann führt das keineswegs zu näheren Untersuchungen und klaren Forderungen zum Akademisierungs-Problem. Die Aussage wird behandelt, als wäre sie gar nicht gemacht worden.     

Aber diese Krise lässt sich nicht verdrängen 

Noch also glaubt man, sich dies Tabu leisten zu können. Doch in diesem Punkt täuscht man sich. Und das ist die eigentliche Pointe der Arbeitskrise: Sie wird einfach nicht mehr aufhören. Der Rückzug aus der Arbeit wird weitergehen und immer weiter um sich greifen. So wird sichtbar, was es wirklich bedeutet, wenn die in einem Land die elementare Arbeit entwertet wird: Die tätige Auseinandersetzung mit den Knappheiten und Widrigkeiten dieser Welt wird entwertet. 

Man nehme einmal die Schlangen von Wohnungssuchenden, die sich gegenwärtig in Großstädten bilden, wenn irgendwo ein Besichtigungstermin für eine freie Wohnung angesetzt ist. Solche Warteschlangen muss man sich für viele Dinge vorstellen, die bald knapp werden: Plätze in Pflegeheimen, Notaufnahmen der Krankenhäuser, bei Behörden für die Verlängerung von Ausweisen, Hochzeitstermine, Anmeldung von Autos, überfüllte Wartezimmer beim Arzt, überfüllte Bahnsteige. Warteschlangen beim Bäcker, beim Restaurant, beim Postamt, an der Kasse beim Supermarkt, nicht zu vergessen die Warteschlangen bei irgendeiner Auskunfts- oder Beratungs-Hotline. Und überall wird es immer häufiger heißen: „Gibt´s nicht“, „“Keine Termine frei“, „Kommen Sie in einem halben Jahr wieder“. 

So wird sich immer deutlicher zeigen, dass die Tätigkeiten, die man jetzt mit Geringschätzung behandelt, nicht in irgendeinem Nebengebäude dieses Landes wohnen, sondern zum Haupthaus gehören. Ohne sie gibt es keine lebendigen Städte und keine aktiven ländlichen Räume. Ohne sie finden Dienstleistungen, Wissenschaften und Künste weder Stoff noch Inspiration. Ja, diesem Land stehen bedrückende Jahre bevor. Gewiss hätten sich diejenigen, die sich jetzt ihren Arbeits-Einsatz herunterfahren, eine Lösung ohne diese bedrückenden Jahre gewünscht. Aber die gesellschaftliche Schieflage hat sich zu sehr verfestigt, um einfach durch gute Argumente korrigiert werden zu können. Es wird ja alles dafür getan, dass Krisen wie die Arbeitskrise gar nicht ruhig erörtert werden können. Diese Krisen werden gewissermaßen „überschrien“ – indem man extreme Katastrophen- und Feind-Kampagnen inszeniert. Diese Kampagnen sind im Grunde Alibi-Veranstaltungen, um nicht die näherliegenden, mühevolleren Aufgaben im Land anpacken zu müssen. Demgegenüber ist der Rückzug aus der Arbeit eine sehr passende und wirkungsvolle Antwort. Er macht ganz handfest spürbar, dass die Entwertung der elementaren Arbeit drastische und weitreichende Folgen hat. Und dieser Rückzug aus der Arbeit wirkt auch befreiend: Man spürt die eigene Kraft und ist nicht mehr der brave Depp im täglichen Besserwisser-Theater. 

Die historische Dimension dieser Auseinandersetzung 

Wenn die Bedeutung der einfachen, elementaren Arbeit, die sich direkt mit den Knappheiten und Widrigkeiten dieser Welt auseinandersetzt, verteidigt wird, berührt das einen Sachverhalt von historischer Bedeutung. Die moderne Zivilisation unterscheidet sich von anderen Zivilisationen in einem Punkt: Sie räumt den praktischen Tätigkeiten und dem Erwerbsleben eine viel größere Aufmerksamkeit und Rolle ein als andere Zivilisationen, die solche Tätigkeiten als zweitrangig und sogar als unwürdig ansahen. Dies führte zu einem anderen Bau der Institutionen für Staat und Wirtschaft, auch zu anderen Orientierungen von Wissenschaften und Künsten. Das wird von Historikern als ein wesentlicher Grund dafür angesehen, dass der Anbruch der Ära der Moderne in Europa (und nicht etwa im durchaus hochentwickelten China) stattfand. Die in diesem Text so stark betonte Unterscheidung zwischen „einfacher“ Arbeit und einem „abgehobenen“ Sektor knüpft an dies Grundverständnis der modernen Welt an, und sieht die Entwicklungskrise Deutschlands (und anderer Länder des Westens) in letzter Instanz als eine Auseinandersetzung um Abbruch oder Fortsetzung der Moderne. Darauf wird bei anderer Gelegenheit zurückzukommen sein. 

Neben der Entwertung der Arbeit gibt es auch eine Entwertung des Kapitals 

Die Betonung der „Arbeit“ in diesem Text könnte zu dem Schluss verleiten, die Krise unseres Landes beträfe nur die Arbeit. Daraus könnte eventuell sogar der Schluss gezogen werden, es müsse ein Klassenkampf „Lohnarbeit gegen Kapital“ geführt werden. Das wäre ein törichter Kurzschluss, denn wir haben ganz offensichtlich auch eine fundamentale Kapitalkrise. Wir erleben, wie die Produktivität der Unternehmen schwer beschädigt wird, indem grundlegende Technologien belastet oder verboten werden (exemplarisch in der Automobilindustrie) und wie der Fortbestand von Unternehmen nicht mehr von der eigenen Wertschöpfung abhängt, sondern von schuldenfinanzierten Subventionstöpfen. Mit anderen Worten: Die Kapitalbildung ist ihrem Kern entwertet. Die treibende Kraft ist dabei wiederum jener Sektor der gehobenen Mittelklasse, der mit seinen ökologischen, sozialen und organisatorischen „höheren Zielen“ alle Gesetze der Unternehmensproduktivität beiseite wischen kann. Dieser Sektor gefällt sich ja auch in einem naiven Anti-Kapitalismus. Die „Kapitalisten“ aber sind hier nicht mehr Treiber, sondern Getriebene. Es wäre also eine ganz törichte Spaltung, wenn man die einfache Arbeit verteidigen wollte, indem man sie gegen das Kapital in Stellung bringt. Hier hilft es, sich an die erste Phase der Bundesrepublik zu erinnern, als Facharbeit und angelernte Arbeit hoch in Kurs stand und zugleich die Kapitalseite eine starke Rolle hatte. Beide Seiten einte ein gegenseitiger Respekt und diese Sozialpartnerschaft war für beiden Seiten fruchtbar. 

Ein Deppenspiel: Staat gegen Wirtschaft, Wirtschaft gegen Staat

Und es gibt noch eine zweite törichte Spaltung. Wir erleben inzwischen ein tägliches Deppenspiel, bei dem einmal ein guter Staat gegen eine böse Wirtschaft gesetzt wird, und im nächsten Moment eine tüchtige Wirtschaft gegen einen versagenden Staat. Dabei ist es doch eigentlich naheliegender, dass Wirtschaft und Staat sehr verschiedene Dinge mit je eigenen Vorzügen und Schwächen sind. Und heute ist auf beiden Seiten bei den jeweiligen Kernaufgaben eine Schwächung festzustellen ist, und ein Wuchern von Schein-Aktivitäten. Die Geringschätzung der Arbeiten, die sich mit den Widrigkeiten dieser Welt auseinandersetzen müssen, ist ja nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch beim Staat zu beobachten. Man denke nur an die Polizisten und Soldaten, an Feuerwehrleute und Rettungskräfte, auch an Eisenbahner, Müllentsorger, Post- und Paketzusteller; und an die Arbeit in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Schulen, die man vielerorts schon in unhaltbare Zustände getrieben hat. Und auf beiden Seiten werden auch die rosigsten Zukunftsprojekte unter den gemütlichsten Umständen gepflegt. Bei diesen Vorgängen fällt es schwer, irgendeine oberste lenkende Hand zu finden, irgendeine verschworene „Elite“, die das alles nach einem großen Plan lenkt. Es ist ein zerstörerisches Treiben-Lassen und Wuchern-Lassen in allen Dingen, und dies ist vielleicht noch gefährlicher als ein finsterer Plan. 

Auf der Suche nach Verhältnismäßigkeit 

Das strukturelle Grundproblem des heutigen Deutschlands ist die Ersetzung des Gesellschaftsvertrages durch die Alleinherrschaft eines einzigen sozialen Sektors. Eines lässt sich schon jetzt vorhersagen: Solange die Alleinherrschaft einer besserwissenden, bessermoralischen und besserverdienenden Mittelklasse besteht, wird das Land nicht wieder richtig in Gang kommen. Zu den Bedingungen dieses gehobenen Sektors ist ein realitätstüchtiges Deutschland nicht zu haben. Es wird von Engpass zu Engpass stolpern. Aber ebenso gilt: Eine andere Alleinherrschaft ist auch keine Lösung. Ein modernes Land kann nicht von einem einzigen gesellschaftlichen Sektor geführt werden, der für sich beansprucht, die ganze Zukunft zu repräsentieren. Ein realitätstüchtiges Land muss auf mehreren unabhängigen Trägern gebaut sein. Lösungen müssen daher immer „verhältnismäßig“ sein. Nur so ist ein richtiges Maß zu finden. Das gilt auch für die Arbeitskrise. Die krasse Schieflage zwischen den verschiedenen Arbeitswelten verlangt nach einer neuen, angemessenen Verhältnismäßigkeit – bei Größe, Einfluss und Einkommen. 

Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit 

In Deutschland geht es insgesamt um eine Rehabilitierung – um die Rehabilitierung eines produktiven, wehrhaften und auch bescheidenen Deutschlands. Dafür ist der Begriff der „Wende“ untauglich. Er suggeriert einen abrupten Vorgang. Auch der Begriff der „geistig-moralischen“ Wende ist irreführend. Er suggeriert ein Nacheinander von einer Wende im Kopf und einer dann folgenden „Umsetzung“ in materielles Tun. Aber Zivilisationsveränderungen – und darum geht es hier – brauchen ihre Zeit. Sie sind tiefer gelagert. Sie leben von Erfahrungen. Es müssen Distanzen zur überwältigenden Macht der heutigen Wort- und Bilderfluten aufgebaut werden. Verschüttete und verachtete Dinge müssen wieder freigelegt werden; Verstreutes kann sich nur allmählich zusammenfügen. Deutschland braucht eine Zeit der Rehabilitierung, und eine solche „allmähliche“ Zeit fühlt sich ganz anders an als eine Gründerzeit mit ihren „Aufbrüchen“. Es wird weniger um große Auftritte und Sprünge gehen, sondern um ein Wiederanknüpfen und Weiterbauen auf bestehenden Entwicklungslinien. Aber angesichts der heutigen Dominanz von allen möglichen „Ausstiegen“ wäre das „Weiterbauen“ schon eine große Aufgabe. 

In diesem Text wurde die Entwicklung Deutschlands in Phasen von jeweils 30 Jahren geteilt. Das ist natürlich völlig schematisch. Die wirkliche Entwicklung wird sicher aus krummerem Holze sein. Und doch kann dieser 30-Jahr-Rhythmus eine Orientierung sein. Er kann allzu schnelle Erwartungen im Bösen wie im Guten mäßigen, aber er verliert sich auch nicht in einem allzu vagen Jahrhundert-Glauben. 30-Jahre dauern länger als eine Legislaturperiode, länger als ein Konjunkturzyklus. Sie sind aber weniger lang als große Trends bei der Bevölkerungsentwicklung, bei der Strukturentwicklung in Stadt und Land, bei den territorialen Grenzen und den Verfassungen von Nationalstaaten und natürlich auch bei Geologie, Klima, Flora und Fauna. Hingegen kann man im 30-Jahre-Rhythmus sehr wohl fundierte Bilanzen der Entwicklung eines Staatswesens und einer Volkswirtschaft ziehen. 

  • Die erste Phase der Bundesrepublik wurde von Ende der 1940er Jahre bis zum Ende der 1970er Jahre angesetzt. Es ist in Hinsicht auf Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit eine erfolgreiche Phase.  
  • Die zweite Phase (Ende der 1970er Jahre bis Ende der 2000er Jahre) wurde als Herauslösung eines parallelen „gehobenen“ Sektors neben noch fortbestehen Errungenschaften der ersten Phase beschrieben.
  • In der dritten Phase, die in diesem Schema vom Ende der 2000er Jahre bis Ende der 2030er Jahre angesetzt werden müsste, kommt dieser Sektor zur Alleinherrschaft und wird gegenüber Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit rein destruktiv. Wir befinden uns also erst in Mitte dieser Phase, und die Alleinherrschaft ist Grunde noch ungebrochen und selbstgewiss.      
  • Die vierte Phase würde dann erst Ende der 2030er Jahre anbrechen und bis zum Ende der 2060er Jahre dauern. Aber dann wäre es auch möglich, eine zusammenhängende Rehabilitierung von Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit ins Werk zu setzen. Und zwar nicht nur als Wertesystem, sondern auch als materiellen „Wiederaufbau“ Deutschlands. Ja, dieser Begriff ist angemessen, weil diese vierte Phase in mancher Hinsicht an den Wiederaufbau in der ersten Phase der Bundesrepublik anknüpfen würde.  

Bei diesem Ausblick bis weit in zukünftige Jahrzehnte muss vieles offen bleiben. Und sicher kann man mit guten Gründen eine andere Ordnung des Wandels skizzieren. Wichtig ist die Einsicht, dass es diesmal mit einer politischen Reform-Agenda nicht getan sein wird. Es geht um eine Zivilisationsaufgabe.  

Übersicht und Beharrlichkeit

Es ist eine ziemlich lange Durststrecke, die hier ins Auge gefasst wird. Aber das ist etwas ganz anderes als eine Dekadenz-These. Das Raunen von einem Untergang des Landes ist eine unfruchtbare Übung. Aber der Begriff „Wiederaufbau“ ist durchaus angebracht, wenn man an die materiellen und moralischen Trümmer denkt, die jetzt schon sichtbar sind. Warum sollte es nicht gelingen, dies Land aus diesen Trümmern herauszuarbeiten? Dennoch sollte man nicht gleich auf eine „Wirtschaftswunder“ hoffen. Alles, was gegenwärtig an technologischen Sprüngen in Aussicht gestellt wird, ist nicht seriös. Insofern gehört der Baustein „Bescheidenheit“ wirklich zum Fundament einer Rehabilitierung Deutschlands in der hier skizzierten vierten Phase. 

Zur davor liegenden dritten Phase, in deren Mitte wir uns jetzt befinden, ist anzumerken, dass die Alleinherrschaft ihren Zenit schon erreicht haben könnte. Die Bemühungen, diese Herrschaft aufrechtzuhalten, werden schon deutlich krampfhafter. Vor allem wird diese Herrschaft in den kommenden Jahren von ihren Bilanzpflichten eingeholt werden: bei den Wirtschaftszahlen, bei den Staatsschulden, bei den Infrastrukturen von Verkehr und Energie, bei den Ergebnissen der schulischen Bildung, bei der Wirksamkeit ihrer „Klimarettung“. Da wird es spätestens im Laufe der 2030er Jahre zu manchem Offenbarungseid kommen. Auch kann man davon ausgehen, dass der Hype um die Digitalisierung und täglich neue weltstürzende „Innovationen“ sich allmählich totläuft. Ebenso kann man erwarten, dass die Werteordnung der gehobenen Mittelklasse und das Motiv des „sozialen Aufstiegs“ verblasst – und damit der Platz frei wird für eine neue Wertschätzung elementarerer Tätigkeiten und Fähigkeiten. 

Daraus aber folgt, dass man schon jetzt die Dinge, Fähigkeiten und Beziehungen hüten und pflegen sollte, die diesseits der Welt der Besserwisser und Besserverdiener liegen. Und noch etwas wird in dieser dritten Phase sehr wichtig sein: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die bröckelnde Alleinherrschaft das Land noch in einen großen Krieg schlittern lässt. Um das zu verhindern, sollte jede mäßigende Stimme willkommen sein.

Das Kräfteverhältnis ändert sich: Die Arbeitskrise

Die Beherrschung der Republik durch willkürlich herbeigeführte „Notstände“ scheint auf den ersten Blick übermächtig. Aber es gibt andere Krisen, die eine fundamentale Schwäche dieser Herrschaft offenbaren. (Wie Deutschland ein anderes Land wurde, Teil III)

Das Kräfteverhältnis ändert sich: Die Arbeitskrise

April 2024

In der bisherigen Darstellung wurde gezeigt, wie Deutschland mehr und mehr in den Bann eines hochdramatischen Krisenszenarios geraten ist. Und wie dies Szenario immer mehr auf eine negative, zerstörerische Lösung hinauslief: auf die Opferung fundamentaler Aufbauleistungen der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte. Dieser Wandel scheint übermächtig und ausweglos zu sein – nicht zuletzt deswegen, weil der größere Teil der Gesellschaft in diesem Drama nichts zu sagen hat, sondern nur die Opfer zu ertragen hat. Während ein anderer, durchaus beträchtlicher Sektor der Gesellschaft in diesem extremen Krisenszenario an Umfang, Macht und Einkommen gewinnt. Diese Konstellation kann zu einem Gefühl der Ohnmacht führen. Sie kann auch dazu verführen, alle Hoffnung auf einen Art Gesellschafts-Duell mit den Krisengewinnern zu setzen. Doch damit hat man noch keinen konstruktiven und tragfähigen Ausweg für das Land gewonnen. Man verkämpft sich in die Widerlegung des herrschenden Krisentheaters – und bleibt ihm doch noch verhaftet. 

Um einen konstruktiven Ausweg finden zu können, muss die Entwicklung Deutschlands noch etwas anders dargestellt werden. Die Darstellung in dieser Artikelfolge war noch unvollständig – sie muss um etwas Elementares ergänzt werden. Denn es gibt neben den lauthals ausgerufenen Krisendramen noch ganz andere Krisen – stillere, alltäglichere, zähere Krisen. Sie offenbaren eine fundamentale Schwäche. Aber es ist keine Schwäche des ganzen Landes, sondern eine Schwäche der Herrschaft durch Notstands-Mobilisierung. Diese Herrschaft erweist sich als unfähig, die elementaren Aufgaben einer modernen Zivilisation zu bewältigen. Zugleich werden in diesen Krisen die Kräfte sichtbar, die sich von den künstlich erzeugten Notständen nicht beeindrucken lassen, sondern sich mit den wirklichen Problemen dieses Landes befassen müssen und auch können. Mittelfristig werden sie die Träger eines deutschen Wiederaufbaus sein.        

„Wo sind sie geblieben?“ 

Dieser Alarmruf geht seit einiger Zeit in Deutschland um. Gemeint sind die Arbeitskräfte. Sie fehlen an allen Ecken und Enden. So erschien der „Spiegel“ vom 16.7.2022 mit einem Titelblatt, auf dem in großen Lettern stand: „Wo sind die nur alle hin?“ Und die Unterzeile lautete: „Wie der Mangel an Arbeitskräften das Land lahmlegt“. Dabei geht es vor allem um elementare Berufe, die keine höhere, akademische Bildung erfordern, sondern Fachkenntnisse und Erfahrungen aus der praktischen Berufsausübung – wie sie für Facharbeiter und angelernte Arbeiter typisch sind: Bauarbeiter, Feldarbeiter, Maschineneinrichter und Maschinenführer, Monteure, Schlosser, Klempner, LKW-Fahrer, Lagerarbeiter, Fachkräfte und Helfer im Einzelhandel, Brief- und Paketzusteller, Pflegekräfte, Fleischer, Bäcker, Klempner, Köche und Kellner, Busfahrer, Lokführer und Begleitpersonal bei der Bahn, Bühnenarbeiter, Texter, Zeichner und so weiter. Es geht um sogenannte „einfache“ Tätigkeiten – aber sie sind nicht einfach. Denn ihr gemeinsamer Nenner besteht darin, dass sie sich mit den Widrigkeiten der physischen Welt auseinandersetzen müssen, mit ihrer Muskelkraft, aber auch mit ihrer Aufmerksamkeit und Konzentration. Sie üben oft sehr kleinen Teilfunktionen aus, und tragen dabei doch eine hohe Verantwortung. Da sie „hart an der Realität“ gebaut sind, müssen sie oft unter schwierigen oder wechselhaften Bedingungen ausgeübt werden: Sie sind oft Wind und Wetter ausgesetzt, müssen Lärm, Schmutz, Staub, Rauch, Gestank aushalten. Sie müssen mit Menschen eng zusammenarbeiten oder sie als Kunden bedienen, und können sie sich nur in den seltensten Fällen aussuchen. Sie müssen früh aufstehen oder in Schichten rund um die Uhr arbeiten, und ihre Leistung immer auf einem bestimmten Niveau durchhalten. Und das über lange Jahre. 

Die neue Arbeitskrise 

Hier ist nun eine Krise da: Diese Krise hat die tonangebende „postindustrielle“ Gesellschafts-Vorstellung gewissermaßen auf dem falschen Fuß erwischt. Man hatte erwartet, dass sich die schweren Tätigkeiten und schwierigen Arbeitsplätze allmählich erledigen würden – entweder durch den technischen Fortschritt oder durch Auslagerungen aus den sogenannten „hochentwickelten“ Ländern in die „weniger entwickelten“ Länder. Für die Fälle, wo diese Rechnung nicht aufging, hatte man die Erwartung, dass es im Lande eine Unterschicht gäbe, die so dumm und brav wäre, dass sie die schlechten Arbeiten einfach weiter erledigen würde. Der andere Teil der Gesellschaft könnte als „Modernisierungsgewinner“ an ihnen vorbeiziehen und in ganz neuen, selbstbestimmten Arbeitsverhältnissen unterkommen, in denen man die Arbeit weitgehend für sich selbst definieren und als „wertvolle Leistung“ interpretieren kann. 

Doch nun gilt das alles offenbar nicht mehr. Jedenfalls nicht in einem Maße, dass es die Verhältnisse eines ganzen Landes bestimmen kann. Das gilt für das allmähliche Verschwinden der „einfachen“ Arbeitsplätze. Sie sind nicht verschwunden. Auch das Auslagern in andere Länder klappt nicht mehr zuverlässig, denn die internationale Arbeitsteilung läuft nicht mehr so, dass die einen sich mit den Widrigkeiten der physischen Welt auseinandersetzen müssen, und die anderen sich den freieren Tätigkeiten widmen können. Und nun fehlen „auf einmal“ auch in Deutschland massenweise Arbeitskräfte – und zwar gerade in den harten Realberufen, die man schon als erledigt abgehakt hatte. Diese neue Arbeitskrise liegt nicht an einer plötzlich ausgebrochenen allgemeinen Arbeitsscheu. Aber viele Menschen, die ihre Arbeit schätzen und über Jahre und Jahrzehnte das Land am Laufen gehalten haben, ziehen sich jetzt – ganz oder teilweise – zurück. 

Ein stiller, aber tiefgreifender Rückzug 

Es handelt sich nicht um einen bewussten, großen „Streik“, sondern um einen weitgehend stillen, aber tiefgreifenden Rückzug. Man verlässt Arbeitsplätze, geht vorzeitig in Rente, geht auf Teilzeit, nimmt häufiger einen Krankenschein oder verrichtet seine Arbeit ganz einfach mit weniger Einsatz. Und dieser Rückzug aus der Arbeit ist im Ergebnis so bedeutend, dass er „das Land lahmlegt“, wie der „Spiegel“ im Juli 2022 schrieb. Und diese Situation dauert an. Es handelt sich nicht um ein vorübergehendes, konjunkturelles Problem, das durch „mehr Geld“ (Lohnerhöhungen) zu beheben wäre. Es handelt sich um ein tieferes Problem. In Deutschland sind Verhältnisse eingetreten, bei denen es nicht mehr gelingt, Menschen zu motivieren, dauerhaft elementare Arbeiten zu verrichten. Dies Land hat etwas ganz Grundlegendes verloren, was es über lange Jahrzehnte besaß: Ihm ist der Wert der Arbeit abhandengekommen. Lange Zeit konnte dieser Wert, quer durch Branchen und soziale Schichten, einfach vorausgesetzt werden. Jetzt ist an dieser Stelle eine elementare Krise ausgebrochen. 

„Die demotivierte Gesellschaft“ 

Die Stimmungslage in Deutschland, die das Allensbacher Institut für Demoskopie monatlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht, trägt für Januar 2024 die Überschrift: „Die demotivierte Gesellschaft“ (FAZ 25.1.2024). Es geht um die Beobachtung, dass „die Einsatzbereitschaft im Beruf zurückgeht“. Auf die Frage „Ist in Deutschland der, der sich anstrengt und viel arbeitet, allmählich der Dumme?“ antworten von den Befragten mit niedrigem sozioökonomischen Status 67 Prozent mit „Ja“, mit mittlerem Status sind es 55 Prozent, während es mit hohem Status nur 38 Prozent sind. Eine Mehrheit der Befragten sagt, dass die Bereitschaft der Menschen, im Beruf großen Einsatz zu zeigen, in den letzten Jahren eher abgenommen als zugenommen hat. 

Nun bringen die Meinungsforscher das mit der Höhe der staatlichen Unterstützung bei Nicht-Arbeit („Bürgergeld“ etc.) in Verbindung, die kaum niedriger liegt als die Arbeits-Löhne in den unteren Lohngruppen. Man vermutet also eine Demotivierung „von unten“ und das ist seit längerer Zeit die vorherrschende Sichtweise. Sie hat durchaus ihre Berechtigung, aber sie verdeckt eine andere Demotivierung, die noch folgenreicher ist. Es gibt eine andere Form fehlender Leistungsbereitschaft, die gleichfalls durch einen riesigen und aufwendigen Apparat gefördert wird: die Schein-Arbeit durch eine aufgeblähte Akademisierung. Sie nimmt mittlerweile mehr als die Hälfte eines Bildungsjahrgangs in Anspruch. Hier geht es nicht um eine zu Untätigkeit verführte Unterschicht, sondern um die Verführung einer wuchernden „gehobenen“ Mittelschicht durch Schein-Beschäftigungen. Um eine „Demotivation von oben“, die alle anderen Arbeitsverhältnisse entwertet. Natürlich gibt es sehr anspruchsvolle wissenschaftliche Qualifikationen und akademische Berufe, ohne die ein modernes Land nicht denkbar ist – genauso, wie es in einem modernen Land unverzichtbare Sozial-Leistungen gibt. Aber all das muss in einem vernünftigen Verhältnis zur Produktivität eines Landes stehen. 

Die Inflation höherer Bildungsgänge 

In Deutschland ist viel von den Grenzen des Wachstums die Rede. Doch von einem völlig unverhältnismäßigen Wachstum ist erstaunlich wenig die Rede: vom Wachstum höherer Bildungsgänge. Die folgenden Zahlen zeigen, dass der Anteil der Studienanfänger pro Alters-Jahrgang von 1950 5,0 Prozent auf 2020 56,6 Prozent gestiegen ist. 

Die Entwicklung der Studienanfänger-Quote in Deutschland (1950 bis 2020):

JahrStudienanfänger pro Alters-Jahrgang
19505,0 Prozent
19606,0 Prozent
197012,0 Prozent
198019,5 Prozent
199030,4 Prozent
200033,5 Prozent
201046,0 Prozent
202056,6 Prozent

Die Bildungs-Ausgaben der öffentlichen Hand (Band, Länder, Gemeinden) sind von 1995 75,9 Milliarden Euro auf 2023 176,3 Milliarden Euro gestiegen. Man kann davon ausgehen, dass dies Wachstum ganz wesentlich auf das zunehmende Gewichte höherer Bildungsgänge zurückzuführen ist. Und dass dies Wachstum sich immer weiter von den Erfordernissen der Arbeitswelt gelöst hat. Ein Beleg dafür ist die Zahl der Studiengänge. Im Jahr 2008 gab es in Deutschland 13.000 verschiedene Studiengänge – was schon eine erstaunliche Zahl war. Aber im Jahr 2023 ist diese Zahl auf 21.000 Studiengänge gewachsen! Es liegt auf der Hand, dass hier ein Systemproblem liegt: Man kann im akademischen Bereich ständig zusätzliche Themen finden, die irgendeine feinere Unterscheidung oder neue Akzentuierung versprechen. Doch bedeutet „Thema“ nicht, dass daraus irgendwelche Produktivitätsgewinne folgen, die die Kosten solcher „höheren Bildung“ und „höheren Arbeitsplätze“ tragen könnten. Wenn Jahr für Jahr mehr als die Hälfte eines Jahrgangs auf diese Bahn geschickt wird, gerät das Gesamtgebäude einer Gesellschaft in eine unhaltbare Schieflage. 

Wenn „Bildung“ an die Stelle von „Leistung“ tritt 

Man kann diese Schieflage präzisieren: Es bildet sich in der Mitte der Gesellschaft ein beträchtlicher, vielfältig zusammengesetzter Sektor heraus, der über sogenanntes „höheres Wissen“ verfügt und entsprechend höhere Einkommen beansprucht. Aber die Arbeitswelt dieses Sektors unterliegt nicht den harten Zwängen und Maßstäben, denen die Arbeitswelt der „Realberufe“ unterliegt, der jetzt die Arbeitskräfte ausgehen. Die Arbeitswelt der so stark angeschwollenen höheren Mittelklasse, ist ganz überwiegend eine weiche Welt. Naturnähe bedeutet hier nicht Knappheit, Gefahr, Mühe, Anpassungszwang. Hier muss einer gegebenen Welt nichts abgerungen werden, sondern hier herrscht eine wunderbare Leichtigkeit, Erneuerbarkeit, Gratis-Produktivität. Man muss sich die Hände nicht schmutzig machen, sondern braucht eine großzügige Natur nur „selber machen“ lassen. Alles das, was anstrengend, monoton, widrig ist, wird jener bemitleidenswerten, bildungsfernen, aus der Zeit gefallenen „alten Mitte“ überlassen, die gar nicht mehr als Mitte der Gesellschaft anerkannt ist.So sind höhere Bildungsabschlüsse zu einer Art Adelstitel geworden, der ein Anrecht auf eine leichte Welt und auf „Renten“ mit sich bringt – „Renten“ verstanden als Positions-Einkünfte, die in keiner Relation zu einer erbrachten Leistung stehen. Je mehr dieser „gehobene“ Sektor wächst und um sich greift, sinken alle anderen Bildungsgänge und Arbeitswelten herab zu „Verliererwelten“, die man kaum noch eines Blickes würdigt. Der dortige Alltag ist zu „langweilig“, um wirklich einmal genau angeschaut zu werden. Und diese herablassende Behandlung gilt auch ganz brutal materiell: Da gibt es eine ständige wachsende gehobene Mittelklasse mit Haushalts-Einkommen von 5000, 10000 oder 15000 Euro pro Monat, die dann Güter und Dienste von anderen Menschen erwarten, die nur 1000, 1500 oder 2000 Euro erhalten. Und dabei viel härteren und engeren Arbeitsbedingungen unterworfen sind. 

Der Gesellschaftsvertrag ist zerbrochen 

Damit wird das, was man den modernen Gesellschaftsvertrag nennen kann, zerbrochen. Dieser Vertrag, der nicht auf Positionen und Rängen beruhte, sondern auf messbaren Leistungen, gilt nicht mehr. „Leistung“ gilt nun als falscher, primitiver Maßstab. An die Stelle der Arbeit tritt ein neuer Maßstab. Die Legitimität der gesellschaftlichen Verhältnisse, wird daran gemessen, ob sie „sozialen Aufstieg“ ermöglichen. Damit sind Arbeit und Arbeitsleistung aus dem normativen Zentrum der Gesellschaft entfernt. Normativer Maßstab sind jetzt die höheren Bildungsgänge und Berufe. Die Realberufe sind nun zu „niederen Berufen“ degradiert, die von Menschen ausgeübt werden, die „es nicht geschafft haben“. Sie werden offen oder insgeheim als Verlierer-Berufe angesehen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum in Deutschland nun der große Rückzug aus der Arbeit begonnen hat. Man hört besorgte Fragen, als hier irgendeine rätselhafte psychische Krankheit ausgebrochen: „Wo sind sie nur geblieben?“. „Wie können sie das nur tun?“. Dabei ist dieser Rückzug völlig logisch. Er ist die Antwort auf den Bruch des Gesellschaftsvertrags. Auf die Gleichgültigkeit und Arroganz, mit der die Zufriedenheit und Anerkennung zerstört wurde, die man zuvor als Facharbeiter oder angelernter Arbeiter finden konnte. Jetzt kommt die Quittung. Der Rückzug aus der Arbeit ist keine geplante Aktion und kein symbolischer Aktivismus, sondern eine tieferliegende, gesellschaftliche Reaktion: ein nachhaltig und auf breiter Front sinkender Einsatzwille. Die Bereitschaft, einer besserwissenden, besserverdienenden „Zivilgesellschaft“ die Lasten dieser Welt abzunehmen, ist drastisch gesunken. Diese Bereitschaft ist durch etwas mehr Geld nicht wiederherzustellen. 

Die Parallelwelt wird zur zerstörerischen Alleinherrschaft 

Von der „Großen Transformation“ ist nur noch eine Negativ-Agenda übriggeblieben, die Katastrophenszenarien und Feindbilder beschwört, um dann tragende Säulen von Marktwirtschaft und Republik zu opfern. (Wie Deutschland ein anderes Land wurde, Teil II)

Die Parallelwelt wird zur zerstörerischen Alleinherrschaft 

März 2024

Zu Beginn dieses Artikels wurde dargestellt, wie sich die Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg zunächst 30 Jahre industrieller Prosperität und krisenfester Demokratie erarbeitet hat (vom Ende der 1940er Jahre bis Ende zum 1970er Jahre). Deutschland wurde ein modernes Land, in dem Produktivität und freiheitliche Demokratie geachtet wurden. Gegenüber Heilsbotschaften herrschte eine gesunde Skepsis, und man war sich auch seiner begrenzten Möglichkeiten als mittelgroßes Land bewusst. Doch dann begann jener längere Prozess, an dessen Ende Deutschland ein fundamental anderes Land wurde. Die erste Phase dieses Prozesses wurde schon skizziert: In den dreißig Jahren vom Ende der 1970er Jahre bis zum Ende der 2000er Jahre bildete sich neben der bisherigen Bundesrepublik eine Parallelwelt aus. Noch kippte nicht das ganze Land, aber ein größerer Sektor der Gesellschaft – der sich vornehmlich aus den Bereichen der Dienstleistungen, der Wissenschaften und der Künste rekrutierte – verselbständigte sich. Er koppelte sich in seinem Wachstum von der industriellen Wertschöpfung ab, und er bildete auch eine eigene Öffentlichkeit aus, in der „weiche Faktoren“ („soft power“) die Hauptrolle spielten und die tätige Auseinandersetzung mit den harten Widrigkeiten dieser Welt immer weniger Wertschätzung fand. Doch damit war das Ende des Verwandlungsprozesses noch nicht erreicht. Deutschland trat in eine zweite Phase fundamentaler Veränderungen ein. Wenn man im Zeitrhythmus von 30 Jahren bleibt, hat diese Phase am Ende der 2000er Jahre begonnen und könnte bis zum Ende der 2030er Jahre dauern. Damit sind wir bei den heutigen deutschen Zuständen angelangt. 

Kapitel 3: Die Parallelwelt ergreift die Macht und wird zerstörerisch 

Im Vergleich zur vorhergehenden Phase treten zwei wesentliche Veränderungen hervor. Erstens wird das, was die moderne Zivilisation bisher ausmachte und was noch immer die Arbeit und das Leben der Mehrheit prägt, nun ausdrücklich als Fehlentwicklung und „ohne Zukunft“ dargestellt. Das, was bisher nur eine Parallelwelt war, drängt nun zur Alleinherrschaft. Zweitens hat diese „neue Welt“ gar kein positives Programm mehr zu bieten. Sie ist nun ganz und gar ein Negativprogramm. Das Eigene wird nicht mehr positiv entwickelt und der Beweis erbracht, dass es die Gesamtheit des Landes tragen kann. Nein, es geht nur noch darum, die modernen Grundlagen von Wirtschaft und Staat, die das Land sich nach dem 2. Weltkrieg erarbeitet hatte, zu entwerten und zu beseitigen. Man belastet die Betriebe und Infrastrukturen mit unbezahlbaren Abgaben oder unerfüllbaren Auflagen. Oder man setzt sie ganz direkt außer Betrieb. Die bisher noch verbliebene Kontinuität zu den ersten 30 Jahren der Bundesrepublik wird nun wirklich abgebrochen. So wird bewusst und aktiv eine Notlage hergestellt. Das soll die neue Normallage sein, an die die Bevölkerung gewöhnt werden soll. 

Die Politik der „Wenden“ 

Solange der oben beschriebene Sektor nur eine Parallelwelt darstellte, konnte man noch von einem Nebeneinander unterschiedlicher Daseinsformen und politischer Strömungen sprechen. Der Sektor dehnte sich aus, er eroberte Positionen in Staat und Wirtschaft, aber er konnte noch nicht andere politische, wirtschaftliche, technische, kulturelle Existenzen und Interessen verdrängen und vernichten. Doch in der Phase, die Ende 2000er Jahre anbricht, geht es um die politische und soziale Alleinherrschaft dieses Sektors. Dieser Anspruch auf Alleinherrschaft ist im Begriff der „Wende“ enthalten, der nun zum Oberbegriff für alle politischen, wirtschaftlichen und technischen Veränderungen wurde. Denn „Wende“ meint ja nicht eine graduelle Veränderung, die Kontinuitäten wahrt und durch neue Elemente ergänzt – dafür gibt es den Begriff „Reform“. Das Wort „Wende“ wird dort gebraucht, wo Kontinuitäten gebrochen werden sollen. Das muss man immer bedenken, wenn von „Agrarwende“, „Verkehrswende“, „Energiewende“, „Bildungswende“ oder gar „Zeitenwende“ die Rede ist.

Von der „Autowende“ ist nur eine Negativ-Agenda geblieben 

Das Beispiel der Autoindustrie zeigt, wie bei diesen Wenden dann mehr und mehr die Negativseite – das „Weg mit!“ – in den Vordergrund trat. Von dem Versprechen einer ganz neuen „elektrifizierten“ Automobilära ist nur das Ausstiegsprogramm geblieben: Das Ende des Automobils mit Verbrennungsmotor ist beschlossene Sache. Das große E-Mobil-Versprechen hat sich als unbezahlbar erwiesen. Und auch als umweltschädlich. Seit viele Subventionen, die die E-Mobilität versüßen sollten, gestrichen wurden, sind die Verkaufszahlen radikal rückläufig. Diese „Innovation“ ist also an technischen Realitäten gescheitert. Nun regiert das ersatzlose, kalte „Weg mit!“. Millionen von Menschen verlieren ihr Fahrzeug. Das Automobil als Massenverkehrsmittel wird abgeschafft. Und das schlägt auch auf die Siedlungsstruktur durch: Viele Wohn- und Arbeitsstandorte außerhalb der Städte sind nur noch mit extremem Aufwand erreichbar. Eine flächendeckende Voll-Versorgung mit öffentlichen Verkehrsmitteln wäre der blanke Wahnsinn – ein riesige Verschwendung von Material, Energie, Arbeit und Geld.   

Katastrophenszenarien und Feindbilder 

Eine Zeitlang sah es so aus, als würde der Wettstreit im Lande darum gehen, wie man das Gute durch etwas Besseres ersetzen kann. Aber in der Phase, die Ende der 2000er Jahre begann, bekam eine Negativ-Logik die Oberhand. Das zeigte sich nicht nur im Ausstieg aus bewährten Technologien, sondern auch in der Begründung dieses Abbruchs: Die sogenannte „CO2-Strategie“ wird nicht mehr damit begründet, dass die alternativen Energieträger so wunderbar funktionieren, sondern mit einer finsteren Drohung: Eine Überhitzung des Planeten wird unumkehrbar stattfinden, wenn nicht in kürzester Zeit die CO2-Emissionen ohne Rücksicht auf Verluste zurückgefahren werden. So ist auch die öffentliche Rede über die Energiewende immer mehr zur Drohrede geworden. Jedes ungewöhnliche Wetterereignis wird als Zeichen einer nahenden Klimakatastrophe gelesen. Und es gibt auch eine „ökonomische“ Rechnung ex negativo: Es lohnt sich, Sachwerte in Billionen-Höhe zu vernichten, weil ansonsten noch größere Opfer (durch Umwelt-Katastrophen) ins Haus stehen. Den positiven Beweis, dass die CO2-Strategie wirklich die Umwelt-Schäden in Deutschland senkt, hat allerdings noch niemand erbracht. Die positive Wirksamkeit dieser Strategie ist also hochspekulativ, während die Opfer dieses Programms sehr real sind. Sie schneiden tief in Arbeit und Leben von Millionen ein. Und diese Opfer müssen sofort erbracht werden. Man kann von einer aktiven Herbeiführung einer Notlage sprechen. Das ist im Laufe der Jahre 2022 und 2023 drastisch klargeworden. Seitdem gibt es eine spürbare Bedrückung und einen spürbaren Zorn im Land.  

Deutschland im Notstands-Modus? 

Am 24.3.2021 hat der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ein Urteil zum Klimaschutzgesetz gefällt. Dort wurde nicht nur ein bestimmtes Welt-Temperatur-Ziel für „verfassungsrechtlich maßgeblich“ erklärt, sondern auch die CO2-Stategie in den Rang eines Verfassungsgebots erhoben: der Ausstieg aus allen Produktionsverfahren, Kraftwerken, Heizungen, Verkehrsmitteln, bei denen es zur Verbrennung von fossilen Energieträgern kommt. Die Grundlogik des Urteils ist negativ: Der Zentralbegriff lautet „Freiheitsbeschränkungen“ – im Namen des „Klimaziels“ werden elementare Verfassungsrechte wie zum Beispiel die Gewerbe- und Berufsfreiheit eingeschränkt. Seltsame Verfassungsrichter: In ihrem Urteil geht es nur noch darum, wie Freiheitsbeschränkungen zeitlich zu verteilen sind. Die folgende Passage bringt das deutlich zum Ausdruck: „Die Freiheitsbeschränkungen fallen darum milder aus, je mehr Zeit für eine solche Umstellung auf CO2-freie Alternativen bleibt, je früher diese initiiert wird und je weiter das allgemeine CO2-Emissionsniveau bereits gesenkt ist. Muss sich eine von CO2-intensiver Lebensweise geprägte Gesellschaft hingegen in kürzester Zeit auf klimaneutrales Verhalten umstellen, dürften die Freiheitsbeschränkungen enorm sein.“ (zitiert aus der FAZ vom 5.5.2021) Das BVerfG erklärt also ein möglichst frühes Einsetzen der Freiheitsbeschränkungen zum Verfassungsgebot. Die Wortwahl ist beschönigend: Es ist von Beschränkungen die Rede, die „milder ausfallen“, wenn „die Initiierung der Umstellung“ möglichst früh erfolgt. Eine ernsthafte Überprüfung der Frage, ob der Stand der Technik so ist, dass eine Umstellung auf gleichwertigen Ersatz überhaupt möglich ist, gibt es nicht. Stattdessen ist von einer „CO2-intensiven Lebensweise“ der Gesellschaft die Rede, als handele es sich bloß um eine Lebensstil-Frage.  

Ein Ausnahmezustand auf unbestimmte Zeit

Das Karlsruher Klima-Urteil vom 24.3.2021 muss in sehr viel ernsteren Begriffen charakterisiert werden. Es legitimiert schwere Eingriffe in Verfassungsrechte, die man als Zwangsbewirtschaftung bezeichnen kann. Auch eine Zwangsverschuldung ist im Spiel, wenn man bedenkt, dass in Deutschland und EU-Europa dreistellige Milliarden-Beträge außerhalb der regulären staatlichen Haushaltsführung für die „Klimarettung“ eingesetzt werden. Zur Legitimierung dieses dem Lande auferlegten Zwanges wird im Grunde eine Art „Klima-Notstand“ behauptet. Und dieser Notstand ist eigentlich unbefristet, denn für die Wirksamkeit der Maßnahmen gibt es keinen eingrenzbaren Zeitrahmen. Die „Klimarettung“ läuft also auf einen endlosen Spannungszustand hinaus. Und für diesen neuen Dauerzustand stände Deutschland nur mit einem eingeschränkten Grundgesetz da. Es würde ständig im Ausnahmezustand regiert. Und dieser Notstand wurde nicht in einem ordentlichen rechtsstaatlichen Verfahren, unter maßgeblicher Beteiligung der Legislative (Bundestag und Bundesrat), festgestellt – sondern nur durch die Judikative, durch.ein Gerichtsurteil. 

Aus lösbaren Problemen sind endlose Krisen geworden 

Das Klimaurteil des BVerfG ist ein gefährlicher Präzedenzfall. Denn hier wird im Namen einer Einzel-Krise eine Negativlösung (CO2-Strategie) über die Gesamtheit von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verhängt. Und es gibt weitere, ähnlich absolute Notlagen, die absolute „Rettungsmaßnahmen“ erfordern, die nicht mehr mit anderen Rechtsgütern abzuwägen sind. Das ist das neue Charakteristikum der Entwicklungsphase, die seit dem Ende der 2000er Jahre begonnen hat und in deren Bann Deutschland immer mehr steht. Ein frühes Beispiel ist das Tsunami-Unglück im fernen Japan (Fukushima), dessen Bild-Gewalt hierzulande einen so starken Eindruck hinterließ, dass man sogleich den Ausstieg aus der Kernenergie beschloss. Heute erweist sich dieser Beschluss als törichter Kurzschluss. Ein zweites frühes Beispiel ist die Schuldenkrise, die in Deutschland als Aufgabe der „Eurorettung“ dargestellt wurde. Bis heute ist diese Schuldenkrise, die viele Länder erfasste, nicht durch eine realwirtschaftliche Verbesserung der Wertschöpfung gelöst, sondern nur durch eine Politik des billigen Geldes überdeckt. Diese Politik wurde vor allem durch die Europäische Zentralbank (EZB) mit der radikalen Devise „Whatever it takes“ (Mario Draghi 2012) betrieben. Nur vor dem Hintergrund dieser Politik des billigen Geldes sind dann die leichtinnigen Entscheidungen getroffen worden, die die Belastungen von Wirtschaft und Staat in Deutschland und anderen Ländern signifikant erhöhten.    

Massenmigration und „Weltschuld“ 

Die Migrationskrise fing mit einzelnen Grenzüberschreitungen an, die schon den Druck erahnen ließen, den Entwicklungskrisen erzeugen können, wenn sie sich in Migrationsbewegungen verwandeln. Die Entwicklungskrisen sind eigentlich innere Fehlentwicklungen von Ländern, in unserer Zeit besonders in Teilen Afrikas und des Nahen oder Mittleren Ostens. Sie können nur durch innere Veränderungen in diesen Ländern behoben werden. Die Entladung in Migrationsbewegungen, bedeutete eine Internationalisierung der Entwicklungskrisen – also keine Lösung, sondern nur eine Verschiebung. So geschah es 2015. Indem Europa und besonders Deutschland dem nachgab, trug es dazu bei, die eigentlichen Krisen unlösbar zu machen. Doch man schwor hoch und heilig, dass sich 2015 „nicht wiederholen“ würde. Und nun befindet sich Deutschland mitten in einer noch größeren Immigrationswelle – und schwimmt darin genauso hilflos wie 2015. Nichts ist geschehen, um die Entladung von Entwicklungskrisen in Migrationskrisen durch staatliche Souveränität und Wehrhaftigkeit zu verhindern. Es wurde eine entwurzelte Bevölkerung ins Land gelassen. Sie wurde den Bürgern in Städten und Landkreisen vor die Tür geschaufelt. Mehr noch: Auf diesem Boden ist inzwischen eine Schuld-Erzählung gewachsen. Diese Erzählung läuft darauf hinaus, dass Deutschland und andere weiter entwickelte Länder (bis hin zu Israel) an den Entwicklungskrisen in Afrika oder dem Nahen und Mittleren Osten „schuldig“ sein sollen. So versteht sich eine wachsende Zahl von Migranten nun als die gerechten Eintreiber dieser Schulden. Auch hier ist also eine Negativ-Agenda zur Herrschaft gekommen: Der in Deutschland aufgebaute Wohlstand wurde zur „Weltschuld“ umgewertet.   

Und nun ein großer Krieg? 

Die Entwicklung in der Ukraine mit ihren immensen Opfern und der ganz akuten Gefahr einer neuen Eskalation führt dazu, dass eine wachsende Zahl von Menschen sich fragt: Wie sollen wir aus diesem Kriegszustand je wieder herausfinden? Wie sind wir überhaupt in diese Situation hineingeraten? Als die Ukrainer Anfang der 1990er Jahre mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit ihres Landes stimmten, hatten sie keineswegs eine Ukraine zum Ziel, die das starke und wertvolle russische Element aus dem Land ausschloss und die gewachsenen Verbindungen mit Russland zerschnitt. Auch hätten viele der Menschen, die Anfang der 2010er Jahre auf dem Majdan demonstrierten, einer blutigen Unterwerfung der östlichen Landesteile damals wohl nicht zugestimmt. Man kann es auch prinzipieller sagen: Eigentlich ist doch klar, dass Kiew mit der Hypothek einer gewaltsamen Unterwerfung des Donbass nicht glücklich werden kann. Ebenso wenig kann Moskau mit der Hypothek einer Annektierung der Ukraine glücklich werden. Doch hat die Ukraine-Krise eine sehr merkwürdige und sehr gefährliche Eigendynamik bekommen. Sie wird inzwischen mit extremen Feindbildern und medialen Schreckens-Inszenierungen geführt. Und zugleich werden die luftigsten Illusionen über einen Krieg, der klinisch sauber mit Fernwaffen und künstlicher Intelligenz gewonnen werden könnte, in die Welt gesetzt. Auf dieser Basis scheint hier „der Westen“ noch einmal angetreten zu sein, um einen großen Krieg zu gewinnen. Eigentlich ist der Versuch, auf diese Weise die Führungsrolle in der Welt zurückzugewinnen, ein historischer Rückfall, ein Anachronismus. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die Vorstellung, in der Ära der Moderne liefe alles immer wieder auf den Kampf um ein Monopol der Weltführung hinaus, stark relativiert. Die heutige Welt hat sich Schritt für Schritt in Richtung auf eine multipolare Weltordnung bewegt. Allerdings gibt es neben dieser Entwicklung auch verschiedene „große Erzählungen“, die globale Machtansprüche begründen sollen. Dazu gehört auch die Erzählung, dass mit den Ereignissen von 1989 „der Westen“ einen Sieg mit globaler Wirkung errungen habe. Mit dieser Deutung war es nur ein kleiner Schritt, um aus „1989“ die Ermächtigung abzuleiten, nun von außen in den verschiedensten Krisenländern zu intervenieren und einen „Regime change“ und ein „nation building“ ins Werk zu setzen. Die Ergebnisse dieser Politik sind ernüchternd. Für die betroffenen Länder waren sie oft verheerend. Mit dem (ersatzlosen) Sturz etablierter Mächte wurden Länder in ein unregierbares Chaos gestürzt. So ist die Außenpolitik westlicher Länder in einer schlechten Unentschiedenheit befangen: Man sagt einerseits, dass die Zeiten des ferngesteuerten „Regime change“ vorbei sind (nach dem Scheitern in Afghanistan). Und gleichzeitig scheint der Westen in der Ukraine noch einmal zu einem großen „Roll Back“ antreten zu wollen.   

Die zerstörerische Macht der „Erzählungen“ (1) 

Zur Eigenart der Ukraine-Krise gehört, dass hier eine sehr große Negativ-Erzählung im Spiel ist. In dieser Erzählung wird „Putins Russland“ nicht nur unterstellt, dass er die ganze Ukraine annektieren will, sondern auch, dass Russlands Soldaten nach der erfolgten Einverleibung der Ukraine gleich weiter nach Westen marschieren würden. „Russland führt einen Krieg in Europa“ lautet eine hierzulande häufig gebrauchte Formel. Diese Entgrenzung des Krieges hat mit dem tatsächlichen Frontverlauf nichts zu tun, aber Erzählungen bewegen sich in der sehr dehnbaren Sphäre der Zeichen und Bedeutungen. In dieser Sphäre kann „Putin“ zu dämonischer Größe wachsen. Und eine zweite Dämonisierung ist viel fundamentaler und gefährlicher: die Dämonisierung Russlands. In Deutschland ist es gängige Münze, Russland als „imperialistische Macht“ zu charakterisieren. Das aber würde bedeuten: Es gehört zum inneren Wesen Russlands, nach gewaltsamer Eroberung zu streben. Es kann gar nicht anders als sein Heil in einer gewaltsamen Expansion zu suchen. Ein so fundamentales Feindbild hat eine fatale Konsequenz: Europa kann nur Frieden finden, wenn es Russland zerstört. Wenn es sein Staat und seine Wirtschaft nachhaltig ruiniert. Dieses „nachhaltig zerstören“ geistert tatsächlich durch zahlreiche Statements, darunter des Wirtschaftsministers und des Finanzministers aus Deutschland. Solange diese Russland-Erzählung herrscht, wird der Westen aus diesem Krieg nicht herausfinden. 

Die zerstörerische Macht der „Erzählungen“ (2) 

Die Kiewer Regierung ist militärisch in eine schwierige Lage geraten. In der Bevölkerung wachsen die Zweifel. Das ist ein wichtiger Moment: Es gibt eine Chance, den Kriegseinsatz zurückzufahren und zu einem Waffenstillstand zu kommen. Dazu ist wichtig, dass jetzt von den Mächten, die Kiew unterstützen, Signale der Mäßigung kommen und eindeutige Grenzen der Unterstützung sichtbar gemacht werden. In den USA, in Frankreich und in Deutschland ist die Bevölkerung mehrheitlich für eine solche Begrenzung. Aber es gibt auch prominente Stimmen, die für das glatte Gegenteil eintreten und „weittragende“ Waffen in Aussicht stellen, mit denen ein „Sieg über Russland“ doch noch möglich sein soll. So hat Roderich Kiesewetter, ein führender CDU-Politiker in einem Interview mit der „Deutschen Welle“ folgendes gesagt: „Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände.“ Hier werden militärische Ziele in Russland benannt und gefordert, dass Deutschland die dafür notwendigen Waffen liefert. Es gibt eine beträchtliche Zahl ähnlicher Stimmen, die eine Eskalation ins „Weittragende“ befürworten – sowohl in der Regierung als auch in der Opposition. Es muss befürchtet werden, dass ein Eskalations-Antrag im Deutschen Bundestag eine Mehrheit finden würde. Man könnte einwenden, dass das alles nicht so ernst gemeint sei. Den Krieg würden ja bloß die Ukrainer führen. Und wir wollen den Ukrainer eigentlich nur „Mut machen“.  Aber die Politik ist nicht nur für die guten Worte verantwortlich, in die sie ihre Entscheidungen kleidet, sondern auch für die realen Folgen dieser Entscheidungen. Und diese Folgen sind: Kriegserweiterung und Kriegsverlängerung. 

Die zerstörerische Macht der „Erzählungen“ (3) 

Man vergleiche einmal die Stellungnahmen führender deutscher Politiker zur jetzigen Konfrontation mit Russland mit den Stellungnahmen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Was für ein Unterschied und was für ein Widersinn! Damals, in Zeiten der kommunistischen Herrschaft in Russland und Osteuropa, konnte man mit einigem Recht von einer Bedrohung sprechen. Es fehlte nicht an ernsten Konfrontationen wie der Berlin-Blockade, dem Bau der Berliner Mauer, der Militärintervention gegen den Prager Frühling. Aber welcher Kanzler oder Außenminister, ob von CDU/CSU, SPD oder FDP hätte sich zur Forderung nach „weittragenden Waffen“ verstiegen? Sie haben Vorsicht und Zurückhaltung walten lassen. Und man hat ihnen damals auch nicht vorgeworfen, deswegen „Moskaus Freunde“ zu sein. Die Eskalation der deutschen Tonlage kann nicht damit erklärt werden, dass Russland eine gefährlichere Macht als früher geworden ist. Nein, die Mischung von Zerstörungswillen und Leichtsinn zeugt von der Veränderung, die mit Deutschland geschehen ist. In diesem Land findet sich inzwischen eine gefährliche Bereitschaft, die eigenen Errungenschaften aufs Spiel zu setzen und reale Güter für spekulative Ideen zu opfern. Diese Bereitschaft hat keineswegs von der ganzen Gesellschaft Besitz ergriffen, und vieles ist sicher auch bloßes Schwadronieren. Aber so kann man in einen Krieg hineinschlittern. Einen Krieg, den man eigentlich „gar nicht gewollt hat“.  

Das Menetekel 1914 

In mancher Hinsicht erinnert die Situation an 1914 oder überhaupt an das Jahrzehnt, das in die „europäische Urkatastrophe“ von 1914 führte. Natürlich muss es so nicht ausgehen. Geschichte wiederholt sich nicht. Was für einen Rückblick auf die Konstellation zu Beginn des 20. Jahrhunderts spricht, ist die Tatsache, dass es damals nicht nur eine Verharmlosung des drohenden Krieges gab, sondern auch eine gewisse Zivilisationsmüdigkeit und die Sehnsucht nach einer „reinigenden“ Gewaltkur. Beim Lernen aus der Geschichte steht heute meistens „1933“ und überhaupt die totalitäre Gefahr von rechts und links im Vordergrund. Aber ein Blick auf „1914“ wäre heute mindestens ebenso wichtig.  

Eine Zwischenbilanz 

Eine Zwischenbilanz für das Deutschland unserer Gegenwart muss tatsächlich einen fundamentalen Wandel feststellen: Was als abgehobene und selbstbezogene Parallelgesellschaft (der „Sektor“) entstand, ist inzwischen zu einer tonangebenden Macht geworden. Und diese Macht ist immer stärker zu einer zerstörerischen Negativ-Macht geworden. Erst in der Gesamtschau der Jahrzehnte und der verschiedenen Handlungsfelder zeigt sich der gemeinsame Grundcharakter und die Grundrichtung der Entwicklung. So wird verständlich, warum die Bilanzen für Wirtschaft und Staat so schlecht ausfallen, und warum sich in der Gesellschaft ein Gefühl der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ausbreitet. 

Aber ist das wirklich alles? Ist die heutige Negativspirale wirklich so mächtig, dass sie das ganze Land und die ganze Zukunft in Beschlag nehmen kann? Das hieße ja, dass der „Sektor“ alle anderen Fähigkeiten, Ressourcen, Erfahrungen und Interessen im Land völlig in Beschlag nehmen kann. Dass er sie sich einverleiben kann. Dass aus einer Parallelgesellschaft auf einmal „die Gesellschaft“ schlechthin wird. Und „die Wirtschaft“, „der Staat“, „die Arbeit“ und „die Demokratie“. Ja, so treten sie auf. Sie sind große Erzähler. Und starke Schauspieler. Doch es lohnt sich, einmal durch das so aufdringliche Krisentheater hindurchzuschauen. Und zu prüfen, ob es in diesem Land nicht etwas anderes gibt. Nein, ein bequemes Vor-Sich-Hin-Leben ist dann nicht in Sicht, sondern sehr elementare, hartnäckige Knappheiten und Widrigkeiten, aber mit greifbaren, im Rahmen unserer modernen Zivilisation schon bewährten Lösungen. Und eine Gesellschaft im Schatten, die sich darin bewährt hat. So könnte, diesseits der heute so aufdringlich herrschenden und sich allmählich erschöpfenden großen Erzählungen, eine Vorstellung von neuen Jahrzehnten entstehen, in denen Deutschland allmählich wieder auf einen anderen Kurs findet. 

Wie Deutschland ein anderes Land wurde 

Die gegenwärtigen Krisen sind keine vorübergehende Schwächeperiode, sondern Teil einer großen Zivilisationskrise, die sich über mehrere Stufen aufgebaut hat. (Ein Essay in vier Teilen)

Wie Deutschland ein anderes Land wurde 

März 2024

Die Bundesregierung hat ihre Wachstumsprognose für das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2024 von 1,3% auf 0,2% gesenkt. Das ist eine krasse Senkung. Für eine Regierungskoalition, die behauptet, dass sie – und nur sie – die Zukunft Deutschlands repräsentiert, ist es eine Bankrott-Erklärung. Ihre Politik der großen Transformation bringt dem Land alles andere als einen „New Deal“. Und vor dem Hintergrund des stagnierenden Bruttoinlandsproduktes bekommen die rasant steigenden Schulden nun ein viel größeres Gewicht: Zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik ist ihre finanzielle Solidität wirklich erschüttert.   

Doch die vorherrschende politische Rhetorik tut so, als wäre eine neue Prosperität mit noch mehr Geld auf Pump zu kaufen. Zur Beschreibung der Situation werden nur Konjunktur-Worte angeboten. Alles soll im gewohnten Rahmen von „Rezession“ oder „Aufschwung“ bleiben. sein. Eine Besserung ist greifbar nah, man muss nur ein bisschen nachhelfen. Die Möglichkeit, dass Deutschland sich in eine historische Sackgasse manövriert hat, kann so gar nicht die Worte finden, um überhaupt zur Sprache zu kommen. Das gilt auch für die ständig wiederholte Redewendung, das Land habe ein Problem mit „zu viel Bürokratie“. Ist das Ziel der der „Klima-Neutralität“ etwa ein Bürokratie-Problem? Oh nein, für dies Ziel werden Entscheidungen getroffen, die tief in die Produktionsabläufe eingreifen und die Wertschöpfung soweit senken, dass viele Betriebe und Arbeitsplätze vor dem Aus stehen. Es geht um Stilllegung von Kraftwerken, Verbot von Motoren, von Heizungen, von Herstellungsverfahren, bei denen fossile Energieträger genutzt werden. Ganze Industriezweige, für die es keine praktikablen technischen Alternativen gibt, werden mit unbezahlbaren Steuern belegt oder gleich zum Abschalten gezwungen. Die offizielle Rhetorik spricht bei dieser gezielten Herstellung einer Notlage, die in Deutschland inzwischen unübersehbar ist, immer noch von „Anreizen“, die zum Erfinden von etwas „ganz Neuen“ führen würde. Aber viele im Land wissen nicht, wie sie das nächste Jahr überstehen sollen. Oder auch nur über den nächsten Monat kommen sollen. 

Eine Zivilisationskrise 

Deutschland ist zu einem Land geworden, indem eine – durchaus beträchtliche – Minderheit einer – erheblich größeren – Mehrheit verkündet: Eure Verkehrsmittel sind falsch und Eure Heizungen sind falsch. Ihr arbeitet falsch. Ihr esst falsch und Ihr kleidet euch falsch. Ihr habt die falschen Reiseziele, hört die falsche Musik und richtig lieben könnt Ihr auch nicht. Kurzum: Ihr führt das falsche Leben. Ist es da erstaunlich, wenn in den verschiedensten Bereichen Krisen ausbrechen? Wenn es im Land an allen Ecken und Ecken fehlt? Es ist viel von einer Regierungskrise die Rede und manche setzen darauf, dass ein rascher Regierungswechsel die Dinge zum Guten wenden könnte. Aber das Problem liegt tiefer: Dies Land ist auf einen Konfrontationskurs mit der modernen Zivilisation geraten. Dieser Kurswechsel geht nicht auf einen einsamen Entschluss von ein paar Super-Reichen und Super-Mächtigen. Es gab keine plötzliche „Machtergreifung“, sondern einen breiteren und längeren sozialen Prozess. Aber dieser Prozess wird nicht von „der Gesellschaft“ als Ganzer getragen, sondern von einem bestimmten Sektor der Gesellschaft, der sich aus mehreren Schichten und Milieus zusammensetzt. Dieser durchaus beträchtliche und einflussreiche Sektor hat sich von der modernen Zivilisation entfremdet. Von den Knappheiten der realen Welt hat er gar keine Vorstellung mehr. Mit wirklicher Arbeit, die wirkliche Knappheiten mildert, hat er keine Erfahrung – weder mit ihren Mühen, noch mit der Befriedigung und Würde, die in dieser Arbeitswelt zu finden sind. Gegenüber dieser arbeitenden Moderne fühlt sich der „postmoderne“ Sektor zu Höherem berufen. Deshalb nimmt er die Zerstörungen und Opfer, die jetzt im Lande stattfinden, gar nicht als solche wahr. Die rasant steigende Verschuldung des Landes ist für ihn kein Problem. In diesem Sektor wird einfach von einer „schlechten Vergangenheit“ und einer „ganz neuen Zukunft“ fabuliert. So werden die schlechten Zahlen einfach zum Erlöschen gebracht. In der Welt dieses Sektors hängt ist alles eine Frage der richtigen „Erzählungen“. Auf dieser Basis wurden in Deutschland Machtpositionen in Staat und Wirtschaft besetzt und Positionen zerstört, von denen die Realitätstüchtigkeit dieses Landes abhängt. Deutschland ist ein anderes Land geworden.      

Eine kurze Geschichte der Bundesrepublik  

Die Aufgabe ist also, den allmählichen Prozess zu beschreiben, der Deutschland an diesen Punkt gebracht hat. Das sollte nicht in dem Sinn verstanden werden, dass es sich nur um ein „deutsches Problem“ handelt. In etlichen anderen Ländern der westlichen Welt gibt es vergleichbare Prozesse. Es geht also nicht um einen deutschen „Sonderweg“. Es geht aber auch nicht darum, gleich die ganze Moderne zu Grabe zu tragen. Es genügt, von einem bestimmten Zeitabschnitt in der Gesamtgeschichte der Moderne zu sprechen. Dieser Zeitabschnitt lässt sich in verschiedene Phasen unterteilen: Zunächst entsteht eine zivilisationsferne Parallelwelt, dann wird diese Parallelwelt dominant und schlägt in ein Negativprogramm um – in eine Zerstörung tragender Säulen der modernen Zivilisation. Das aber bedeutet nicht das Ende der Geschichte, denn auf dem negativen Höhepunkt dieser Zivilisationsabkehr, zeigt sich eine fundamentale Schwäche des „postmodernen“, „postindustriellen“ und „postkolonialen“ Sektors. Ihm fehlt es an Zugriff auf die Realität. Das Verdrängte erweist sich als unersetzlich und kehrt zurück. Doch der Reihe nach: Vor der eigentlichen Krisengeschichte muss eine gelungene Phase der deutschen Geschichte nach dem zweiten Weltkrieg beschrieben werden, die immerhin drei Jahrzehnte dauerte.

Das 1. Kapitel: Ein industrielles Land und eine ziemlich krisenfeste Demokratie 

Die 30 Jahre vom Ende der 1940er Jahre bis zum Ende der 1970er waren durch eine Prosperität geprägt, die sowohl Wohlstandsgewinne als auch eine Senkung der Schuldenquote ermöglichte. Dabei handelte es sich nicht nur um eine Phase des „Wiederaufbaus“ nach dem 2.Weltkrieg und auch nicht nur um das Ergebnis eines „Förderprogramms“ mit Dollar-Milliarden (Marshall-Plan“). Die eigentliche Grundlage war ein industrieller Produktivitätssprung, wie er in der Geschichte nur selten auftritt. Große, langlebige Konsumgüter wurden erstmals in großer Serie kostengünstig herstellbar (Haushaltselektronik, Automobile, Medien, Ton- und Bildträger, Eigenheime). Hohe Unternehmens-Investitionen ins Betriebskapital, die Zunahme und Verbesserung der Arbeitsplätze, staatliche Investitionen zur Erweiterung der technischen Infrastruktur (der Energie- und Verkehrsträger) und des Standort-Angebots in Stadt und Land gingen sichtlich Hand in Hand. Das begünstigte sozialpartnerschaftliche Lösungen. Das war auch die Grundlage, auf der die SPD mit dem Godesberger Programm (1959) ihren Frieden mit dem Kapital schließen konnte.      

In dieser Phase erreichte die Zahl der Industriebeschäftigten ihren historischen Höhepunkt. Sofern man von einer Mitte der Gesellschaft sprechen konnte, wurde sie von den Facharbeitern geprägt. Dazu gehörte auch das hohe Ansehen der dualen Berufsausbildung im Bildungssystem. Der Anteil der höheren Bildungsabschlüsse stieg zwar ab Mitte der 1960er Jahre an, aber er war noch nicht sozial maßgebend. In der deutschen Gesellschaft dieser Jahre war nicht der „Aufstieg“ in höhere Bildungs- und Berufskarrieren das Maß aller Dinge, sondern eine Lebensleistung als Facharbeiter oder Fachangestellter galt schon als wertvoll und würdig. An den Hochschulen spielten die wissenschaftlich-praktischen Fächer eine starke Rolle. In dieser Zeit wuchs auch eine Nachfolgegeneration heran, die noch bis in die 1990er und 2000er Jahre hinein die Exporterfolge des Automobilbaus, des Maschinenbaus oder der Chemieindustrie sicherte.  

Man könnte einwenden, dass in diese Phase doch schon die „68er“ auftauchen und in Politik und Kultur mancherlei „Revolutionen“ ausgerufen wurden. Aber ihr Einfluss in Wirtschaft und Staat war gering. Auch die Massenmedien spielten noch nicht die Rolle einer 4. Gewalt von eigenen Gnaden. Angesichts von Bedrohungen erwies sich die Republik als wehrhaft und klug. Kernenergie und Wehrdienst wurden von starken Mehrheiten gestützt. Dem Druck des RAF-Terrors wurde nicht nachgegeben. Auch der NATO-Nachrüstungsbeschluss wurde von einer standhaften Bevölkerungsmehrheit getragen. Es ist also nicht die völlige Abwesenheit von Krisen, die diese ersten 30 Jahre der Bundesrepublik auszeichnet, sondern die Fähigkeit zur wehrhaften Reaktion und auch zur Anpassung an Veränderungen.  

Das 2. Kapitel: Eine postindustrielle und postmoderne Parallelwelt bildet sich

Wenn man eine zweite Phase der Entwicklung Deutschlands wiederum mit 30 Jahren ansetzt, würde diese vom Ende der 1970er Jahre bis zum Ende der 2000er Jahre reichen. In dieser Zeit fand tatsächlich ein erheblicher Wandel statt. Neben der Welt, die noch fortbestand und sich – nun langsamer – weiterentwickelte, bildete sich ein Sektor heraus, der durch seine Größe und Stellung eine eigene Welt mit eigener Legitimation bilden konnte. Dabei spielten drei Bereiche, die zunehmend miteinander verknüpft waren, eine Schlüsselrolle: Erstens die Dienstleistungen, die stark wuchsen, wobei die gehobenen, mit der Beratung und Leitung von Menschen befassten Tätigkeiten eine Schlüsselrolle spielten. Zweitens die Wissenschaft und, damit verbunden, die höheren Bildungsgänge. Deren Anteil an einem Bildungsjahrgang überschritt In Deutschland die 50 Prozent-Marke und nähert sich heute den 60 Prozent. Bei diesem Wissenschafts-Wachstum dominierten nicht die anwendungsbezogenen, technisch-harten Fächer, sondern die theoretischen, kommunikativ-weichen Fächer. Drittens die Kultur, womit ein sehr weitläufiger und diffus schillernder Bereich besetzt wurde. Die neue Konjunktur des Kulturellen beruhte nicht auf einer ganz neuen Kunstepoche, sondern auf einer stärkeren Betonung von Stil und Lebensstil. 

Neben die Aufmerksamkeit für die Effizienz der Herstellung und den Gebrauchswert von Gütern trat nun stärker die Aufmerksamkeit für die Schönheit, Erhabenheit oder Frivolität eines Gegenstandes, eines Ortes, einer Situation. Das wurde nicht nur in der Zunahme von Theatern, Konzerthäusern und Museen sichtbar, sondern auch im Straßenbild in Schaufenstern, in Fassaden, in Märkten und Cafes. Das war durchaus ein Gewinn. Manche vorschnelle, platte „Modernisierung“ wurde revidiert und aufgebrochen. Man denke nur an die Rehabilitierung des baulichen Erbes in Stadt und Land. Und diese Rehabilitierung war Teil einer Verfeinerung und Differenzierung unterschiedlicher Lebensformen. Das war eine Bereicherung der modernen Zivilisation, und daran hatten auch die wachsenden Bereiche der Dienstleistungen und der Wissenschaft ihren Anteil. So wehte in dieser zweiten Phase der Geschichte durchaus ein gewisser Zauber und eine Leichtigkeit durchs Land, zumindest in den 1980er Jahren und dem Beginn der 1990er Jahre.   

Selbstabschließung in einer eigenen Welt 

Allerdings gab es von Anfang an einen Konstruktionsfehler dieser Leichtigkeit. Sie wurde von einem bestimmten sozialen Sektor, der in dieser Zeit rasch wuchs, besetzt und als Gegenwelt zur industriellen Welt verstanden. Sie wurde deshalb auch mit einer Abwertung der ersten Phase der Bundesrepublik verbunden. Das war keineswegs gerecht und notwendig, denn die industrielle Welt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war nicht eine totalitäre Gleichschritt-Welt (siehe Orwells „1984“), sondern hatte längst ihre Spielräume, ihre Lockerungen, ihren „Swing“ hervorgebracht. Diese Entwicklungslinie der modernen Zivilisation hätte man also fortsetzen können. Auch in Deutschland.

Aber ein zunehmender Teil der Bevölkerung kannte die Industrie nur noch vom Hörensagen und brachte auch kein größeres Interesse für diese Welt auf. Das Wachstum des industriefernen Sektors hatte jene kritische Schwelle überschritten, jenseits der es möglich wird, sich in einer Binnenwelt weitgehend abzuschließen. Dazu trug auch die zunehmende Digitalisierung bei. Gewiss kann die Digitalisierung hilfreich sein, wenn sie in bestehende Arbeitsprozesse eingefügt wird. Aber wenn es eine Tendenz zur Selbstabschließung gibt, kann die Digitalisierung auch eine geschlossene Binnenwelt suggerieren. Genau das geschah, als im Namen der Digitalisierung eine ganz neue Industriewelt (Industrie 2.0, 3.0, 4.0…) oder eine ganz eigene „erweiterte Realität“ („augmented Reality“) ausgerufen wurde. 

Die Tendenz zur Selbstabschließung ist nicht von der Digitalisierung erfunden worden, sondern schon in den 1980er Jahren. Hier, am Beginn der zweiten Entwicklungsphase der Bundesrepublik wurde der Beginn einer neuen „postindustriellen“ und „postmodernen“ Ära verkündet. In der Politik wurde von einer „Neuen Mitte“ gesprochen, von „New Labour“ oder auch von einer „Neuen Urbanität“. Nicht mehr der Facharbeiter sollte die Mitte sein, sondern eine gehobene Mittelklasse, besserwissend, besserverdienend und in den großen Städten bestens ausgestattet mit Sozial-, Bildungs- und Kultur-Einrichtungen. Sie verstand sich immer mehr als tonangebend für das ganze Land – oder sie wähnte sich als „Weltbürger“ in ganz anderen Sphären. Man blickte wie gebannt auf die „Weltstädte“ und glaubte, dass sie bald die territorial verfassten Nationalstaaten zweitrangig machen würden. 

Die Parallelwelt treibt ganze Länder in eine Schieflage 

Dass die Bereiche der Dienstleistungen, der Wissenschaft und der Kultur in vielen modernen Ländern schneller wuchsen als die Industrie, war schon in den 1960er und 1970er Jahren sichtbar geworden. Aber zunächst gingen Beobachter ganz unterschiedlicher Couleur (wie Jean Fourastie, Daniel Bell oder Helmut Schelsky) noch davon aus, dass dies Wachstum nur vorstellbar war, wenn es eine hohe industrielle Produktivität gab. Diese Proportionalität war das Band, das die Ausdehnung von Dienstleistungen, Wissenschaft und Kultur noch mit der Entwicklung der Industrie verkoppelte. Doch dies Band wurde im Laufe der zweiten Phase immer schwächer und zerriss schließlich in immer mehr Ländern. Eine Entkopplung fand statt. Die Wortbildung mit „post“ zeugt davon. Und diese Entkopplung wurde zu einer folgenreichen Realität. 

In vielen Ländern wies die volkswirtschaftliche Gesamtbilanz immer kleinere Produktivitäts-Fortschritte auf. Hier zeigte sich, dass der Sektor für sich genommen auf schwachen Füßen stand und die industriellen Überschüsse nicht mehr für eine Querfinanzierung reichten. So wurde die Schuldenlast wieder größer. Die Schuldenquote (das Verhältnis von Schuldenwachstum und Produktivitätswachstum), die in der ersten Phase kontinuierlich gesenkt worden war, stieg in der zweiten Phase wieder an. Zu Beginn der 2000er kam es zu einer heftigen Krise der Digital-Ökonomie, weil sie ihr hochfliegendes Produktivitäts-Versprechen nicht halten konnte. 2009 kam dann in verschiedenen Ländern eine große Schuldenkrise. Spätestens an diesem Punkt war nicht mehr zu übersehen, dass „der Westen“ – mit den USA als Führungsmacht – etwas Wesentliches verloren hatten. Er war nicht mehr der der Ort, der früher durch die Kraft seiner Industrie und die Ausstrahlung seiner Zivilisation ein so faszinierendes Vorbild gewesen war.   

In Deutschland waren Politik und Öffentlichkeit zu Beginn der 2000er Jahre noch in der Lage, die Bedrohung des Industriestandortes Deutschland ernst zu nehmen und sich auf die „Agenda 2010“ zu einigen. Das zeigte, dass hierzulande die industrielle Moderne noch eine recht starke Position hatte. Auch in den USA wäre denkbar gewesen, dass es an diesem Punkt zu einer Rückbesinnung auf alte Stärken gekommen wäre.  

Aber so ist es nicht gekommen. Die Zivilisationskrise entwickelte sich weiter. Bestand sie in der Phase zwischen Ende der 1970er Jahre und Ende der 2000er Jahre in der Abkopplung und Ausdehnung einer Parallelwelt, so wurde diese Parallelwelt in der folgenden Phase dominant und schlug in vielen Ländern in zerstörerische Angriffe auf elementare Errungenschaften der Moderne um. Die Deindustrialisierung des Westens radikalisierte sich. So auch in Deutschland, mit Verspätung, aber dann mit besonderer Heftigkeit. Damit sind wir bei den Zuständen, die in diesem Beitrag eingangs kurz beschrieben wurden. Und wir sind bei der Frage, wie eine Phase beschaffen sein könnte, in der dies Land aus seiner so tief eingefressenen Krise herausfindet.   

Der unersetzliche Maßstab des Geldes

Die Staatsschulden erreichen Weltkriegs-Dimensionen und eine Wende ist nicht in Sicht. Es regiert der Glaube, das Land könne außerhalb jeder Bilanzpflicht einfach weiterleben und überall hehre Ziele verkünden.  

Der unersetzliche Maßstab des Geldes

15. Februar 2024

Die kritische Schuldendiskussion, die in Deutschland im Anschluss an das BVerfG-Urteil vom 15.11.2023 kurz aufflammte, ist schon wieder zu Ende. Eine reelle Auseinandersetzung mit der rasanten Schuldenentwicklung wäre ja bald an den Punkt gekommen, wo die teuren und selbstzerstörerischen „großen Rettungen“ – Klima, Migration, Ukraine – in Frage gestellt worden wären. Es ist diese Rettungspolitik, die die Geldausgaben des Staates immer weiter steigert und die auch die Wertschöpfung des Landes schwer belastet. Doch die Frage, ob das Ziel einer „große Transformation“ dieses Landes noch haltbar ist, ist weiterhin tabu. Die Generaldebatte zum Bundeshaushalt 2024 am 30. Januar zeigte, dass die Regierung die noch bestehenden Verschuldungsgrenzen (die sogenannte „Schuldenbremse“) durchlöchern will. Und die Kritik der CDU/CSU-Opposition stand insofern auf tönernen Füßen, als sie das ruinöse Transformations-Ziel gar nicht in Frage stellte. 

So hatte die Debatte in großen Teilen etwas Gespenstisches. Als Haushaltsdebatte hätte sie sich ja um Bilanzen drehen müssen. Aber das geschah nicht. Man nimmt das immer größere Missverhältnis zwischen den Staatsausgaben und der Wertschöpfung im Lande gar nicht ernst, sondern dreht nur an der Interpretation der Tatsachen. Man fasst das Missverhältnis in neue Worte, und – oh Wunder – die roten Zahlen verwandeln sich in eine Brücke in die Zukunft. So erklärte der Finanzminister Lindner (FDP): „Diese Koalition hat einen Gestaltungsehrgeiz. Ich spreche daher nicht von einem Sparhaushalt, sondern von einem Gestaltungshaushalt.“. Der Finanzminister erklärt also nicht, aus welcher zusätzlichen Wertschöpfung die zusätzlichen Schulden bedient und abgetragen werden sollen, sondern er bietet stattdessen ein Wort an: „Gestaltung“. Ein Wort! Es klingt bedeutsam, ist aber völlig leer: Auf die Knappheiten dieser Welt ist „Gestaltung“ gar keine Antwort. Sie ist nur ein gewichtig tönendes Gerede – so wie es die Rede von den „Zukunftsinvestitionen“ ist.

Hier werden nicht nur wichtige Grundsätze einer guten Finanzverwaltung verletzt, sondern hier findet eine fundamentale Veränderung der Sphäre der Politik statt: Geld-Verhältnisse werden durch Wort-Konstrukte ersetzt. So verliert die Sphäre der Politik ihre Bindungen an die Realität. Ihre Entscheidungen sind so einer Messung an belegbaren und berechenbaren Wirkungen entzogen. Die Politik bewegt sich im spekulativen Bereich von Ängsten und Hoffnungen. Die politischen Akteure entledigen sich so jeglicher Erfolgskontrolle und Verantwortlichkeit. 

Das muss man sich vor Augen führen, wenn in diesen Tagen unaufhörlich „der Schutz der Demokratie“ beschworen wird – beschworen von Leuten, die den Maßstab demokratischer Legitimation einfach umdefiniert haben. Zur Erinnerung: Das BVerfG-Urteil hatte Parlament und Regierung in die Pflicht genommen, auch in Notlagen die „Geeignetheit“ von zusätzlichen Schulden nachzuweisen. Doch nun wird so getan, als gehöre diese Nachweis-Pflicht nicht zur Rechtslage im Lande. Als wäre sie nur irgendein Redebeitrag.  

Über das Geldwesen (I) 

Umso wichtiger ist es, positiv die Bedeutung des Geldwesens als unersetzlicher Maßstab für die Lage und die Möglichkeit eines gegebenen Landes herauszuarbeiten. Das Geldwesen ist eigentlich ein recht präziser Indikator, ob die Verhältnismäßigkeit im Einsatz der Mittel von Staat und Wirtschaft gewahrt ist. So kann auch kritisch geprüft werden, ob ein Land nicht schon längere Zeit über seine Verhältnisse lebt. Diese Prüfung ist in unserer Zeit dringlicher denn je. In der Politik ist es inzwischen gängige Münze geworden, bei allen möglichen Problemen zwei- oder dreistellige Milliarden-Beträge in Aussicht zu stellen. Zur Erinnerung: Eine Milliarde sind 1000 Millionen, zweihundert Milliarden sind 200.000 Millionen. Welche Anstrengungen, Mühen, Entbehrungen sind nötig, um solche Summen zu erwirtschaften! Wie lange dauert es, bis solche Kapitale gebildet sind – eine Generation reicht dazu nicht. Doch in unserer Zeit genügen schon einzelne Ereignisse – Wetterextreme, Kriege, Migrationsbewegungen – um Ausgaben zu veranlassen, die eine Volkswirtschaft und ein ganzes Land in eine Überschuldung und damit in eine Schuld-Knechtschaft drücken. 

Dabei ist eine Präzisierung wichtig: Es geht hier nicht allein um die absolute Höhe der Schulden. Erst wenn diese Höhe ins Verhältnis zu der Produktivität eines Landes gesetzt wird, ist wirklich feststellbar, ob eine Überschuldung vorliegt oder nicht. Eine hohe Verschuldung kann beherrschbar sein, wenn es eine entsprechend starke Entwicklung der Produktivität gibt. Aber die Produktivität muss real sein, also beobachtbar und messbar an der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Es kommt also auf die Schuldenquote an: auf das Verhältnis zwischen Verschuldung und Bruttoinlandsprodukt. Und auf die Entwicklung dieses Verhältnisses.   

Über das Geldwesen (II) 

Ein vielzitierter Satz des österreichischen Ökonomen Joseph A. Schumpeter lautet:  

„Im Geldwesen eines Volkes spiegelt sich alles, was dieses Volk will, tut, erleidet, ist; und zugleich geht vom Geldwesen eines Volkes ein wesentlicher Einfluss auf sein Wirken und auf sein Schicksal überhaupt aus.“

Aus diesem Zitat spricht ein guter Ernst in Bezug auf das Geldwesen. Schumpeter geht davon aus, dass das Geldwesen die Knappheiten dieser Welt und auch die Anstrengungen der Menschen abbilden kann.  Es ist vom „Wirken“ der Menschen und auch von den objektiven Schwierigkeiten dieses Wirkens die Rede, also von einer Ebene, in der rein sprachliche Geltungsansprüche – pessimistische oder optimistische „Erzählungen“ – wenig ausrichten können. Sie können allenfalls (vorübergehend) beeindrucken.

Schumpeters Betonung des Einflusses, den das Geldwesen hat, könnte man eventuell als Einladung zu einer Ankurbelung der Wirtschaft durch „deficit spending“ verstehen, wie sie John Maynard Keynes vertrat. Aber das ist keineswegs der Fall. Das zeigt Schumpeters Sicht der Weltwirtschaftskrise 1929. Als Erklärung für diese Krise sah er übertriebene Gewinnerwartungen während der zweiten industriellen Revolution in den 1920er Jahren. Diese Gewinnerwartungen hätten die allgemeine Risikobereitschaft so gesteigert, dass viele Investments auf großen Schulden basierten. Schumpeter weist also auf die Bedeutung einer realistischen Einschätzung von technologischen Entwicklungen hin. Im Geldwesen spiegelt sich mehr als nur eine „Geldpolitik“, wie ein verbreiteter Management-Glaube vermutet. Um zu beurteilen, ob eine Verschuldung tragbar ist oder in eine Schuldknechtschaft führt, muss man die Entwicklung der Produktivität der Betriebe und der Tragfähigkeit der Infrastrukturen berücksichtigen. Diese ist nicht geldpolitisch „machbar“, sondern hat ihre eigenen geschichtlichen Rhythmen. Ein Land braucht daher eine realistische Einschätzung der in einer Zeitperiode möglichen Entwicklung. Man muss dem Geldwesen, das gerade in seinen nüchtern-knappen Zahlenverhältnissen mehr ist als eine Sprache, einen eigenen hohen Rang mit starken institutionellen Sicherungen einräumen. Und man kann grundlegende technische, kulturelle, soziale Entwicklungen entdecken, wenn man sie im Licht der Schuldengeschichte eines Landes betrachtet.      

Die USA im Lichte ihrer Schuldengeschichte 

Die folgende Graphik stellt die Entwicklung der Schuldenquote (Staatsschulden in Relation zum Bruttoinlandsprodukt) in den USA seit dem 2. Weltkrieg dar:

Die Graphik zeigt zunächst (auf der linken Seite) eine steil ansteigende Schuldenquote, die gegen Ende der 1940er Jahre ihren Höhepunkt erreicht – also am Ende des 2. Weltkriegs (einschließlich des pazifischen Kriegsschauplatzes). Diese hohe Verschuldungsquote wird dann relativ rasch wieder abgebaut und beträgt Ende der 1960erJahre nur ein Drittel des Spitzenwerts. Das ist ein bemerkenswertes historisches Beispiel von Schuldenabbau durch Produktivitätswachstum. Doch gegen Ende der 1970er Jahre beginnt ein neuer Anstieg der Schuldenquote, der Mitte der 1990er Jahre ein beträchtliches Niveau erreicht und auf dieser Stufe bis Ende der 2000er Jahre verharrt. Und dann kommt es nicht wieder zu einem Rückgang, sondern zu einem zweiten Anstieg, der Anfang der 2020er einen Höhepunkt erreicht, der sogar über der Schuldenquote der USA am Ende des 2. Weltkriegs liegt. Und das ist nicht nur ein kurzer Höhepunkt, sondern der Beginn einer neuen Stufe. Zunächst deutet sich zwar ein gewisses Sinken der Schuldenquote an (ganz rechts auf der Graphik), aber inzwischen steigt sie wieder. Eine Prognose sieht für das Jahr 2028 einen Anstieg auf 137,50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts voraus. Das bedeutet, dass die Schuldenquote der USA jetzt dauerhaft über der Schuldenquote nach dem 2. Weltkrieg liegt.  

Eine historisch neue, dramatische Situation 

Wir haben also im Führungsland des globalen Westens eine Schuldenquote von historischen Ausmaßen. Aber es gibt keinen großen Krieg. Auch die Rüstungsausgaben der USA sind nicht der Haupttreiber der zunehmenden Verschuldung. Und die Verschuldungsquote kann offenbar nicht mehr durch Produktivitätsgewinne zurückgeführt werden, wie es in den 30 Jahren nach dem 2. Weltkrieg geschah. Vielmehr gibt es einen stufenweisen Anstieg der Verschuldung, bei dem kein Ende oder gar Rückbau abzusehen ist. Das ist zwar Anlass für mahnende Worte, aber in der nationalen und internationalen Wahrnehmung erscheint er offenbar nicht als so bedrohlich, dass er zu einer Zahlungskrise oder einem drastischen Politikwechsel führt. Was ist da geschehen? Welcher Wandel spiegelt sich nun im Geldwesen? Oder hat das Geldwesen vielleicht überhaupt an Bedeutung verloren? Ist das Geldwesen durch ein ganz anderes Medium der Stabilisierung ersetzt worden? Aber hat dieser Ersatz nicht eventuell fundamentale eigene Schwächen und ist nur ein Scheinersatz, der nicht hält, was er verspricht?  

Die Schuldengeschichte bildet tiefgreifende Veränderungen ab 

Die hier gestellten Fragen gehen weiter als die Frage nach der „richtigen Geldpolitik“. Sie lassen sich auch nicht damit beantworten, dass ein paar „Reiche und Mächtige“ die Finanzen dieser Welt zu ihrem Vorteil manipulieren. Es ist wahr, dass das heutige Geldwesen sich stark von dem Geldwesen, wie es Schumpeter sah, unterscheidet. Aber wer mag im Ernst glauben, dass der harte Maßstab des Geldes ersetzt wird durch eine personale Herrschaft über die ganze Welt? Wann und wo hätte diese kolossale Machtergreifung stattgefunden? Viel plausibler ist, dass die historisch neue Schuldenquote und der dabei herrschende Leichtsinn mit tiefergehenden, strukturellen Verschiebungen in Verbindung steht – mit gesellschaftlichen Verschiebungen, mit materiell-technischen Verschiebungen, mit kulturellen Verschiebungen.     

Nur so wird auch die hier abgebildete Schuldengeschichte der USA verständlich. Sie zeigt einen längeren Prozess mit verschiedenen Stufen und Perioden. Jede Stufe und Periode ist mit einer bestimmten gesellschaftlichen, materiell-technischen und kulturellen Realität verbunden. Und das gilt auch für viele andere Länder der westlichen Welt. Es gibt überall ein ähnliches Grundmuster, aber es gibt auch erhebliche Unterschiede bei der Höhe der Verschuldungs-Stufen und bei der Dauer der Perioden. So wies Deutschland lange Zeit eine relativ niedrige Schuldenquote auf, die aber im Laufe der vergangenen 10 Jahre in einen immer schnelleren Schuldenzuwachs umgeschlagen ist. Parteipolitisch ist dieser Zuwachs nicht zuzurechnen, denn sowohl CDU/CSU noch SPD haben daran mitgewirkt. Und sie haben sich – im Verhältnis zu dem, was sie in den ersten dreißig Jahren Bundesrepublik waren – fundamental gewandelt. 

Ein stabiles Geldwesen ist ein Schlüssel der Veränderung 

Es ist wichtig, diese Verschiebungen zu begreifen. Das bedeutet nicht irgendein leeres und letztlich hilfloses Wissen. Ganz im Gegenteil: Wenn wir die heutige Überschuldung tiefer verstehen, können wir Möglichkeiten und Hebel einer Änderung entdecken. Gegenwärtig erleben wir, wie diejenigen, die die rasante Verschlechterung der Schuldenquote zu verantworten haben, jetzt behaupten, sie allein ständen für „die Zukunft“ dieses Landes. Oder gar für „die Demokratie“. Umso wichtiger ist es, nicht nur das Zerstörerische und Bösartige dieses Alleinvertretungs-Anspruchs zu zeigen, sondern auch seine strukturelle Schwäche. Denn was haben diese Leute als Ersatz für ein unstabil gewordenes Geldwesen zu bieten? Erzählungen, Zeichen-Setzen, Kommunikation. Damit ist ein beträchtlicher Sektor im Lande beschäftigt, aber es ist letztlich doch nur ein Wortwesen. 

(Erschienen am 26.2.204 im Rahmen meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)

Herr Kafsack und die Wahrheit der Traktoren  

Zu Beginn des neuen Jahres versuchen die Regierenden eine fundamentale Tatsachen-Verdrehung durchzusetzen. Der Existenzkampf der Bauern wird als Kampf für Privilegien diffamiert.    

Herr Kafsack und die Wahrheit der Traktoren  

14. Januar 2024

Was haben die Regierenden angesichts wachsender Unzufriedenheit im Lande zu bieten? Nichts Handfestes. Nur eine dreiste Umdeutung der Dinge. Sie tun so, als seien sie ganz neuen Ansprüchen aus der Gesellschaft ausgesetzt und müssten diese im Namen einer verantwortungsvollen „Sparsamkeit“ ablehnen. In der Auseinandersetzung mit den Bauern tun sie so, als würden die Bauern auf einmal zusätzliche Subventionen fordern. Der wirkliche Vorgang ist genau umgekehrt: Es sind die Regierenden, die beschlossen haben, die Verbilligung des Agrardiesels, die schon lange besteht, wegfallen zu lassen. Und das geschieht vor dem Hintergrund erhöhter Energiepreise, die wiederum durch Regierungsentscheidungen herbeigeführt wurden. So hat man gerade wieder die CO2-Emissions-Abgaben erhöht und damit den Diesel noch teurer gemacht. Und die Bauern brauchen den Agrardiesel als Arbeitsmittel und nicht, weil sie aus Jux und Tollerei herumfahren. Sie sind schon extrem sparsam, und müssen sich von keiner Regierung dazu anhalten lassen. Sie können auch nicht auf Elektro-Traktoren umsteigen – es gibt sie nicht. 

Und die Verdrehung von Angriff und Abwehr geht noch weiter: Als die Regierenden daran gingen, den Menschen ihre bisherigen Automobile und Heizungen zu nehmen, sprach man davon, diese Eingriffe durch Hilfsgelder abzufedern. Man gab also zu, dass es ein Einschnitt durch die Regierung war. Aber das Hilfsgelder-Versprechen beruhte auf einem Betrug: Man hatte die Gelder gar nicht in einem ordnungsgemäßen Staatshaushalt zur Verfügung gestellt. Der Betrug ist aufgeflogen. Entschließt man sich jetzt, das Naheliegende zu tun, und die Einschnitte zurücknehmen und damit die Hilfsgelder überflüssig zu machen? Oh nein, man schickt sich an, die Einschnitte ohne jede Hilfe eiskalt durchzudrücken.  

Dagegen haben sich die Bauern erhoben. Sie führen keinen Angriffskampf, sondern einen Abwehrkampf um ihre Arbeits- und Lebensbedingungen. Sie vertreten damit ein Anliegen, das auch in anderen Wirtschaftszweigen von anderen Teilen der Bevölkerung aufgegriffen werden kann. Ob das Jahr 2024 einen Sturz der Regierung sehen wird, ist ungewiss. Wahrscheinlicher und wichtiger ist, dass ein Teil der deutschen Gesellschaft wehrhafter wird. Und dass neben der Welt, wie sie die Regierung und die selbsternannten „Leitmedien“ darstellen, eine andere, handfestere Welt sichtbar wird.   

Herr Kafsack und die „verwöhnten Bauern“

Am 9.Januar 2024 erschien im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Kommentar unter der Überschrift „Verwöhnte Bauern“. Der Autor, Hendrik Kafsack, schrieb dort von „satten Einkommenssteigerungen“ im Jahr 2023. Und auch folgender Satz war zu lesen: „Zwei Drittel des Einkommens der Bauern entfallen auf Brüsseler Direkthilfen, die sie faktisch ohne Gegenleistungen enthalten.“ Offenbar geht der Autor davon aus, dass die von den Bauern am Markt erzielten Preise die Wahrheit über ihre Leistungen aussagen. Die Arbeit der Bauern wäre also nicht mehr wert als die Erzeugerpreise. Der Rest, so unterstellt der Artikel, wären demnach Geschenke des Staates an die Bauern. Aber von den Erzeugerpreisen können die Bauern und die in der Landwirtschaft beschäftigten Menschen nicht leben. Auch das Kapital der Betriebe kann nicht erhalten werden. Und es gibt eine zweite Seite des Problems: Würde man die Erzeugerpreise so weit erhöhen, wie es ein gerechter Ausgleich erfordern würde, würde eine gigantische Teuerungswelle durchs Land rollen. Die Preise für viele nachgelagerte Produkte und die allgemeinen Kosten des Lebens in Deutschland würde drastisch ansteigen. Die Lage der Landwirtschaft steckt in einem grundlegenden Dilemma. An diesem Punkt kommen nun die staatlichen Hilfszahlungen ins Spiel. Sie sind ein Lastenausgleich. Wenn der FAZ-Autor sich in die Situation der Landwirtschaft einmal richtig hineindenken würde, müsste er sagen, welche Antwort auf das Dilemma er stattdessen zu bieten hat. Wie soll ein elementarer Sektor der Volkswirtschaft, dessen Wertschöpfung durch Naturbedingungen eingeschränkt ist, in eine Volkswirtschaft eingegliedert werden, ohne einen Lastenausgleich vorzunehmen? Denn es geht hier um einen Ausgleich für besondere, nicht entlohnte Lasten. Und nicht um Zusatz-Geschenke und Privilegien.  

Aber Herr Kafsack will von solchen ungleichen Grundbedingungen des Wirtschaftens nichts hören. Das Land seiner Ökonomie ist eine gleichförmig große Fläche, die für alle Sektoren der Wirtschaft gleich einladend ist – sodass jeder einfach nur loslegen muss und seines Glückes Schmied ist. Und weil der Journalist, der als Korrespondent in Brüssel sitzt, sich die Welt so schön eingerichtet hat, darf er jetzt ganz, ganz böse auf die Bauern sein: „Aber wenn die Bauern dann auf ein einziges ihrer Privilegien verzichten sollen, um ihren kleinen Beitrag zu einem verfassungsmäßigen Haushalt zu leisten, rollen die Trecker auf die Autobahnen. Das ist kein nachvollziehbarer Protest. Das ist eine Frechheit.“

Damit endete dieser Kommentar.

Herr Kafsack und die harte Arbeit

Am 11.Januar meldete sich derselbe Autor mit einem weiteren Kommentar zu Wort. Im ersten Teil fanden sich die Sätze: „Wer sonst arbeitet 60 Stunden in der Woche, vom frühen Morgen an? Viele würden von nachtschlafender Zeit sprechen. Und das für einen Stundenlohn, der trotz aller Hilfen kaum über dem Mindestlohnniveau liegt.“ Nanu? Derselbe Autor hatte doch gerade noch einen Kommentar unter der Überschrift „verwöhnte Bauern“ geschrieben und darin den Protest der Bauern als „Frechheit“ bezeichnet. Nun zeigte er sich flexibel und schrieb zur Lage der Bauern das glatte Gegenteil – ohne freilich seinen ersten Kommentar ausdrücklich zurückzunehmen. Immerhin kann man aus dieser Wende ersehen, dass die These von den „verwöhnten Bauern“ in der öffentlichen Auseinandersetzung schwer angeschlagen ist. Herr Kafsack, der ein besonders vorlauter Vertreter dieser These war, musste nun zugeben, dass der Stundenlohn im Agrarsektor selbst mit den staatlichen Hilfen „kaum über dem Mindestlohnniveau liegt“. Das nehmen wir hier einmal zu Protokoll. 

Aber wer glaubt, dass sich der Autor nun auf die Seite der hart arbeitenden Menschen stellte, sieht sich getäuscht. Er stellte sich auf den Standpunkt „des Steuerzahlers“ – und dieser Steuerzahler fragt angeblich nicht nach der Schwere der Arbeit und der Bedeutung des Agrarsektors, sondern nach der „Größe“ der Subventionssumme: „Aus der Sicht der Steuerzahler müssen die Bauern sich aber auch die Frage gefallen lassen, warum Europäische Union und Bundesregierung ihnen eigentlich – seit Jahrzehnten – mit großen Summen helfen.“ An anderer Stelle hieß es im Kommentar: „Harte Arbeit allein ist noch kein Grund für die große Staatshilfe an die Bauern.“ Herr Kafsack fand für diese Staatshilfe die Formulierung, dass „der Staat die Hälfte der Einkommen der Bauern zahlt“. Dadurch erweckte unser Sprachkünstler den Eindruck, die Hilfszahlungen wären personenbezogen – und nicht arbeits- und betriebsbezogen. Sie seien eine Art Sozialhilfe zum Einkommen.  

Herr Kafsack und das Höfesterben 

Solange die Unterstützung als persönliche Einkommenszuwendung angesehen wird, kann die Möglichkeit, dass für einen ganzen Wirtschaftssektor eine Elementarzuwendung gezahlt werden muss, um die schwierigen Grundbedingungen dieses Sektors auszugleichen, gar nicht ernsthaft erwogen werden. Aber Herr Kafsack will eine Ausnahme gelten lassen: Wenn und soweit durch die Landwirtschaft „öffentliche Güter“ bereitgestellt werden, wäre eine staatliche Hilfe legitim. Der Autor – ich komme darauf noch zurück – denkt dabei an „die Natur“: Sofern Bauern Beiträge zu Umweltschutz, Klimaschutz und Tierwohl erbringen, sollen sie Ausgleichszahlungen erhalten. Die „Lebensmittelsicherheit“ zählt nur im extremen Notfall einer akuten Hungersnot zu den öffentlichen Gütern. Deshalb ist für Herrn Kafsack selbst ein größeres Höfesterben noch kein Grund für staatliche Ausgleichszahlungen. In seinem Kommentar heißt es: 

„Wenn wegen einer Kürzung der Subventionen Höfe, zumal meist kleine, `sterben´, wird dies eine sichere Versorgung nicht gefährden. Die folgende Knappheit dürfte sogar dazu führen, dass die Lebensmittelpreise auf das von den Landwirten lange geforderte `angemessene Niveau´ steigen. Zudem gibt es den Weltmarkt.“

Demnach kann und soll der Hauptteil der Agrarhilfen des Staates ersatzlos gestrichen werden. Auf dem Weg in die Landwirtschaft der Zukunft ist ein größeres Höfesterben ausdrücklich vorgesehen. Dabei setzt der Autor „sterben“ in Anführungszeichen. Das Sterben ist also nicht so schlimm, denn die folgende Knappheit „dürfte dazu führen“, dass die Preise für Lebensmittel steigen. Ist das nicht im Sinne der Bauern? Aber deren Höfe sind dann längst tot, und eine Auferstehung ist nach aller agrargeschichtlichen, wirtschaftsgeschichtlichen und regionalgeschichtlichen Kenntnis sehr unwahrscheinlich. Wenn bäuerliche Existenzen vernichtet werden, gehen lange gewachsene Strukturen – Sachkapital, Kulturlandschaften, menschliches Wissen und Arbeitsvermögen – verloren. Kein Drücken auf die „Neustart“-Taste kann sie zurückholen. Es ist so wie der Boden in bergigen Regionen, der auf Nimmer-Wiedersehen weggeschwemmt wird, wenn er nicht durch Vegetation und ständige Bewirtschaftung festgehalten wird. 

Herr Kafsack und seine „Agraragenda“

Der hier zitierte Kommentar trägt die Überschrift „Zeit für eine positive Agraragenda“. Herr Kafsack will also „positiv“ sein. Aber die Agenda ist eigentlich eine Auslese-Agenda, die nur noch wenige Sachverhalte mit Hilfsgeldern unterstützen will und die Betriebe bei allen anderen Seiten der Produktion sich selbst überlässt. Als unterstützenswerter Sachverhalt bleibt, so der Autor, „der Beitrag, den Landwirte zum Umweltschutz, Klimaschutz und Tierwohl leisten“. Also geht es um ein reines Natur-Erhaltungs-Programm. Die wertschöpfende Leistung der Lebensmittelproduktion gehört nicht dazu. Die Natur-Erhaltung bedeutet zusätzliche Kosten, die die Erträge pro Arbeitsstunde, pro Bodenfläche und pro Anlagevermögen nicht erhöhen, sondern senken. Sie führen nicht zu einer Entlastung der Landwirtschaft und zu einer hohen Zahl und Diversität an Betrieben, Arbeitsplätzen, Arbeitsformen, Produkten und Qualitätsniveaus. Mit anderen Worten: Die Agenda ist sehr selektiv. Nur wenige Bessergestellte können sie sich leisten. Eine solche „Modernisierung“ ist in Wirklichkeit eine „Bereinigung“ – eine Kahlschlag-Sanierung. 

Es ist in diesen Tagen viel von einer großen Debatte über „grundlegende, zukunftsfähige Lösungen“ für die Landwirtschaft die Rede. Man gaukelt den Bauern und der deutschen Öffentlichkeit vor, es gäbe da ein Agrarmodell, das die bisherigen und die zusätzlichen Kosten ohne größere staatliche Hilfen bezahlen kann. In Wirklichkeit kann das nur in Einzelfällen an bevorzugten Orten gelingen. An solchen Orten setzt man oft darauf, eine Landschaft touristisch zu vermarkten. Die Landwirtschaft wird dann in einen Themenpark verwandelt. Ihre Produktionsfunktion ist nur noch Beiwerk zum „Naturerlebnis“. 

Herr Kafsack treibt die Selektivität aber noch weiter. Er will die gesamte staatliche Unterstützung der Landwirtschaft auf eine Projekt-Unterstützung umstellen. Das bedeutet, dass jegliche dauerhafte Förderung aufgelöst wird. Die Höfe müssen sich von Projekt zu Projekt hangeln. Wie aus diesem Tanz um alle möglichen einzelnen und wechselnden Fördertöpfe eine nachhaltige Landwirtschaft hervorgehen soll, ist das Geheimnis des Autors. Das hindert ihn nicht an einer Grundsatz-Kritik der bestehenden Agrarpolitik: 

„Leider ist die letzte EU-Agrarreform hinter den Notwendigkeiten zurückgeblieben. Ein Großteil der EU-Hilfen ist weiter an die Größe des Hofs gekoppelt. Die Empfänger müssen gewisse Gegenleistungen erbringen, mit umfassenden Umwelt- und Tierwohlauflagen aber hat das nichts zu tun. Stattdessen hätte die EU die kompletten Hilfen für konkrete Projekte im öffentlichen Sinn reservieren sollen. Der Zusammenhang zwischen Hilfe- und Gegenleistung wäre dann klar, weitere Berliner Auflagen unnötig. Solche Vorschläge lagen vor. Die Bauernvertreter haben sie, begleitet von Protesten auf Brüsseler Straßen, verhindert.“

Das ist durchaus ein Lehrstück: Es gibt eine Kritik an der EU-Agrarpolitik, die alles noch radikaler und schlimmer machen will, und die in Wahrheit eine Kritik an den widerspenstigen Bauern ist.   

Im Schlussabschnitt des Kafsack-Kommentars darf der geneigte FAZ-Leser Anteil nehmen an einer wahrhaft verlockenden Zukunftsvision. „Statt zu klagen, wäre Zeit, mitzuarbeiten an einer positiven Agenda einer modernen Landwirtschaft, die gute Gründe für staatliche Hilfe liefert. Einige junge Bauern leben es vor. Dann rollen die Städter mit ihren (E-)Autos vielleicht wieder mit gutem Gefühl aufs Land statt die Trecker in die andere Richtung.“  Der Bauer soll also nicht mehr mit dem Traktor in die Stadt fahren, sondern still auf dem Acker schuften. Oder er soll ganz verschwinden und der reinen Natur das Feld überlassen. Der eigentliche Adressat solcher Visionen ist nicht der Bauer, sondern der Städter – genauer: jene besserwissenden und besserverdienende Milieus, die gerne glauben wollen, dass die Bauern „verwöhnt“ sind, während das eigene wohlausgestattete Dasein in der Stadt „verdient“ ist. Ihnen stellt Herr Kafsack in Aussicht, dass sie bald ganz unbeschwert mit ihren E-Mobilen und einem dichten Netz von hochsubventionierten E-Tankstellen übers Land rollen können.     

Die Wahrheit der Traktoren (I) 

An dieser Stelle wird deutlich, welches Manöver hier stattfindet. Man stellt eine „große Debatte“ in Aussicht, und will sie über angebliche „grundlegende Zukunftsfragen“ der Landwirtschaft führen. Aber damit ist schon vorprogrammiert, dass man sich auf die Suche nach etwas vollkommen Neuem machen soll, und die Gegenwart nicht mehr zählt. Aus der „großen Debatte“ guckt vorne und hinten die schon sattsam bekannte grüne „Agrarwende“ heraus. Demgegenüber hat die Bauernbewegung ein ganz anderes Anliegen, das in manchen Ohren geradezu unanständig klingen muss: Sie wollen der Landwirtschaft, so wie sie jetzt besteht und liefert, Respekt verschaffen. Sie wollen diese Landwirtschaft in Wert setzen. Mit anderen Worten: Sie wollen das Bestehende erhalten und darauf aufbauen. Sie wollen die reale Gegenwart nicht für eine Zukunft hergeben, die nur aus „Projekten“ mit ungewissem Ausgang und ungeprüften Nebenfolgen besteht. Deshalb ist das Ziel „Erhaltung des Agrardiesels“ für die Bauern so wichtig. Das Angebot der Regierung „Wir ziehen die Abschaffung des Agrardiesels durch, und ihr bekommt dafür eine große Debatte“ ist deshalb völlig unannehmbar. Es ist ein schändlicher Betrugsversuch. Eine Unverschämtheit. 

Die Wahrheit der Traktoren (II)

In diesem Text spielt „Herr Kafsack“ eine prominente Rolle. Da ist eine Klarstellung nötig. Es geht nicht darum, hier eine einzelne Person an den Pranger zu stellen. Hendrik Kafsack ist kein Extremist, kein Chef-Ideologe, kein geheimer Strippenzieher. Er ist repräsentativ für einen Teil der Gesellschaft, dem die Lage der Bauern gleichgültig ist und der ihrer Bewegung ablehnend gegenübersteht. Auch in den Medien gibt es vielerlei Bemühungen, die Bauernbewegung in der Öffentlichkeit mit dem Stempel „rückwärtsgewandt“ zu versehen und ihr vorzuwerfen, sich dem zu verweigern, was hierzulande als „die Zukunft“ gilt. Hier sind offenbar soziale Milieus am Werk, die sich einbilden, für das ganze Land und seine Entwicklung sprechen zu können. 

In Deutschland und vielen anderen Ländern findet gegenwärtig nicht nur eine politische Auseinandersetzung statt, sondern auch eine soziale Auseinandersetzung. Menschen machen aufgrund ihrer Stellung in Gesellschaft und Welt unterschiedliche Erfahrungen und beurteilen die Dinge unterschiedlich. Diese Unterschiede werden in unserer Gegenwart schärfer. Es bilden sich nicht nur konträre politische Lager, sondern auch konträre soziale Lager. Der Ton wird rauer. Das muss nicht unbedingt etwas Schlechtes oder Gefährliches bedeuten. Es kann auch zeigen, dass sich nun Dinge heftig bemerkbar machen, die seit langer Zeit keine Berücksichtigung im Lande finden. 

Mit der Bauernbewegung sind nicht nur bestimmte Forderungen laut geworden, sondern auch die Arbeits- und Lebensformen, die mit der Herstellung von materiellen Gütern verbunden sind, und die aus der städtischen Welt weitgehend verdrängt wurden. Nun sind sie wieder zurück in den Städten – und werden im Bewusstsein präsent bleiben. Die Bauern stehen in einem Weltbezug, in dem das gegenständliche Tun eine viel größere Rolle spielt als das bloße Kommunizieren zwischen Menschen. Ihre Aktionswoche hat wirklich diesen Namen verdient: Sie haben eine materielle Leistung mitgebracht und in die Waagschale geworfen. Mit ihren Traktoren haben sie eine ganz ungewohnte Wucht auf die Straße gebracht. Schlagartig wurde erfahrbar, dass es ein Deutschland gibt, das mehr bewegt als Worte und Bilder. 

Die Bauernbewegung hat also die Hegemonie der medialen Welt angetastet. Diese Auseinandersetzung wird weitergehen. Zunächst mag es so scheinen, als wäre die mediale Macht bedeutender als die Traktoren-Macht. Aber es wird sich noch zeigen, wer letztlich am längeren Hebel sitzt.

(Erschienen am 19.1.2024 im Rahmen meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)  

Eine Politik des Dauernotstands führt in den Staatsbankrott

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Staatsverschuldung kann nur durch eine Abkehr von der Politik der endlosen „großen Rettungen“ erfüllt werden.

Eine Politik des Dauernotstands führt in den Staatsbankrott

18. Dezember 2023

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 15.November 2023 hat den Nachtragshaushalt der Bundesregierung für das Jahr 2021 für unvereinbar mit dem Grundgesetz und damit nichtig erklärt. Aber es stellt auch grundlegende Anforderungen einer verfassungsgemäßen Haushaltsführung und damit Grenzen der Staatsverschuldung in Deutschland klar. Dazu gehören die Grenzen, die den Regierenden bei der Berufung auf eine „Notlage“ gezogen sind, wenn sie ein Abweichen von der normalen Haushaltsführung legitimieren wollen. Eigentlich müsste dies Urteil also eine Überprüfung der Politik der „großen Rettungen“ – insbesondere in den Bereichen Klima-Rettung Migranten-Rettung und Ukraine-Rettung – zur Folge haben. Das Urteil wäre eine Chance: Man könnte es zum Anlass nehmen, um im blinden Weiter-So innezuhalten und zu prüfen, ob die mit immensen Ausgab en auf Schuldenbasis verbundene Rettungspolitik noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den Kräften des Landes steht. Die ausufernde Finanzpolitik der Regierenden gibt sehr viel Geld für sehr fragwürdige Ziele aus. Und sie gibt das Geld auch für den Versuch aus, die immensen Kosten der Rettungspolitik etwas zu dämpfen und die den Bürgern auferlegten Opfer dadurch in einem milderen Licht erscheinen zu lassen. So dienen diese Ausgaben dem Zweck, die Politik der „großen Wenden“ fortzusetzen, obwohl das Erreichen ihrer Ziele in eine immer weitere Ferne rückt. Demgegenüber böte das BVerfG-Urteil also die Chance zu einer grundlegenden Kurskorrektur in diesem Land. 

Das wahre Gesicht der „großen Rettungen“ 

Doch erstmal geschieht etwas ganz anderes: Mit den Beschlüssen der Bundesregierung zum Bundeshaushalt 2024 werden nicht die Grundentscheidungen zur Energiewende, Verkehrswende, Heizungswende, Agrarwende, usw. korrigiert. Sie werden nicht mal für die nächsten Jahre zur Überprüfung zurückgestellt. Jede Änderung hier ist ein Tabu. Und obendrein werden nun die Finanzhilfen gestrichen, die die teuren und zerstörerischen Folgen der Wendepolitik etwas mildern und beschönigen sollten. Damit zeigen die „großen Rettungen“ nun ihr wahres Gesicht. Die schlimmen Folgen der Wendepolitik werden mit kalter Rücksichtslosigkeit serviert. Die Belastungen werden ganz ungeschminkt vom Staat auf die Bürger abgewälzt – auf die Privathaushalte, auf die Unternehmen, auf die öffentlichen Infrastrukturen. Die Energie wird durch eine erhöhte Abgabe auf CO2-Emissionen noch weiter verteuert. Die Auslauf-Beschlüsse für Verbrenner-Motoren und Verbrenner-Heizungen bleiben bestehen. Aber die „alternativen Lösungen“ (E-Mobile, Wärmepumpen) werden für die breite Mehrheit noch unerschwinglicher als sie eh schon sind – weil Kaufprämien gestrichen wurden. Schamlos werden die Normen und Kosten für das Bauen, für den Betrieb einer Industrie, eines Handwerks, einer Landwirtschaft und auch für den Betrieb von Infrastrukturen für Energie, Wasser, Müll erhöht. Dies geschieht für Ziele wie „heiler Umwelt“ oder „sozialem Zusammenhalt“, die bekanntlich unendliche Ziele sind, und bei denen zugleich jeder Abstrich ein Tabu ist. Diese Kombination von Unendlichkeit und Tabu herrscht auch bei der Massenmigration und beim Ukraine-Krieg.  

Ein perfides Politik-Spiel 

Und nun hat, am Ende des Jahres 2023, ein perfides Politik-Spiel begonnen. Man denkt nicht im Traum daran, die großen Grundentscheidungen anzutasten, sondern stellt die Bürger vor eine erpresserische Wahl: „Wollt ihr die großen Wenden mit Hilfsgeldern oder wollt ihr sie ohne Hilfsgelder?“ So sollen die Wenden selbst unantastbar bleiben. Und die jetzigen Kürzungen sind nur der erste Teil dieses perfiden Spiels. Man wartet auf den Aufschrei der Bürger, um dann zu sagen: Tja, wenn das so ist, dann müssen wir doch viel mehr Schulden aufnehmen und dazu müssen wir halt irgendeine Formel von „außerordentlichem Notstand“ erfinden, um die höhere Verschuldung zu legitimieren. Dass es hier gar nicht um einen zeitlich begrenzbaren Ausnahmezustand geht, sondern um einen jahrzehntelangen Dauerzustand, muss bei diesem Politik-Spiel verschwiegen werden. Ebenso gehört zu den Spielregeln, dass niemand die Frage stellen darf, aus welchen Mitteln die Schulden, die sich so immer höher auftürmen, jemals an die Gläubiger zurückgezahlt werden können.         

Das Anliegen des Bundesverfassungsgerichts-Urteils 

Umso wichtiger ist es, noch einmal auf das BVerfG-Urteil zurückzukommen. Das Urteil stellt fest, dass die Übertragung von Kreditermächtigungen zur Corona-Bekämpfung auf den sogenannten „Klimatransformationsfonds“ verfassungswidrig war. Das BVerfG erklärt diese Übertragung auch materiell-rückwirkend für nichtig – so fehlten der Bundesregierung auf einmal 60 Milliarden Euro. Das Urteil ist sehr richtig und wichtig. Indem die Übertragung von Geldmitteln von einem Notstand auf einen anderen Notstand zum Verfassungsbruch erklärt wird, wird ein Einfallstor für eine wuchernde Schuldenpolitik geschlossen. Jede neue Sonder-Verschuldung, die sich auf einen Notstand beruft, muss das Neue dieses Notstands belegen. Eine vage Not-Verkettung nach dem Motto „Die Welt ist aus den Fugen“, wie sie in den Massenmedien gängige Münze ist, ist für einen demokratischen Verfassungsstaat nicht zulässig. 

Bedeutsam ist, dass dieser Verfassungsbruch im Namen des sogenannten „Klimaschutzes“ praktiziert wurde. Hier ist das BVerfG-Urteil ein historischer Markstein: Sie zeigt, dass die sich auf den Klimaschutz berufende „große Transformation“ des Landes in einen Grundsatz-Konflikt mit einem überprüfbaren und eingrenzbaren Staatshaushalt geraten ist. „Klima“ ist irgendwie überall und die „Klimakrise“ sprengt jeden zeitlichen Rahmen. Eine jährliche Haushaltsbilanz erscheint dann sinnlos. Es ist kein Zufall, dass die Regierenden nach dem Urteil versuchen, die politische Aufmerksamkeit auf sogenannte „notwendige Zukunftsinvestitionen“ zu lenken. Das ist eine merkwürdige Wortkonstruktion, die das unmittelbar „Notwendige“ und das in einer fernen „Zukunft“ Liegende miteinander verklebt. Es ist eine staatsgefährdende Konstruktion. Wo solche „Investitionen“ regieren, ist der Weg frei für eine dauerhafte Überschreitung jeglicher Schuldengrenze. Denn niemand kann sagen, inwieweit es sich um echte Investitionen handelt, die eine zusätzliche Wertschöpfung zur Folge haben, oder um fruchtlose Geldausgaben (und damit keine Investitionen). Die Rückführbarkeit der Schuldenhöhe ist dann reine Spekulation. Unter diesem Vorzeichen wird die jährliche Haushalts-Debatte des Parlaments und sein Entscheidungsrecht über Gewährung oder Nicht-Gewährung neuer Kredite zur Farce. Dabei geht es hier eigentlich um das „Königsrecht“ des Parlaments. Es ist das wichtigste Unterpfand des demokratischen Souveräns für eine maßvolle Staatsführung in Krisen- und Kriegszeiten.  

Die Grenzen des finanzpolitischen Notstands 

Mit dem BVerfG-Urteil werden der Möglichkeit der Regierenden, sich auf „Notsituationen“ zu berufen, enge Grenzen gesetzt. Das gilt auch für eine Aussetzung der sogenannten „Schuldenbremse“. Und auch bei einer Veränderung der Schuldenbremse durch den Gesetzgeber, wird er dies Urteil beachten müssen. Denn es präzisiert, was eine Ausnahmesituation im verfassungsrechtlichen Sinn ist. In einem Artikel des Freiburger Wirtschaftsprofessors Lars Feld („Finanzpolitik nach dem Verfassungsurteil“, in der FAZ vom 21.11.2023) heißt es dazu in Anlehnung an den Wortlaut des Urteils: „In einer Ausnahmesituation, im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, darf sich der Bund höher verschulden, als es die zuvor skizierte Normallage erlaubt.“ Demnach lässt sich nicht jede Beeinträchtigung der Wirtschaftsabläufe als außergewöhnliche Notsituation im Sinne des Artikels 115, Absatz 2 interpretieren. Die Folgen von Krisen, die „lange absehbar waren oder gar von der öffentlichen Hand verursacht worden sind“, dürfen nicht mit Notkrediten gemildert oder behoben werden. Und der Autor zieht (mit Ausrufezeichen) die Schlussfolgerung: „Die Klimakrise ist somit keine Krise im Sinne des Art.115 Abs.2 Satz 6 GG!“

Ein unscheinbarer, aber wichtiger Begriff: „Geeignetheit“ 

Das BVerfG-Urteil ist nicht bloß ein Urteil über verwaltungstechnische „Instrumente“ (wie es die SPD-Bundesvorsitzende Eskens behauptet), sondern betrifft die Rettungspolitik als solche. Diese Tiefe des Urteils findet sich in Formulierungen, deren Tragweite man nicht sofort erkennt. Ich zitiere hier aus der Kurzfassung des Urteils:  

„Je länger die diagnostizierte Krise anhält und je umfangreicher der Gesetzgeber notlagenbedingte Kredite in Anspruch genommen hat, desto detaillierter hat er die Gründe für das Fortbestehen der Krise und die aus seiner Sicht fortdauernde Geeignetheit der von ihm geplanten Maßnahmen zur Krisenbewältigung aufzuführen. Er muss insbesondere darlegen, ob die von ihm in der Vergangenheit zur Überwindung der Notlage ergriffenen Maßnahmen tragfähig waren und ob er hieraus Schlüsse für die Geeignetheit künftiger Maßnahmen gezogen hat.“ 

Der Schlüsselbegriff ist hier „Geeignetheit“. Nehmen wir die Klimapolitik. Hier geht es nicht nur darum, wie groß man das Klimaproblem sieht. Selbst wenn man von einer größeren Klimakrise ausgeht, erledigt sich dadurch nicht die Frage, ob die Strategie und die daraus folgenden Maßnahmen, die mit dem zusätzlichen Geld auf Pump finanziert werden sollen, einen zielführenden (oder überhaupt nennenswerten) Effekt haben. Wenn das BVerfG-Urteil das Kriterium der „Geeignetheit“ hervorhebt, betrifft das also die sogenannte „CO2-Strategie“, das Kernstück der deutschen Klimapolitik. Es ist im Wesentlichen eine Negativ-Strategie, die alle Produkte, Herstellungsverfahren und Infrastrukturen, die mit der Verbrennung fossiler Brennstoffe verbunden sind, ausschalten will. Diese Klimapolitik ist so teuer und hat so gravierenden Folgen, weil es beim gegenwärtigen Stand der Technik keinen gleichwertigen, gleich produktiven Ersatz gibt. Zugleich liegen die erhofften Wirkungen des CO2-Ausstiegs auf das Klima in einer ferner Zukunft und sind überhaupt fragwürdig. Wer wollte ernstlich behaupten, dies gewaltige Abschaltprogramm würde mit Gewissheit nach einer bestimmten Zahl von Jahren zu einer messbaren Besänftigung des Wetters führen? Zudem könnten sich solche Effekte ja gar nicht unmittelbar im Bilanzraum Deutschland einstellen, sondern müssten erst den Umweg über eine Veränderung des globalen Gesamtklimas nehmen. Niemand könnte ernsthaft eine solche Geeignetheit der CO2-Strategie nachweisen. Aber was ganz sicher in absehbarer Zeit bei der CO2-Strategie herauskommt, ist der Verlust eines Großteils der bezahlbaren, für den Normalbürger erreichbaren Güter. Also der ersatzlose Verlust von Maschinen, Anlagen, Betrieben, Verkehrswegen, Heizungen, Wohnhäusern, Nahrungsmitteln, usw. Mit anderen Worten: Wer im Namen der Klimapolitik bis zum Jahr 2050 mit einer ständigen Aussetzung der Schuldenbremse und mit einem Jahr für Jahr wachsenden Schuldenberg regieren will, hat eine gewaltige Bringschuld. Und er hat sie hier und jetzt. 

Über das Wörtchen „Herausforderung“ 

Die herrschende Rede im Lande ging bisher über die Stelle, an der das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nun die Anforderung der Eignung von Maßnahmen aufstellt, völlig hinweg. Dabei tat ihr ein Wörtchen gute Dienste und wurde eifrig genutzt: das Wörtchen „Herausforderung“. Wo immer ein Ziel den Rahmen des Leistbaren zu sprengen droht und deshalb fragwürdig war, wurde die Öffentlichkeit mit dem gravitätisch daherkommenden Satz „Es ist eine Herausforderung“ abgespeist. Diese Wendung überspielt die Nachweispflicht der Regierung gegenüber dem Volk: Sie muss die Eignung der eingesetzten Mittel und die Erfüllbarkeit des Ziels nachweisen. Mit der Kombination von „Heraus“ wird das gerade nicht getan, sondern durch eine Floskel ersetzt. Sie bedeutet nichts anderes als ein: „Seht zu, wie ihr mit unseren Maßnahmen klarkommt!“ 

Von finanziellen Grenzen zu materiell-technischen Grenzen 

Hier führt das Kriterium der „Geeignetheit“ auf das Feld der materiell-technischen Realität und ihres konkreten, geschichtlich gegebenen Standes. Zusätzliches Geld allein löst keine technologischen Probleme, insbesondere nicht das Fundamentalproblem einer ganz neuen Energiebasis. Eine große zusätzliche Verschuldung ist nur dann „geeignet“, wenn sie auf einen bestimmten Stand der Technik trifft. Nur wenn hier eine erhöhte Tragfähigkeit und Produktivität greifbar nahe ist, ist eine außerordentliche Kreditermächtigung des Staates vertretbar. Denn dann könnte eine Überschuldung aus real erreichbaren Überschüssen wieder auf ein normales Maß zugeführt werden. Also geht es um den Stand der Technik, und dabei ist der springende Punkt: Der Stand der Technik ändert sich nicht einfach, wenn die Menschen es wollen. Ein neuer Stand ist nicht einfach „machbar“. Die Technikgeschichte zeigt, dass er sich aus einem komplexeren Zusammenspiel von Naturanlagen, Entdeckungen, Kapitalbildungen, Arbeitsfähigkeiten ergibt. Dies Zusammenspiel hat seinen eigenen Zeitrhythmus. Mal läuft die Technikgeschichte schneller und macht Sprünge, mal bewegt sie sich träge auf einem bestimmten Niveau. Es gibt Fortschritt, aber er kommt, wann und wie er es will – und nicht, wann und wie die Menschen es wollen. Die Konsequenz ist, dass Wirtschaft und Staat eine sorgfältige Beobachtung und realistische Einschätzung der technischen Entwicklung machen müssen. Und dann zu einem Urteil kommen müssen: Das ist machbar, und das ist nicht machbar. Eine solche „Machbarkeitsprüfung“ ist übrigens sowohl bei Großinvestitionen von Unternehmen als auch bei großen Infrastrukturprojekten des Staates eine Rechtspflicht. Man sollte einmal die Sorgfalt, die hier gefordert ist, mit der Fahrlässigkeit vergleichen, mit der das Etikett „Zukunftsinvestition“ auf die sogenannten „erneuerbaren“ Energien geklebt wird. 

Die „Zukunftsinvestitionen“ sind ein Fass ohne Boden 

Im Bereich der „Klimarettung“ fällt auf, dass die Investitionen, die eine ganz neue Zukunft tragen sollen, nur in sehr allgemeinen Prinzipien, „Studien“ und „Modellvorhaben“ vorliegen. Bei den Zukunftsinvestitionen bekommt man bei näherem Nachfragen schnell die Antwort, es gebe hier noch „große Herausforderungen“. Die Erzeugung von „Innovationen“ erscheint als eine Art Wundertüte, an der man nur ordentlich schütteln muss, um das Gewünschte zu erhalten. So ist die damalige grüne Kanzlerkandidatin Baerbock im Wahlkampf des Jahres 2021 mit der Parole „Verbote sind Innovationstreiber“ herumgelaufen – frei nach dem zynischen Motto: Man muss die Leute in Not bringen, dann werden sie schon erfinderisch. Hier zeigt sich exemplarisch, wie die rein negative CO2-Strategie als Ergänzung eine Wunder-Erzählung braucht: die Erzählung von einer ganz anderen, hochproduktiven Technologie, die eigentlich schon da ist und nur noch auf „viel Geld“ wartet.      

Leider ist der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz davon gar nicht so weit entfernt – wenn er nämlich als Krisen-Lösung das Motto „Innovation und Technologie“ ausgibt. Die vielfach angekündigten Wundertechnologien wie z.B. die „Wasserstoff-Wirtschaft“ sind beim heutigen Stand der Technik viel zu aufwendig, um für ganz Deutschland, geschweige denn für die ganze Welt, eine Grundlage bieten zu können. Und auch die Rede von der „Technologie-Offenheit“ hilft nicht weiter, wenn die Technikgeschichte auf einem bestimmten Gebiet gerade in einer zähen Phase ist. Bloße Prinzipien helfen jetzt nicht weiter. Was gebraucht wird, ist eine immer wieder neue Beurteilung dessen, was machbar ist und was nicht. Daraus ergibt sich auch ein Urteil über die Bestände und Fähigkeiten, die nicht aufgegeben werden dürfen, sondern unbedingt gesichert oder sogar wiedergewonnen werden müssen.    

Die Staatsräson des Verfassungsgerichts-Urteils 

Wenn das Jahr 2023 für Deutschland etwas erbracht hat, dann ist es eine große Ernüchterung und ein größerer Respekt vor den Widrigkeiten der Realität. Diese Ernüchterung hat viele Menschen aus sehr unterschiedlichen Schichten ergriffen, auch wenn ein anderer, durchaus beträchtlicher und tonangebender Sektor das nicht wahrhaben will. Solche Ernüchterungen gibt es nicht nur bei der Klima-Politik. Auch in der Migrations-Krise und in der Ukraine-Krise sind die großen Lösungen und Endsiege in immer weitere Fernen gerückt – während die unmittelbaren Belastungen immer spürbarer werden. Das Urteil, das das BVerfG in diesem November 2023 gefällt hat, ist auch ein gewisser Reflex auf die Ernüchterung der Nation. Im Urteil ist die Erfahrung der begrenzten Möglichkeiten Deutschlands spürbar. 

Das wird auch deutlich, wenn man dies Urteil mit dem „Klima-Urteil“ vom Frühjahr 2021 vergleicht, das der Erste Senat des BVerfG (Vorsitz Stephan Harbarth) gefällt hat. Dies Urteil erklärt eine verschärfte CO2-Strategie zum Verfassungsgebot und stellt diese Verschärfung unter keinerlei Vorbehalt hinsichtlich der Stabilität der Staatsfinanzen. Und mehr noch: Das Urteil kommt ganz ohne eine Bewertung des geschichtlichen Standes der Technik aus. Was für eine bizarre Unterlassung: Das Urteil fordert eine Vorverlagerung der CO2-Senkungsziele, ohne überhaupt die Tatsache zu erörtern, dass bei einer solchen Vorverlagerung eine Ersatztechnologie entsprechend schneller verfügbar sein muss. Ist die Ersatztechnologie nicht verfügbar oder in realistischer Reichweite – wird das Urteil zu einem reinen Kahlschlags-Urteil. Es entzieht den technologischen Errungenschaften und ihrer Weiterentwicklung den Schutz der Verfassung. 

Wie wohltuend ist demgegenüber jetzt das Urteil, das der Zweite Senat des BVerfG gefällt hat. Es ist eine Aufforderung, den begrenzten Möglichkeiten Deutschlands ins Auge zu sehen: Natürlich war es nicht Aufgabe dieses Verfahrens, ein Urteil über die materiell-technischen Grenzen der Gegenwart zu sprechen und daraus eine besondere Vorsicht bei der Überschreitung von Verschuldungsgrenzen abzuleiten. Aber die Richter des zweiten Senats des BVG haben einen Beitrag geleistet, der im Deutschland unserer Gegenwart keineswegs selbstverständlich ist: Sie haben die Finanzpolitik daran erinnert, dass sie sich im Rahmen eines Staatshaushalts bewegen muss, der von den begrenzten Mitteln dieses einen Landes namens Deutschland getragen werden muss. 

Sie haben eine willkürlich wuchernde Finanzpolitik in die Pflichten und Grenzen einer Staatsräson zurückversetzt.    

Europas seltsames Ressentiment gegen den Nationalstaat

Um aus den Krisen der Gegenwart herauszufinden, wird eine Welt eigenverantwortlicher Länder gebraucht, die aus territorial begrenzten Nationalstaaten bestehen muss. Diese Grundlage ist keine sichere Errungenschaft, auch nicht in der „Europäischen Union“.  

Europas seltsames Ressentiment gegen den Nationalstaat

14. Dezember 2023

Im vorhergehenden Teil dieser Artikelserie wurde dargestellt, dass es im Nahen und Mittleren Osten mancherorts Neigungen zu imperialer Großraum-Politik gibt. Und es wurde dargestellt, dass es demgegenüber in Europa eine merkwürdige Hilflosigkeit und sogar Gedankennähe gibt – wenn in den Grenzziehungen nach der Niederlage des Osmanischen Reiches eine europäische „Urschuld“ für die heutigen Krisen in der Region behauptet wird. Man ist auf eine geradezu bizarre Weise unfähig, die Prinzipien der eigenen Staatlichkeit zu verteidigen. Das liegt daran, dass sich die tonangebenden Milieus in vielen Ländern auf einem geschichtlichen Weg wähnen, der Europa vom Nationalstaat wegführt. Man kann den Weg, der in Europa zum Nationalstaat hinführte, gar nicht mehr korrekt in seinem räumlichen Wandel darstellen und den Fortschritt dieses Wandels verstehen. Eigentlich ging es ja um den „Rückbau“ der imperialen Großreiche. Diesen Rückbau zu einer territorialen Kompaktheit, ohne die eine flächendeckende Herrschaft von Recht und Demokratie gar nicht möglich gewesen wäre, haben viele Länder im 19. und 20. Jahrhundert durchmachen müssen. Sie haben ihn auch mental als einen Verlust von „Größe“ ertragen müssen. Denn dieser Verlust hatte zur Konsequenz, dass die Ansprüche der Weltgestaltung zurückgefahren werden mussten. 

Aber das ist in unserer Gegenwart schon nicht mehr Stand der Dinge. Es gibt, unter neuen Vorzeichen, eine neue Konjunktur der grenzüberschreitenden Weltgestaltung, der übernationalen Programme und Institutionen. Und Europa ist nicht nur hilflos gegenüber regressiven Tendenzen im Nahen Osten, sondern es ist selber Träger solcher Tendenzen. Das schlägt sich insbesondere in der Entwicklung der Europäischen Union nieder. Sie entwickelt sich immer mehr von einer Allianz souveräner Nationalstaaten zu einem übernationalen Gebilde und Quasi-Staat. Die EU zeigt exemplarisch, wie die gute Verbindung von Nation und zurückhaltender Staatsräson ausgehebelt werden kann. 

Wie die guten Nationalgrenzen auf einmal zu bösen Nationalgrenzen wurden 

Es gibt eine bemerkenswerte Umwertung, die das Nationale im 20. Jahrhundert erfahren hat. Die Umwertung besteht darin, dass die territoriale Begrenztheit des Nationalstaats nun als Makel angesehen wird, und nicht mehr als Vorzug. Sie gilt nun als Enge und Borniertheit, und nicht mehr als dauerhafte räumliche Sicherung gegen Willkür und imperiale Neigungen. So hat eine Deutung die Oberhand gewonnen, die in der Begrenztheit und Kompaktheit des Nationalstaates nur noch den Nährboden für einen „Nationalismus“ sah, der auf die Herabsetzung anderer Menschen und Länder gerichtet war. Und – es ist kaum zu glauben – auf einmal erschienen übernationale Staatsgebilde als positiver Nährboden für Toleranz und soziales Miteinander. Großräumige Institutionen galten auf einmal im Vergleich zu den „engherzigen“ Nationalstaaten als Fortschritt. Man war bereit, ihnen die Zuständigkeit für alle möglichen, auch existenziellen Aufgaben anzuvertrauen. Die Erkenntnis, dass solche Großräumigkeit schwer demokratisch zu kontrollieren war, und zur Ausbreitung von Rücksichtslosigkeit und Willkür führen konnten, war vergessen. Das ganze Grundmotiv, das in früheren Jahrhunderten Schritt für Schritt zum Niedergang der Imperien geführt hatte und dies zur Signatur der Moderne gemacht hatte, war verschwunden. Oder besser gesagt: Es wurde überlagert und ist heute weitgehend verschüttet. 

Über die sogenannten „guten Ziele“ 

Das Über-Nationale tritt heute im positiven Gewand von „guten Zielen“ auf – im moralisch aufgehübschten Gewand einer humanitären und ökologischen Weltgestaltung. Diese Ziele sind grenzüberschreitend im Doppelsinn von „Offenheit“ und „Intervention“. Man beschäftigt sich nicht mehr mit dem Aufwand zur Verwirklichung der Ziele, und interessiert sich deshalb auch nicht für die in einem bestimmten Land verfügbaren Aktiva – die Wertschöpfung seiner Betriebe und die Tragfähigkeit seiner Infrastrukturen. Stattdessen spricht man einfach von „Herausforderungen“ und kann dann ohne weiteres zu „globalen Herausforderungen“ hochschalten. Das Wörtchen „Heraus“ und das Wörtchen „Forderungen“ erledigen alles wie von selbst. Die Grenzen des Nationalstaates erscheinen dann nur noch als etwas Hinderliches – und nicht mehr als Grundbedingung für eine redliche Bestimmung des Verhältnisses von Zielen und Mitteln. In den vergangenen Jahrzehnten konnte sich so Schritt für Schritt eine neue Neigung zur Großraum-Politik in der westlichen Welt festsetzen. Eines der sichtbarsten Resultate ist die Europäische Union mit ihrer wuchernden Kompetenz-Aneignung. Im Namen der „guten Ziele“ wurde das Ressentiment gegen alles Nationale zur gängigen Münze in einer – in Wahrheit sehr exklusiven – „europäischen Öffentlichkeit“. Die positive Kraft der institutionellen Dichte und demokratischen Kompaktheit, mit der der moderne Nationalstaat die imperialen Großreiche einst obsolet gemacht hatte, wurde so in ihrem Kern getroffen.  

Der nationale Staat als Territorialstaat 

Wer diesem Ressentiment gegen den Nationalstaat misstraut und ihm nicht folgen will, muss also die Vernunft-Grundlage des neuzeitlichen Staates rehabilitieren. Die Bedeutung des Territoriums für ein neuzeitliches Staatswesen muss besser verstanden werden. Der neuzeitliche Staat kann und muss nicht das ganze Leben organisieren, aber er muss in einem ganz neuen Umfang tragfähig sein. Er muss technische und soziale Infrastrukturen tragen, die das Land befähigen, Hunger, Unwissenheit, Krankheiten oder Umweltkatastrophen in Schach zu halten. Er muss die Voraussetzungen schaffen, dass Arbeit und Kapital produktiv sein können. Und natürlich: Er muss eine Polizei- und Militärmacht unterhalten, um die Gewalt einzuhegen und die Grenzen zu schützen. Für alle diese „tragenden“ Aufgaben, braucht der Staat eigene Bestände. Er muss „stehender Staat“ sein. Und er muss im ganzen Land flächendeckend präsent sein. Die Mittel dazu muss der Staat immer wieder neu aus der Wertschöpfung des Landes finanzieren können, ohne diese Wertschöpfung zu erschöpfen. Das alles führt dazu, dass die Politik ihre Entscheidungen befristet und korrigierbar treffen muss. Und es führt räumlich dazu, dass ein modernes Land einerseits eine gewisse Ausdehnung haben muss, aber sich auch nicht überdehnen darf, sondern territorial begrenzt sein muss. 

Die territoriale Größe und Begrenzung des Staates hängt also mit der Sachdimension der Politik zu tun. Sie ist nicht allein vom Wissen und Willen der Menschen abhängig. Sie muss Bedingungen folgen, die die Menschen sich nicht aussuchen können. Die Souveränität eines modernen Staates ist daher immer ein paradoxes Gebäude: Selbstbehauptung geht nur zusammen mit Selbstanpassung. Deshalb sind territorial begrenzte Nationalstaaten ein Gebot der Vernunft.  

Über das Nationale im Nationalstaat 

Der Nationalstaat wird hier territorial definiert und damit ein sachlicher Rahmen konstituiert, in dem das politische Handeln bilanzpflichtig und verantwortlich ist. Das Gelingen eines Staates wird nicht an eine bestimmte ethnische („völkische“) Trägerschaft gebunden, auch nicht an die Trägerschaft einer bestimmten sozialen Klasse („Arbeiter- und Bauernstaat“). Solche identitären Definitionen wollen etwas garantieren, was der Staat und die Staatsbürger erst noch erbringen müssen und immer wieder neu erbringen müssen. Der moderne Staat muss sich unter veränderten Bedingungen immer wieder selbst behaupten. Seine Souveränität ist eine Souveränität auf Bewährung. So ist das Nationale im modernen Nationalstaat zugleich konservativ und freiheitlich – und in einem weiten Sinn bürgerlich. 

Aber das Nationale darf auch nicht in eine beliebige Allgemeinheit „der Menschen“ aufgelöst werden. Der Staat kann nur verantwortlich sein, wenn seine Staatsbürgerschaft ein bestimmter, begrenzter Personenkreis ist, zu dem es keinen Zugang nach Belieben gibt. Die Verfassung eines Landes ist auch nicht nur eine Liste individueller Grundrechte, sondern die Verfassung eines Gemeinwesens – und als solche der Handlungsfähigkeit dieses Gemeinwesen verpflichtet. Sonst wäre Politik eine bloße „Bürgerbegleitung“. Sie würde in alle Richtungen wuchern, die gemeinsamen Güter und Bestände des Landes vernachlässigen, und am Ende den Staat auflösen. Wir hätten nur noch eine Politik ohne Staat. Und eine Entstaatlichung der Verfassung. 

Die postnationale Auflösung des Staates in „Öffentlichkeit“ 

Es ist in der Politik unserer Gegenwart üblich geworden, bei sachlich umstrittenen Entscheidungen den Satz „Wir haben unsere Politik schlecht kommuniziert“ in die Mikrophone zu sagen. Damit bekundet der Sprechende, dass er sich nicht näher auf das sachlich Kritikwürdige einer Entscheidung einlassen will, sondern hier ein Weiter-So praktizieren will. Aber er will die Dinge besser darstellen. Er will sie in den Rahmen einer besseren Erzählung stellen. In unseren postnationalen Zeiten gibt es eine immens gewachsene Sphäre, in der in diesem Sinne Politik nicht gemacht, sondern „kommuniziert“ wird. In dieser sachfernen Sphäre des Politischen Handelns blühen die „Narrative“. Hier fällt es leicht, mit einer gewissen Willkür, genannt „erzählerische Freiheit“, ein rosiges oder ein böses Bild der Dinge zu malen. Es ist ein Bild, in der die hier geschilderte tägliche Tragaufgabe, die ein Staatswesen erfüllen muss, gar nicht vorkommt. Es ist im Grunde eine Politik ohne Staat, und sie kennt keine territoriale Begrenzung. Sie entzieht sich ständig der Aufgabe, die globalen Ziele ins Verhältnis zu den begrenzten Mittel des eigenen Landes zu setzen. Sie entzieht sich jeder Bilanz die ja eine nationale Bilanz sein müsste. Für den diffusen Raum, in den sich die Politik hier auflöst, gibt es einen Ausdruck, der eigentlich sehr treffend ist: „Öffentlichkeit“.

Ein neuer Typ von Krisen 

Natürlich kann diese Flucht ins Offene nicht unendlich weitergehen. So ist es kein Zufall, dass es in Deutschland an zwei Stellen brennt, an denen der Verzicht auf die Grenzen eines Nationalstaates für unhaltbare Zustände gesorgt hat: Zum einen ist es die Massenmigration, die direkt mit der Öffnung der Territorialgrenzen verbunden ist. Zum anderen ist es die Überschuldung des Staates, die in dreister Verletzung der Grenzen, die von der Verfassung für die Aufstellung des Bundeshaushalts vorgegeben sind, durchgesetzt wurde. Es wäre sich verfrüht, angesichts dieser Krisen nun schon auf eine staatspolitische Wende in Deutschland zu hoffen. Aber immerhin: Wir haben schon einen neuen Typ von Krisen. Die Macht der großen Erzählungen hat ihren Zenit überschritten. 

Es geht um Stabilisierung 

Damit kommen wir zurück zum Beginn dieser Artikelserie. Sie befasste sich mit einer Situation im Nahen und Mittlere Osten, in der in vielen Ländern wichtige Errungenschaften in Gefahr sind und eine Stabilisierung über eine große Lösung der „Palästina-Frage“ nicht zu erwarten ist. Deshalb muss das Interesse sich eher auf eine Stabilisierung der bestehenden Staatenwelt richten. Und zwar sowohl durch die Verteidigung des Staates Israel, als auch durch Respekt und Anerkennung für die islamischen Staaten der Region. Ist das nicht eine Selbstverständlichkeit? Keineswegs. Die deutsche und europäische Politik (und noch mehr die mediale Öffentlichkeit) war eher damit beschäftigt, die Konflikte in Israel und die Kritik an der Regierung Netanyahu zu vertiefen. Und ebenso war sie damit beschäftigt, alle möglichen Anklagen gegen islamische Staaten zu vertiefen und bereitwillig jedwede Verdächtigungen gegen bestehende Regierungen zu übernehmen. Und ist die deutsche und europäische Politik überhaupt ein glaubwürdiger Verfechter des Nationalstaats, wenn es um Krisenlösungen geht? Nein, sie neigt nach wie vor eher über-nationalen Institutionen und Normen zu. Auf internationaler Bühne ist auch längst aufgefallen, dass die deutsche „Weltpolitik“ einerseits besonders gerne überall den mahnenden Zeigefinger hebt, sich aber nirgendwo die Hände schmutzig machen will. Und dass sie auch nur recht teure Produkte und Handelsabkommen anzubieten hat.   

Umso wichtiger ist es, geduldig die Möglichkeiten und Kosten einer Kurskorrektur redlich darzustellen und zu erörtern.    

Erdogans „osmanische“ Rede und Europas angebliche „Urschuld“

Die historische Entwicklung des Nahen und Mittleren Ostens zeigt einen Wandel von imperialen Reichen zu begrenzten Nationalstaaten. Aber es gibt in der Region auch einen Irrglauben an die Wiederkehr alter großräumiger Mächte. 

Erdogans „osmanische“ Rede und Europas angebliche „Urschuld“

05. Dezember 2023

In der ersten Folge dieser Artikelserie wurde gezeigt, dass eine Fixierung der Politik auf eine definitive Lösung des Palästina-Konflikts den gesamten Nahen und Mittleren Osten in eine Konfrontation stürzen kann, dem die erreichten Fortschritte in dieser Region zum Opfer fallen würden. Diese Fortschritte beruhten auf einer Umorientierung: Die Länder konzentrierten sich stärker auf ihre Binnenentwicklung und ihre jeweiligen Eigeninteressen. Sie kamen zu bilateralen Absprachen und Kooperationen. Auch Israel hatte daran seinen Anteil. Aber es gibt auch fortdauernde große Probleme – vor allem ein Bevölkerungswachstum, mit dem der Aufbau von Industrie und Infrastrukturen nicht Schritt halten kann. So gibt es in der Region auch eine wachsende Neigung, auf eine Lösung „von höherer Hand“ zu setzen – auf die Macht von materiellen und spirituellen Hegemonen, die Schutz und Würde versprechen. Diese Neigung führt zu einer Entwertung der eigenständigen, oft zähen Binnenentwicklung im nationalstaatlichen Rahmen. Nur vor diesem Hintergrund ist verständlich, warum ein Staat wie die Türkei, der eine Zeit lang recht eng mit Israel zusammenarbeitete, inzwischen auf einem extremen Konfrontationskurs mit Israel ist. 

Erdogans „osmanische“ Rede 

Am 28.10.2023, dem Vorabend zur 100 Jahr-Feier des heutigen türkischen Staates, hat der türkische Präsident Erdogan auf einer Massenkundgebung in Istanbul eine Rede gehalten. Dort hat er nicht nur die Hamas als Organisation von „Freiheitskämpfern“ bezeichnet und Israel vorgeworfen, einen „Vernichtungsfeldzug“ gegen die Menschen in Gaza zu führen, sondern er hat auch einen weitgehenden Machtanspruch der Türkei erhoben. Im Rückbezug auf das Territorium des alten Osmanischen Reiches, erklärte er, dass „Gaza“ den Türken so nahe stünde wie „Adana“ (eine Stadt im Süden heutigen Türkei, unweit der syrischen Grenze): „Manche Leute mögen Gaza als einen fernen Ort betrachten, der mit uns nichts zu tun hat. Aber vor hundert Jahren war für diese Nation Gaza nicht anders als Adana.“ Er stellte Israels militärische Antwort auf den Überfall der Hamas als Teil eines Komplotts des Westens dar, der sich auch gegen die Türkei richte: „Unter der Oberfläche der von Israels Führung beschriebenen Konzepte wird man eine heimtückische Karte finden, die sich auf Territorien unseres Landes erstreckt.“ Erdogan behauptete, das Vorgehen Israels in Gaza sei eine Fortsetzung des „unvollendeten Plans“ westlicher Mächte, die Türkei politisch, geographisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich zu zerstückeln. Das aber bedeutet im Umkehrschluss, dass Erdogan – 100 Jahre nach der Gründung der heutigen Türkei – wieder Machtansprüche stellt, die an die Ausdehnung des im ersten Weltkrieg untergegangenen Osmanischen Reiches anknüpfen. Erdogans Rede ist also eine Revisionsrede, die hinter dem republikanischen Umbau und territorialen Rückbau der modernen Türkei zurückgehen will – also hinter jene Türkei, die der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk 1923 als seinen Erfolg angesehen hatte. Während Atatürk die begrenzte Territorialität als Voraussetzung für innere Reformen und gute Beziehungen zu den früheren Kriegsgegnern ansah, scheint Erdogan diese kluge Selbstbegrenzung nun als unnötige Nachgiebigkeit anzusehen. Er scheint auf die mobilisierende Kraft eines osmanischen Mythos zu setzen. Er rechnet offenbar damit, dass solche Ambitionen auch in den anderen Ländern des Nahen Ostens Widerhall finden. Und er setzt offenbar auch darauf, dass er die Europäer unter Druck setzen kann, wenn er ihnen wegen der Demontage des Osmanischen Reiches die Schuld an den heutigen Krisen im Nahen Osten zuweisen kann.  

Europas Selbstanklage treibt seltsame Blüten 

Wie aber sieht die europäische Antwort aus? Eigentlich sollte man erwarten, dass Europa der Wiederbelebung imperialer Großraum-Ideen durch Erdogan deutlich entgegentritt und die guten Gründe darlegt, die auch im Nahen Osten für eine moderne Ordnungsidee sprechen: für einen Pluralismus territorial begrenzter Nationalstaaten. Aber diese Erwartung täuscht. Das „postkoloniale“ Europa gibt sich schuldbewusst und sieht die eigene Schuld ausgerechnet darin, dass nach dem 1. Weltkrieg das Osmanische Reich zerlegt wurde, und die Türkei zu einem Nationalstaat wurde. In Deutschland konnte man Beiträge im öffentlich-rechtlichen Fernsehen sehen, die den Positionen der Erdogan-Rede sehr nahe kommen. Es geht um einen präzisen Punkt: um die zwischenstaatlichen Grenzen im Nahen Osten. Am 29.Oktober 2023 wurden aus Anlass des 100. Jahrestages der türkischen Republik im deutschen Fernsehsender „Phönix“ (dem Politik-Sender der ARD) insgesamt vier Dokumentarfilme ausgestrahlt. Ein Film (von Gerhard Jelinek 2019 produziert) trägt den Titel „Blutige Linien – Die Grenzziehung von Sykes-Picot im Nahen Osten“. In der Ankündigung heißt es:

„Der Bürgerkrieg in Syrien, das grausame Schlachten des IS, die Fehden zwischen Sunniten und Schiiten im Irak: Der Nahe Osten ist ein Dauer-Brandherd der Welt. Gelegt wird das Feuer bereits während des ersten Weltkrieges, als England und Frankreich die Landkarten zwischen Damaskus und Bagdad im Handstreich neu zeichneten. Noch während der Erste Weltkrieg 1916 mit voller Härte tobt, ziehen der Engländer Sir Mark Sykes und der Francose Georges Picot neue Grenzlinien in den arabischen Sand. Den beiden Großmächten geht es vor allem darum, sich längerfristig Einfluss im Nahen Osten zu sichern…Die von Sykes und Picot gezogenen Grenzen werden letztlich zu den Wurzeln der späteren Katastrophe im Nahen Osten.“

Hier wird die neuere Geschichte des Nahen Osten als finstere Katastrophen-Geschichte erzählt. Und die Urschuld daran sollen die Europäer tragen – und zwar die Engländer und Franzosen, und nicht Deutschland und Österreich-Ungarn, die bekanntlich das Osmanische Reich bis zu seinem Untergang unterstützten. Und noch ein zweiter Film wurde an diesem 29.10.2023 ausgestrahlt. Sein Titel lautete „Der vergiftete Frieden – Das Ende der Osmanen“ (von Elias von Salomon 2021 produziert). Hier kann man in der Ankündigung folgende Sätze lesen:

„Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges stand neben dem Vertrag von Versailles auch ein anderer Ort für die Neuordnung der Welt: Sèvres, ein Pariser Vorort. Dort besiegelten die Siegermächte Frankreich, Großbritannien und die USA das Schicksal eines großen Imperiums: Das Osmanische Reich sollte für immer zerschlagen werden. Die Folgen sind bis heute unübersehbar: Der Nahe Osten brennt, wird von Krieg und Terror überzogen. Die Dokumentation zeigt die Fehler und ihre Auswirkungen auch hundert Jahre später auf.“    

Wenn so ein Zusammenhang zwischen „Das Osmanische Reich sollte für immer zerschlagen werden“ (Ursache) und „Die Folgen sind bis heute unübersehbar“ (Folge) hergestellt wird, ist das eine sehr steile geschichtswissenschaftliche These. Sie wird von der Darstellung nirgendwo wirklich erhärtet. Die Konstruktion einer europäischen Urschuld besteht nur in ahnungsvollem Geraune. 

Der Mythos von den „bösen Grenzen“ 

Der Kern des Schuldvorwurfs beruht auf der Grundidee der „bösen Grenzen“. Worin soll das Böse bestehen? Der Schuldvorwurf vermengt zwei sehr unterschiedliche Dinge. Einerseits wird der konkrete Verlauf der neuen Grenzziehungen angeklagt – weil der Verlauf manche ethnisch-kulturellen Zusammenhänge nicht respektiert. Andererseits wird überhaupt der Rückbau des Osmanischen Reiches auf einen kleineren Territorialstaat zum Anklagepunkt. Hier besteht der Vorwurf darin, dass die neuen Grenzen engere Grenzen sind. 

Einerseits wird also den Verantwortlichen bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg vorgeworfen, sie hätten hinsichtlich der Realitäten vor Ort weder Ahnung noch Respekt gehabt. Doch ein Kartenvergleich der heutigen Grenzen im Nahen Osten zeigt, dass sich die konkreten Grenzverläufe inzwischen erheblich verändert und verfeinert haben – im Zuge der fortschreitenden nationalen Unabhängigkeitsbewegungen im Laufe des 20. Jahrhunderts. Auch müsste hier angemerkt werden, dass die ethnischen Unterschiede prinzipiell nicht 1:1 in räumliche Grenzen übersetzt werden können: Entweder würde eine solche Übersetzung zu sehr komplizierten Linienverläufen mit allen möglichen Enklaven führen, oder sie würden gar nicht funktionieren, weil sich die ethnischen Zugehörigkeiten in ein und demselben Raum mischen. Dies Problem können die Territorialstaaten nur verringern, indem sie in der Regel nicht allzu große Territorien bilden (also das Problem einer „Überdehnung“ vermeiden), oder indem sie im Innern eine gewisse regionale oder lokale Selbstregierung gestatten (durch Subsidiarität und Föderalisierung). 

Doch die These von den „bösen Grenzen“ will von dem räumlich-institutionellen Problem der Überdehnung nichts wissen, sondern erhebt einen Generalvorwurf gegen jeden Rückbau eines Reiches. Hier geht es der Kritik also um etwas prinzipiell Verwerfliches von Grenzziehungen. Demnach hätten die Europäer an die Stelle des Osmanischen Großreiches irgendwie „das Trennende“ (soll bedeuten „das Spaltende“) gesetzt, um dort nun zu herrschen. Damit begibt sich die Kritik auf das Gleis einer umfassenden Geschichtsrevision. Denn wenn die Auflösung des Osmanischen Reiches und der territoriale Rückbau der Türkei als „Wurzel der Katastrophen“ und bloßes Mittel zur Errichtung neuer Fremdherrschaft dargestellt wird, müsste man das auch vom zeitgleichen Ende des Habsburger Reiches oder – ein Jahrhundert vorher – vom Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und vom Ende des spanischen Weltreiches sagen. Mitten in Europa sind also Geisterfahrer der neuzeitlichen europäischen Geschichte unterwegs. 

Wie das Osmanische Reich verklärt wird 

Bereits im Jahre 2016, zum hundertsten Jahrestag des Sykes-Picot-Abkommens, erschienen in verschiedenen deutschen Zeitungen Artikel, die dieser Argumentation der „fatalen Folgen“ des territorialen Rückbaus des Osmanischen Reiches folgten. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien am 15.5.2016 ein Artikel von Rainer Hermann unter dem Titel „Imperialer Federstrich – Wie die Großmächte keine neue Friedensordnung im Nahen und Mittleren Osten schufen“. Der Schlussabsatz zeigt exemplarisch die Verklärung, die heutzutage auf einmal wieder das osmanische Herrschaftssystem erfährt:

„Diese Gebiete waren unter osmanischer Herrschaft relativ friedlich gewesen. Die Osmanen hatten durch eine kleinteilige Aufteilung des Gebiets Konflikten vorgebeugt, die entstehen, wenn viele unterschiedliche Gruppen in einem Staat zusammenlebten. Zudem wurden die kleinen Einheiten effizienter verwaltet. Die Kolonialmächte hatten das nicht begriffen: Sie legten drei osmanische Provinzen zusammen und nannten das Gebilde dann Irak. Drei andere Provinzen hießen nun Syrien, ohne dass es solche Nationen gegeben hätte. Um diese künstlichen Gebilde zusammenzuhalten, bedurfte es erst der Kolonialstaaten, dann repressiver Diktaturen. Als diese wegfielen, stürzte die Region in Krieg und Chaos. Der Westen versucht zwar, die alte Ordnung in den hundert Jahre alten Grenzen zu retten. Eine neue, stabile Ordnung, die an Sykes-Picot anknüpfen könnte, zeichnet sich aber nicht ab.“ 

Entwicklungen, die der „postkoloniale“ Zeitraffer unterschlägt 

Dem idyllischen Bild, das hier von den Provinzen unter osmanischer Herrschaft gezeichnet wird, wird in dem Artikel das Bild eines fatalen 20.Jahrhunderts gegenübergestellt, in dem der Nahe Osten als Gefangener einer Raumordnung dargestellt wird, die der europäische Kolonialismus vorgegeben haben soll. Ein erstaunlicher Zeitraffer ist in dieser „postkolonialen“ Geschichtsschreibung am Werk. Sie erzählt etwas von 1916 und macht dann einen großen Sprung in unsere Gegenwart: Was dazwischen geschah, erscheint als bloße Fußnote. Das ist eigentlich recht geringschätzig und lieblos gegenüber einer großen Region dieser Welt. Deshalb sollen hier einige Realitäten benannt werden, die im „postkolonialen“ Zeitraffer unterschlagen werden: 

  • Syrien wurde, zusammen mit dem Libanon, in den 1920er Jahren als Mandatsgebiet des Völkerbundes an Frankreich übertragen. 1946 wurde es unabhängig. Der Libanon erhielt 1926 seine Eigenstaatlichkeit und 1943 die volle Unabhängigkeit (Er war Gründungsmitglied der Vereinten Nationen). Der Irak wurde ab 1921 zum Königreich Irak, dann ab 1958 zur Republik. Zu einer Beherrschung durch Frankreich oder Großbritannien kam es also gar nicht.  
  • Es gab in den 1950er Jahren verschiedene Versuche grenzüberschreitender Zusammenschlüsse: Irak und Jordanien („Arabische Föderation“); Syrien und Ägypten („Vereinigte Arabische Republik“). Sie wurden nach kurzer Zeit wieder aufgelöst. Die Grenzen erwiesen sich als dauerhafter als der Panarabismus. Zugleich fand der verheerendste Krieg im Nahen Osten (der Iran-Irak-Krieg) an einer Grenze statt, die viel älter ist als die Sykes-Picot-Linie.
  • Die heutigen Konflikte in der Region gehen meistens auf innere Bruchlinien zurück. Die drohende Gefahr ist der Zerfall der jungen Staaten. Wieso ein Rückgriff auf ein übergeordnetes, besonders ausgedehntes Großraum-Gebilde vor dem Zerfall besser schützen soll, ist nicht einzusehen. 
  • Alle Staaten des Nahen Ostens können im Jahrhundert-Rückblick erhebliche Fortschritte beim Bruttoinlandsprodukt aufweisen. Die Infrastrukturen von Verkehr, Wasserversorgung, Bildung und Gesundheit sind heute auf einem viel höheren Niveau. Aber die Bevölkerungsentwicklung lief noch schneller. Sie hat sich inzwischen von der Entwicklung der Wirtschaft und des Staatswesens entkoppelt. Die Bevölkerungszahlen von Syrien sind ein Beispiel: 1918: 1,5 Mio – 1938: 2,5 Mio – 1970: 6,3 Mio – 2010: 20,9 Mio. Diese Zahl erhöhte sich bis 2021 nur wenig (21,3 Millionen), was dem Bürgerkrieg und der Massenflucht zuzuschreiben ist. Für den Irak liegen mir folgende Zahlen vor: 1957: 6,7 Mio – 1977: 12,0 Mio – 1997: 22 Mio – 2010: 29,6 Mio. Hier sind die Zahlen von 2021 sehr stark gestiegen: 43,5 Mio. (2010).

Insgesamt spricht das alles nicht dafür, das gesamte Jahrhundert seit 1916 als Irrweg für den Nahen und Mittleren Osten zu werten. Es spricht – trotz einer ernsten Entwicklungskrise – durchaus dafür, die bestehenden Territorial-Staaten als souveräne und selbstverantwortliche Träger der Entwicklung zu stärken. Und damit die pluralistische Staaten-Welt im Nahen Osten weiter zu festigen.   

Imperiale Großraum-Ordnung oder plurale Ordnung begrenzter Nationalstaaten?

Die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens ist also keine ewige Wiederkehr imperialer Großräume, sondern es gibt eine Ordnungs-Alternative: Auf der einen Seite das Gesamtgebilde eines Reichs, auf der anderen Seite eine plurale Ordnung, deren Träger territorial begrenzte, selbstverantwortliche Nationalstaaten sind. Für diese Alternative ist die Türkei ein Schlüsselort geschichtlicher Erfahrung. Die Auflösung des Osmanischen Reiches und der territoriale Rückbau der Türkei hat wichtige Fortschritte möglich gemacht. Eine Revision dieses Rückbaus würde die Region in unlösbare Hegemonial-Konflikte stürzen. 

Aber wie sieht es eigentlich in Europa aus? Man sollte meinen, hier wäre die Alternative längst entschieden. Die plurale Ordnung auf Basis begrenzter Territorialstaaten hätte definitiv die Oberhand gewonnen. Die Auseinandersetzung mit der Reichs-Ordnung sei erledigt. Die Großraum-Träume seien in Europa ausgeträumt. Aber dem ist nicht so. 

(dazu mehr in der dritten und letzten Folge dieser Artikelserie)

Die Staaten der islamischen Welt haben viel zu verlieren

Wenn sich alles auf das „Palästina-Problem“ zuspitzt, geraten wichtige Errungenschaften im Nahen und Mittleren Osten in Gefahr. Auch der Westen sollte sich davor hüten, diese Errungenschaften geringzuschätzen. 

Die Staaten der islamischen Welt haben viel zu verlieren

30. November 2023

Die Trauer über das Leid auf beiden Seiten der Kämpfe in Gaza ist aufrichtig. Diese schlimmen Wochen hat niemand herbeigesehnt. Aber diese Trauer ist keine sichere Position gegen Vernichtungskriege. Aus ihr kann keine gegenseitige Anerkennung des Daseins von Völkern und Staaten hervorgehen. Ein „Gleichgewicht des Leids“ kann keine sicheren Existenzrechte begründen. Nur eine pluralistische Welt souveräner, territorial begrenzter Staaten kann sie bieten. Aus dieser Erkenntnis erwächst die Aufgabe, den Blick etwas zu weiten und ihn auf die Gesamtheit der Länder des Nahen und Mittleren Ostens zu richten. Das soll nicht getan werden, um irgendeinen größeren Gesamt-Schuldigen zu suchen, sondern um sich an die Fortschritte zu erinnern, die in vielen Ländern dieser Weltregion in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gemacht wurden. Eine Fixierung auf die „Palästina-Frage“ würde diese Fortschritte gefährden. Es würde zu einer dramatischen Verengung kommen – zu einem politischen Kurzschluss, der die Entwicklungsanstrengungen in dieser Region entwertet und zunichte macht. 

Eine direkte Friedenslösung für die „Palästina-Frage“ ist nicht in Sicht. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge würde jeder „Frieden“ für den gar nicht klar abgrenzbaren Raum „Palästina“ in sich schon den Keim neuer Kämpfe tragen. Das gilt auch für die oft beschworene „Zwei-Staaten-Lösung“. Nur in Anlehnung an einen größeren Umkreis von Staaten im Nahen und Mittleren Osten, könnte ein endloser Verdrängungskampf vermieden werden. 

Daraus folgt: Für einen längeren geschichtlichen Zeitabschnitt muss die Weiterentwicklung der schon bestehenden Staaten im Vordergrund stehen. Das gilt für die Länder mit islamischer Geschichte und Prägung, und es gilt auch für Israel. Gegen die Hamas führt Israel einen gerechten Verteidigungskrieg, bei dem es um seine Existenz geht. Und da steht es gar nicht so allein, wie es scheint. Welcher Nachbarstaat kann wirklich ein Interesse an einer solchen Staatsvernichtung durch extremistische Kräfte haben? Diese Vernichtung könnte sehr leicht eine Massenbewegung auslösen, die auch Staaten des islamischen Kulturkreises in den Abgrund reißen würde. Die Kräfte, die bisher die Stabilität und die Entwicklung ihrer Länder vertreten haben, stünden dann auf verlorenem Posten. Eine solche Wendung der Dinge ist also keineswegs in ihrem Interesse. Sie haben viel zu verlieren. 

Die Bedeutung der Staatsbildung 

Um das zu verstehen, muss man freilich die Aufgabe der Staatenbildung besser verstehen. Und man müsste die Aufbauleistungen und Fortschritte, die es auf allen Seiten tatsächlich gibt, hervorheben. Gegenwärtig steht eher das Leiden im Vordergrund. In der massenmedialen Weltöffentlichkeit stehen sich die Konfliktparteien nur als Betroffene gegenüber. Die internationale Diplomatie scheint sich nur um die Begrenzung des Leidens auf beiden Seiten zu drehen. Aber stabile Existenzrechte können nicht einfach auf „die Menschen“ bezogen sein, sondern müssen sich auf souveräne, verantwortungsfähige Staaten gründen.  

Die Entwicklung einer Staatenwelt im Nahen und Mittleren Osten

Das führt einerseits dazu, die Aufbauleistung des Staates Israel als ein bewundernswertes Beispiel und Vorbild für die Entwicklung in dieser Weltregion mit ihren harten Bedingungen und Knappheiten anzuerkennen. Und nicht so zu tun, als wäre Israel nicht mehr als ein Gebilde, das von der Unterdrückung und Ausbeutung anderer Menschen lebt („Apartheid“). Die „antikoloniale“ Hassrede, die die gesamte Geschichte der Neuzeit in eine Zerstörungs- und Totschlagslegende umschreiben will, versucht gegenwärtig, an Israel ein Exempel zu statuieren, und hier einen „Weltfeind“ aufzubauen. Und das findet durchaus einen Widerhall. Das zeigt die durchaus breite Zustimmung, die eine UN-Resolution zur Nahost-Krise gefunden hat, die den Vernichtungsangriff der Hamas auf Israel nicht einmal erwähnt. Doch das ist nur die eine Seite des Problems. 

Auf der anderen Seite geht es auch darum, die Aufbauleistungen und Fortschritte der verschiedenen Länder des islamischen Kulturkreises im Nahen und Mittleren Osten anzuerkennen. Wer die Gesamtgeschichte dieser Region im 20. Jahrhundert betrachtet, kann nicht umhin, diese Leistungen und Fortschritte anzuerkennen. Und anzuerkennen, dass sie im Rahmen einer schrittweisen Ausbildung eines Pluralismus von unabhängigen Staaten geschahen. Das bedeutet, dass sie eine eigene Leistung darstellen und nicht nur eine das Vorbild des Westens nachahmende und von ihm abhängige Entwicklung war. Zur Begründung von Existenzrechten im Nahen und Mittleren Osten muss man daher all denen widersprechen, für die „arabisch“ und „Islam“ von vornherein nur etwas Minderwertiges oder gar Böses bedeutet. Die Länder und Menschen dieser Region haben schon gezeigt, dass sie sehr wohl zu umsichtigen Entscheidungen und guten Entwicklungen fähig sind. 

Die arabisch-islamische Welt am Scheideweg 

Es ist noch gar nicht so lange her, dass verschiedene arabische Staaten ihren Frieden mit Israel machten und es zu Kooperationen im gemeinsamen Interesse kam. Die Palästina-Frage war nicht gelöst (und sie ist auf absehbare Zeit wohl auch nicht lösbar), aber die Bedeutung dieser Frage schien sich relativiert zu haben. Sie hinderte die verschiedenen Staaten nicht mehr daran, ihre eigenen Entwicklungsinteressen zu verfolgen. Lange Zeit hatte das Feindbild Israel vielen Regierungen im Nahen Osten als Alibi gedient, um von der wirtschaftlichen Stagnation und von der Erstarrung der Machtverhältnisse im eigenen Land abzulenken. Aber das hatte sich in den letzten Jahren geändert. Das lag auch daran, dass sich der Fokus der Regierenden auf die eigene Entwicklung ihrer Länder verschoben hatte. Man suchte neue wirtschaftliche und kulturelle Betätigungsfelder, insbesondere auch in den stark vom Erdöl-Export abhängigen Ländern (Qatar, Saudi-Arabien). Andere Länder wie Marokko oder die Türkei machten Fortschritte bei der Diversifizierung ihrer Industrie und der Stärkung ihrer Rolle im internationalen See- und Luftverkehr. Und es kam zu gewissen politischen Lockerungen und Öffnungen, auch bei den Rechten von Frauen im öffentlichen Leben. 

Auch ein Blick in die Geschichte lohnt sich. In den ersten Jahrzehnten nach Erringung der Unabhängigkeit (bis in die 1970er Jahre) dominierte in vielen Ländern eine weltlich-sozialistisch orientierte Führungsschicht. Erst als diese Führungsschicht angesichts nicht haltbarer Versprechungen ermüdete und ihre Glaubwürdigkeit verlor, gewann ein politischer Islam an Einfluss. Die Führung verlagerte sich vielerorts auf religiöse Parteibildungen und Regierungen – die Übernahme des Sozial- und Bildungswesens sowie des Kultur- und Medienbereichs, spielte dabei eine wichtige Rolle. Doch nun gibt es auch bei dieser engen religiösen Führung schon seit einigen Jahren Verschleißerscheinungen – das zeigen die oben erwähnten Lockerungen und Öffnungen und macht diese bedeutungsvoll.

Es wäre aber ganz falsch, hier von einer neuen „Aufbruchstimmung“ zu sprechen, dazu sind die inneren Ressourcen der Länder zu knapp und der wirtschaftliche Druck von außen zu groß – zum Beispiel stehen die typischen Leichtindustrien des Mittelmeerraums unter dem ostasiatischen Konkurrenzdruck. Vor allem gibt es den immensen Druck durch das starke Bevölkerungswachstum. Vor dem harten Hintergrund dieser Knappheit bekommen kleine Fragmente von Arbeit und öffentlichem Leben – als kleinen Freiheiten des Alltags – einen neuen Wert. Und gleichzeitig bleibt der Islam stark. Er wird als Unterpfand für die Eigenständigkeit der Länder und für die Würde ihrer Bürger verstanden. So sollte die Situation der Länder vorsichtig als Situation „zwischen Fortschritt und Krise“ beschrieben werden. Aber das ist eine Situation, in der die Menschen der arabisch-islamischen Welt jetzt durchaus etwas zu verlieren haben.   

Die Situation im Gazastreifen ist ein Sonderfall 

Über die Situation im Gaza-Streifen kann vieles gesagt werden. Sicher ist es richtig, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht mit der Hamas und auch nicht mit den lauten Demonstrationen auf der Straße gleichgesetzt werden darf. Aber die Situation in den Gebieten, die den arabischen Palästinensern zur Selbstregierung überlassen wurden, dürfen auch nicht mit der Situation der anderen arabischen Länder gleichgesetzt werden. Im Gaza-Streifen ist nicht einmal in Ansätzen ein Entwicklungsmodell erkennbar, das auf die eigenen Kräfte baut. Das Gebiet ist extrem von der Zufuhr von außen abhängig: von Geld, von Nahrungsmitteln, von Fahrzeugen und Maschinen, von Fachleuten. Das Gebiet wurde wie ein Lager regiert. Hier entsteht tagtäglich der Eindruck, die arabischen Palästinenser hätten nichts zu verlieren, und das ist ein Nährboden für den Extremismus. Wie könnte Israel diesen Nährboden auflösen, ohne sich selbst abzuschaffen? Ist die so oft beschworene „Zwei-Staaten-Lösung“ wirklich tragfähig oder nur ein Formelkompromiss? Redlicherweise muss zugegeben werden, dass eine definitive Lösung des Palästina-Problems nicht in Sicht ist. Deshalb wäre es ganz falsch, jetzt alles auf eine solche Lösung zu setzen. Auch die arabisch-islamischen Länder können ihre eigene Entwicklung nicht an eine solche Lösung der Palästina-Frage binden.     

Staat und Territorium 

Auf den ersten Blick erscheint die 2-Staaten-Lösung für das „Palästina-Problem“ einfach und naheliegend. Es ist eine eingängige Formel, die Gerechtigkeit für beide Seiten suggeriert. Aber sie stellt eigentlich gar nicht die für ein Staatswesen grundlegende Frage: Ist das Staatswesen in seiner Anlage tragfähig? Kann es die Existenzrechte einer ganzen Gesellschaft schützen und materiell füllen? Es muss nicht autark sein, sondern kann Außenhandel treiben und Bündnisse schließen. Um sich selbst behaupten zu können, muss es ausreichend Mittel haben, um sie im Austausch einbringen zu können. Falls dies nicht der Fall ist, wäre ein solcher Staat ständig darauf angewiesen, von äußeren oder höheren Mächten versorgt und beschützt zu werden? Er wäre auf Gedeih und Verderb auf fremde Entscheidungen angewiesen. Er wäre ein bloßes Protektorat. Das ist der große Vorbehalt, der gegen eine 2-Staaten-Lösung besteht: Dieser Raum ist zu eng, um zwei tragfähige, souveräne Staaten zu tragen. Ein Nebeneinander von zwei Staaten würde zu immer wieder neuen Existenzkrisen auf der einen oder anderen Seite führen. Und damit wäre der Keim zu neuen Verdrängungskriegen gelegt. 

An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass es auch anderswo im Nahen und Mittleren Osten ähnliche Probleme gibt: wo Staaten in einzelne Teilgebiete zerfallen und es separatistische Tendenzen gibt. Man denke an den Irak, Libyen und Syrien. In einigen Ländern gibt es Bevölkerungs-Enklaven, die den Staat, in dem sie wohnen, gar nicht als ihren Staat ansehen (Libanon). Es gibt in den Großstädten mancher Länder eine große, entwurzelte, jüngere Generation, die zu „ihrem“ Staatswesen eine sehr geringe Bindung haben. Sie haben vor einigen Jahren im sogenannten „arabischen Frühling“ manche Länder an den Rand einer Staatskrise gebracht. Ein Teil ist auch für einen islamischen Extremismus empfänglich. Angesichts dieser Lage ist die territoriale Integrität der bestehenden Staaten im Nahen und Mittleren Osten ein kostbares Gut. Sie darf nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden, sondern muss entschieden verteidigt werden. Leider haben das westliche Staaten in der jüngeren Vergangenheit nicht getan, sondern sich berufen gefühlt, in einzelnen Ländern politisch und militärisch zu intervenieren – zum „Tyrannensturz“ gegen die etablierten Regierungen. Um die Folgen ihres Tuns haben sie sich nicht gekümmert, und damit mancherorts (siehe Libyen) nur den Zerfall des territorialen Zusammenhalts befördert. In anderen Ländern (siehe Ägypten) sind sie glücklicherweise nicht zum Zuge gekommen.

Wie die Massenmigration die Länder des Nahen Ostens gefährdet 

In der gegenwärtigen Krise fällt auf, wie restriktiv ein Land wie Ägypten mit der Ausreise von Bewohnern des Gazastreifens umgeht, und wie es mit aller Härte eine Massenimmigration auf ägyptisches Territorium verhindert. Ägypten weiß um die destabilisierende Wirkung, die eine solche Fluchtbevölkerung auf seine innere Lage ausüben kann. In Syrien und dem Libanon kann man sehen, wie sich eine solche Bevölkerung als politische und militärische Macht im Lande konstituiert und zum Instrument fremder Mächte (wie dem Iran) werden. Und noch etwas ist wichtig an der Haltung Ägyptens: Bei aller Härte hütet sich Ägypten davor, gegen die Migranten vordergründig zu polemisieren und sie moralisch zu verdammen. Das geschieht nicht aus Angst vor Eskalation, sondern aus Einsicht in die schwierigen Bedingungen, unter den die Menschen im Gazastreifen leben müssen. Ägypten erkennt diesen Ernst der Lage an und fühlt diesen Ernst mit, aber es sagt trotzdem „Nein“. Dies „Nein“ ist nicht willkürlich und „autoritär“, sondern reflektiert reale Gefahren. Das hat allgemeinere Gründe, die für den gesamten Nahen Osten und die Südanrainer des Mittelmeeres gelten. Dort sieht man sich einer jungen Überbevölkerung gegenüber, die sich sehr leicht in eine entwurzelte, nomadisierende, bindungslose, gewaltbereite Überbevölkerung verwandeln kann. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich an eine Marokko-Reise im Herbst 2013, bei der unserer Reiseführer, der aus einem Provinzort im Süden des Landes stammte, uns die großen Bemühungen der Regierung schilderte, die junge Bevölkerung in den kleinen und mittleren Provinzstädten zu halten. Es geht also nicht nur um eine Massenimmigration von Fremden, sondern um eine Binnenmigration – eine Landflucht in die Städte, die die Städte in wahre Heerlager einer demographischen Reservearmee verwandeln. Und diese junge Überbevölkerung ist dann für alle möglichen Ideologien empfänglich, die sie als Opfer der Weltgeschichte darstellen und ihnen ein Recht auf Rache zusprechen. Die Länder des Nahen Osten müssen also aus eigener Erfahrung und aus eigener Selbsterhaltung zum Palästina-Extremismus auf Distanz gehen. Denn ein ähnlich-bindungslose Extremismus wächst, in der ein oder anderen Form, auch in diesen Ländern und bedroht ihre wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Errungenschaften. 

Die Fortschritte arabisch-islamischer Länder 

Gerade jetzt wäre es wichtig, von den Errungenschaften und Fähigkeiten der arabisch-islamischen Welt zu sprechen. Aber wer in der westlichen Politik und Öffentlichkeit tut das? Dazu müsste man ja anerkennen, dass es grundlegende Errungenschaften überhaupt gibt. Man müsste sie auch in den Punkten anerkennen, wo sie nicht dem westlichen Weg in die Moderne entsprechen. Die Anerkennung muss also auch die Entwicklungspfade anerkennen, die aus den eigenen Traditionen der verschiedenen Länder hervorgehen. Eine Außenpolitik, die ihren Namen verdient, darf sich nicht bloß irgendwelche Rosinen westlicher Werte aus der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gesamtheit eines arabisch-islamischen Landes herauspicken, sondern muss die Souveränität dieser Gesamtheit anerkennen. Die jetzige Krise ist der Moment, wo dies Bewerten und Hineinregieren gegenüber der arabisch-islamischen Welt ausdrücklich zurückgenommen werden sollte. Gerade jetzt käme es darauf an, die Länder der Region mit ihren spezifischen Bedingungen zu betrachten und zu verstehen. 

Außenpolitik oder „Weltinnenpolitik“? 

Die sogenannte „wertegeleitete“ Außenpolitik neigt immer dazu, in andere Länder hineinzuregieren. Sie ist im Grunde eine „Weltinnenpolitik“ und gar keine Außenpolitik – deren Eigenart ja darin bestehen muss, auch mit genuin anderen Ländern und Staaten zu verkehren und einen Modus vivendi zu finden.

Bloß kein „Kulturkampf“ gegen die arabisch-islamische Welt

Angesichts des Vernichtungs-Terrors gegen Israel mag mancher dazu neigen, die Auseinandersetzung zu „vertiefen“, indem man den Terror und den anschließenden Jubel darüber auf generelle „Ursachen“ zurückführt – auf eine ethnische Ursache („die Araber“) oder auf eine religiöse Ursache („der Islam“). Aber das schwächt den Kampf gegen den Terror, weil man ihn zu einem globalen Kulturkampf ausweitet. So werden alle Staaten und Gesellschaften der Region aufgrund einer ethnischen, religiösen, kulturellen „Identität“ als Feind markiert. Ein angeblich in sich ewig gleicher „arabisch-islamischer Kulturkreis“ wird zum Erbfeind des Westens erklärt, und wir stecken fest in einer weltweiten Konfrontation der Kulturkreise im Sinne von Huntingtons „Clash of Civilizations“. 

Diese Steigerung ist gefährlich, und sie ist auch unnötig. Sie zerstört die bestehenden positiven Anknüpfungspunkte für eine friedliche Koexistenz in einer pluralistischen Staatenwelt. Sie will von den Realitäten im Nahen Osten nichts wissen. Man erinnert sich noch an den schändlichen Auftritt des deutschen Fußballs bei der WM in Qatar, wo man das Land wegen Ausbeutung und sexueller Unfreiheit an den Pranger stellen wollte. Funktionäre, Journalisten und Spieler verletzten grob das Gastrecht und den Sportsgeist der ersten Fußball-Weltmeisterschaft in dieser Region. Und der Vorsitzende des Deutschen Fußball Bundes fordert jetzt eine „europäische Koalition“ gegen die Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaft 2034 an Saudi-Arabien. 

Nicht eine, sondern zwei Aufgaben 

Die deutsche Außenpolitik muss in der gegenwärtigen Krise zwei Aufgaben im Blick haben. Es ist unbedingt wichtig, Israel in seinem Vorgehen gegen den Terror nachhaltig zu unterstützen. Hier darf es keine faulen Kompromisse geben, wie es die deutsche Stimmenthaltung in der oben erwähnten UN-Abstimmung war. Innenpolitisch muss der Schutz jüdischer Einrichtungen und Bürger wirklich durchgesetzt werden. Der Schutz darf nicht durch eine „neutrale“ Haltung der Behörden verwässert werden. Die deutsche Politik wird nicht daran gemessen werden, welche „Lehren“ aus der Vergangenheit sie verkündet, sondern daran, welche Taten die deutsche Staatsräson hier und jetzt zustande bringt. 

Aber es gibt eine zweite Aufgabe. Die deutsche Politik muss dazu beitragen, dass die gegenwärtige Verengung auf die Palästina-Frage aufgebrochen wird. Es geht um die Einsicht, dass es im Nahen Osten Errungenschaften und Interessen gibt, die weiter führen als der Palästina-Konflikt. Dazu braucht Deutschland ein positives, konstruktives Verhältnis zu den Ländern der arabisch-islamischen Welt. Es muss der Verführung zu einem Kulturkampf widerstehen. Gegen die Massenimmigration aus dem Süden müssen endlich harte Grenzen gezogen werden, aber das darf nicht mit einer wertenden Einmischung in die inneren Verhältnisse der Staaten der Region verbunden werden. Wird die jetzige Politik des erhobenen moralischen Zeigefingers weiterverfolgt, wird auch die Erfüllung der ersten Aufgabe scheitern. Denn dann wird der Kampf gegen den Terror als Hegemonialkrieg des Westens gegen die islamische Welt erscheinen. Das wäre verheerend. Dagegen hilft nur eine positive Grundeinstellung zu dieser Welt. Und ein ausdrücklicher Abschied von der Außenpolitik des erhobenen Zeigefingers.     

Aber ist das nicht zu viel verlangt? 

Kann man in dieser Zeit verlangen, zwei verschiedene Aufgaben zu bearbeiten, die nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind? Wo doch das heute dominierende Denken nur das „eine“ Gute und das „eine“ Böse wahrhaben will.