VW – Die Rekonstruktionsaufgabe

Die Überdehnungskrise des größten deutschen Autobauers kann nur mit einer eindeutig defensiveren Grundaufstellung überwunden werden.
(Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft, Teil III)

VW – Die Rekonstruktionsaufgabe

09. Februar 2025

Die Aufgabe, vor der das Unternehmen Volkswagen steht – und vor der im Grund auch die deutsche Wirtschaft steht – ist anders und schwieriger als die Aufgabe, die sich in einer Strukturwandels-Krise stellt. Bei so einer Krise weiß man, dass nach schmerzhaften Eingriffen ein sicheres neues Ufer schon da ist. Doch im Fall der Autoindustrie gibt es kein sicheres Ufer namens „Elektro-Automobilität“. Und auch das Ufer „Globalisierung“ bietet heute nicht mehr einen konkurrenzlosen Vorsprung und hohe Erträge für die etablierten Automobilhersteller. Die Grundaufstellung, die bisher diese beiden Positionen setzte, erweist sich nun als nicht mehr haltbar. So steht eine schwierige Entscheidung an: Es muss ein strategischer Rückzug angetreten werden.
Allzu sorglose Grundentscheidungen müssen ausdrücklich als Fehlentscheidungen revidiert werden. Ein Teil der Investitionen – in Technologien und in Auslandsstandorte – muss abgeschrieben werden. Das ist auch moralisch schwierig, da der bisherige Kurs ja als kühne Vorwärtsbewegung verstanden und legitimiert wurde. Da erscheint ein Rückzug erstmal als Niederlage und schmähliche Schwäche. Deshalb ist die Neigung groß, einen solchen Rückzug weit von sich zu weisen. Oder ihn immer wieder hinauszuzögern. Und doch gibt es auch die Erfahrung, dass die Unfähigkeit zu einem rechtzeitigen Rückzug zu unvergleichlich größeren Opfern führt. Zu größeren materiellen Opfern und zu größeren moralischen Opfern wegen der Entscheidungsschwäche. So ist es oft doch von Vorteil, wenn man rechtzeitig eine defensivere Aufstellung gewählt hat. um wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.

Der Mut zum Rückzug

Wenn eine Überdehnungskrise vorliegt, ist der Vorwurf an die Führung eines Unternehmens, sie habe „den Wandel verschlafen“, fehl am Platze. Er übt Druck in die falsche Richtung aus. Er treibt die Dinge nur weiter in die falsche Richtung und führt dazu, dass weitere Anstrengungen und Investitionen auf einem Kurs versenkt werden, der zu keinem tragfähigen Neuland führt. Man zeichnet das falsche Bild einer Automobilindustrie, die sich in einer „Übergangsituation“ befinde, die es nur zu „überbrücken“ gelte, damit dann wieder goldene Zeiten anbrechen. Aber die „Brücke“, für die jetzt eine letzte siegbringende „Anstrengung“ gefordert wird, führt ins Leere. Und irgendwann werden diejenigen, die jetzt gegen die „Schwarzmalerei“ zu Felde ziehen, dem Publikum verkünden müssen, dass der große Transformations-Feldzug doch verloren ist. Ja, manches in Deutschland erinnert, wie der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe richtig schreibt, an die letzten Jahre der DDR. Und manches sollte vielleicht sogar an das jähe Ende von 1918 erinnern, dem bekanntlich auch eine große, angeblich „siegbringende“ Offensive vorausging. Die deutsche Geschichte bietet gute Gründe, frühzeitiger als in der Vergangenheit auf Krisenzeichen zu reagieren, die einen eingeschlagenen Kurs fragwürdig machen.
Aber es geht natürlich nicht um einen absoluten „totalen“ Rückzug – etwa in dem Sinn, sich von positiven Erträgen und großer Industrie zu verabschieden, wie es jetzt die Vertreter eines „negativen Wachstums“ predigen. Es geht darum, das richtige Maß des Rückzugs zu finden. Wenn man aus einer Sackgasse herauskommen will, muss man zurückfahren. Und man muss den Punkt finden, wo man gewissermaßen falsch abgebogen ist. Mit Mut allein ist es nicht getan, sondern es ist auch die unternehmerische Vernunft gefragt. Eine defensivere, konservativere Aufstellung findet man nicht, wenn man hinter die industrielle Moderne zurückfährt. Auch nicht, wenn man sich „Industrie“ mit den Bildern des 19. Jahrhunderts vorstellt. Die Automobilindustrie kann anknüpfen an die unternehmerische Vernunft, wie sie in den ersten 30 Jahren der Bundesrepublik erfolgreich war. Und wie sie ihre Erfolge auf vielen Gebieten noch bis in die 2000er Jahre verlängert hat.
Allerdings gab es damals auch schon Tendenzen, in denen sich die heutige Misere andeutete und die als Vorgeschichte der Überdehnung angesehen werden können. Man denke an das „Upgrading“ der Modelle. Der „Golf“ wurde schon zu Verbrenner-Zeiten immer aufwendiger konzipiert und ausgestattet. Er wurde auch immer teurer. Schon in den 90er Jahren wurde er mehr und mehr Fahrzeug der gehobenen Mittelklasse. Jener Klasse, die in dieser Zeit als „Neue Mitte“ durch Politik und Medien geisterte. Es ging um die Bildungsaufsteiger, mit Abitur und Hochschulabschlüssen. Die Facharbeiter als „Ecklohngruppen“ in der Industrie waren damit nicht gemeint.
Eine andere Aufstellung müsste die Verteidigung des Massenverkehrsmittels „Automobil“ zu ihrem strategischen Hauptziel machen. Die Herstellung dieses Massenverkehrsmittels hat VW groß gemacht. Solange dies Ziel galt, war VW in der Lage, seine Investitionen aus eigenen Mitteln zu investieren, wie der Vorstandvorsitzende Blume richtigerweise als unternehmerischen Grundsatz festhält. Wenn man Fahrzeuge bauen will, die für eine breite Mehrheit erschwinglich sind, muss man also wieder zurückkehren zur erprobten, hochentwickelten und massentauglichen Technologie der Verbrenner-Antriebe. Das müsste eindeutig als das Standbein festgelegt sein, was andere Antriebe und Fahrzeugtypen – als Spielbein – nicht ausschließt.
Und auch die „Chinastrategie“, die davon ausging, dass VW durch die globale Verlagerung von Produktions-Standorten in starke Wachstums-Länder eine neue Existenz als Weltkonzern aufbauen kann, war bei Eintritt in die 2000er Jahre schon in Ansätzen da. Die neueren Verschiebungen auf dem Weltmarkt zeigen nun, dass für einen so großen Außenbeitrag zum Unternehmensertrag die Zeiten vorbei sind. VW hat in starken Wachstumsländern wie China keinen großen Vorsprung mehr. Das muss dazu führen, das Verhältnis von Binnenmarkt und Weltmarkt defensiver zu bestimmen: Die Binnenstandorte in Deutschland und Europa müssen das Standbein sein.

Die Rekonstruktionsaufgabe

Das bedeutet, dass man sich eine Wende der Lage nicht einfach als großen „Ruck“ vorstellen sollte, sondern als einen längeren Prozess der Rückverschiebung. Es geht um die Rehabilitierung einfacherer, erschwinglicherer Fahrzeuge. Und um die Rehabilitierung der Fertigung in Deutschland. Notwendig ist dabei nicht ein vollständiger Abschied von E-Mobilität und Auslandsfertigung, sondern ein Wechsel zwischen Standbein und Spielbein. Es geht also um eine Rückverschiebung des Unternehmens zu den Standbeinen, die über viele Jahrzehnte immer wieder fähig waren, sich an Veränderungen maßvoll anzupassen. Nur durch eine Rückverschiebung auf das Standbein des herkömmlichen Fahrzeugbaus mit Verbrennungsmotor und auf das Standbein der Inlands-Fertigung kann man das Maß der Änderungen finden, die für eine „Bodenbildung“ in der aktuellen VW-Krise notwendig sind.
Und es geht noch um eine dritte Rückverschiebung: Die Überdehnung von VW war mit einer Verschiebung der sozialen Verhältnisse und Beziehungen im Unternehmen verbunden: eine neue „gehobene Mitte“, die weder den Unternehmerstandpunkt, noch den Belegschaftsstandpunkt einnahm, wuchs überproportional und schob sich in eine Schlüsselposition. Hingegen wurde der Aufstieg von VW und etliche Jahrzehnte mit hohem Leistungsstandard und gelungener Weiterentwicklung des Fahrzeug-Angebots in der Dualität von Unternehmer-Seite und Belegschafts-Seite vollbracht. Die Grundlage für diese Erfolgsgeschichte war die Tatsache, dass beide Seiten – trotz ihrer Gegensätzlichkeit – eine starke Bindung zum Unternehmen hatten. Das Milieu der „neuen Mitte“ hat diese Bindung nicht, und ist so eine ständige Quelle von Überdehnungen der Unternehmensaufstellung. Hier muss eine Rückverschiebung auf den Dualismus zwischen Unternehmerseite und Belegschaftsseite stattfinden.

Diese drei Rückverschiebungen sind die Grundlage für die Lösung der Rekonstruktionsaufgabe, die sich angesichts Misere der deutschen Wirtschaft stellt. „Rekonstruktion“ ist ein Aufbau, der an älteren Entwicklungswegen und Errungenschaften anknüpft, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte abgebrochen wurden. Dabei geht es wohl um eine moderne Dynamik, aber um eine kontinuierliche Dynamik. „Rekonstruktion“ ist keine Nostalgie für mythische „alten Zustände“. Aber sie wendet sich auch gegen einen anderen Mythos: den Mythos, wir wären in ein ganz neues Zeitalter eingetreten. Der Mythos, dass wir alle Brücken hinter uns verbrennen könnten. Das ist die Vorstellung, die mit dem Wortvorsatz „post“ („nach“) transportiert wird: „postindustriell“, „postkolonial“. „postmodern“… Es ist viel zutreffender, wenn wir die Vorstellung einer großen, vor einigen Jahrhunderten gerade erst angebrochenen „Neuzeit“ oder „Moderne“ beibehalten. Die Misere unserer Gegenwart könnte und sollte dann als eine vorübergehende Verirrung in einigen Ländern und Weltregionen verstanden werden. Es ist dann auch keine Verirrung auf Grund irgendeiner „Rückständigkeit“, sondern eine Verirrung, die in fortgeschrittenen Ländern stattfindet, die sich aufgrund ihrer Erfolge in einer täuschenden Machbarkeit der Welt und Leichtigkeit des Daseins besteht. Eine Machbarkeit und Leichtigkeit, die weder der Industrie noch der Moderne insgesamt zu eigen ist. Die Krise ist keine Krise der Moderne, sondern eine Krise des Versuchs, die Moderne durch eine „große Transformation“ zu überwinden und einfach mal eben eine ganze neue Ära aus der Taufe zu heben. Welch naiver Glaube hier am Werk ist, zeigt sich darin, dass nun schon nach relativ kurzer Zeit die Rechnungen der „ganz neuen Ära“ nicht aufgehen.

Die Rekonstruktionsaufgabe können wir nur verstehen, wenn wir uns im Denken und Handeln von der Vorstellung immer neuer „Zeitenwenden“ verabschieden. Und
wenn wir stattdessen die Stetigkeit des (komplexeren und langsameren) Fortschreitens der klassischen Moderne wieder aufnehmen und weiterführen. In diesem Sinn geht es um eine Rehabilitierung der unternehmerischen Vernunft.
Das Bild, das den Unternehmer als eine moderne Heldenfigur zeichnet, führt leicht in die Irre. Seine Bewährung besteht nicht nur in besonders kühnen Projekten und bahnbrechenden Erfindungen. Es gibt auch kein höheres Gesetz, das jedes Unternehmen zur Orientierung auf „Hightech“ zwingt. Ebenso wenig bestehen die „modernen Zeiten“ in einem monotonen „Vorwärts, Vorwärts!“. Eher geht es um Tempowechsel. Längere Perioden des langsamen Fortschreitens in kleinen Schritten gehören auch dazu, sogar Perioden der Stagnation. Technologische Sprünge, die ganze neue Basis-Technologien hervorbringen, sind eher die Ausnahme als die Regel. Solche Sprünge können auch nicht durch „Forschungspolitik“ künstlich erzeugt werden. Die gegenständliche Welt gibt Entdeckungen und Entwicklungen nicht dann frei, wenn die Menschen es wollen. Deshalb besteht die unternehmerische Vernunft darin, dass sie diese objektive Sperrigkeit der Welt akzeptiert. Daraus folgt die Aufgabe, den Stand der technischen Entwicklung ständig sorgfältig und ergebnisoffen zu prüfen.
In dieser Hinsicht ist die Diagnose, die der österreichische Ökonom Joseph A. Schumpeter zur Krise von 1929 gestellt hat, interessant. Schumpeter, dessen Beitrag eigentlich vor allem mit der „produktiven Zerstörung“ in Verbindung gebracht wird, sah die Krise von 1929 als Resultat einer „Überschätzung“: Es sprach von „übertriebenen Gewinnerwartungen“ während der zweiten industriellen Revolution in den 1920er Jahren. Diese Gewinnerwartungen hätten die allgemeine Risikobereitschaft so gesteigert, dass viele Investments auf großen Schulden basierten. Schumpeter weist also auf die Bedeutung einer realistischen Einschätzung von technologischen Entwicklungen hin.
Doch eine solche realistische Einschätzung liegt für die Antriebstechnologie im Fahrzeugbau nicht vor – nicht von VW oder anderen Automobilunternehmen, nicht von Deutschland, Europa oder anderen Weltregionen. Es gibt nicht einmal eine fundierte Debatte zwischen unterschiedlichen Einschätzungen. Sie wird ersetzt durch Begriffe wie „Zuversicht“, die das Fehlen einer belastbaren Einschätzung überspielen. Es ist daher falsch, auf einer so schwachen Grundlage für die E-Mobilität pauschal das Zertifikat „Zukunftsinvestitionen“ auszustellen, und in ihrem Namen die gesamte herkömmliche Technologie zum alten Eisen zu werfen.

Der VW-Sanierungsplan verfehlt die Rekonstruktionsaufgabe

In dem bereits zitierten FAZ-Interview mit dem VW-Chef Oliver Blume fragen die Journalisten nach den Veränderungen, die Blume vom Wirtschaftsstandort Deutschland erwartet:
„Zunächst einmal müssen wir unsere eigenen Hausaufgaben machen. Gleichzeitig muss das Wirtschaftsmodell Deutschland adjustiert werden. Unsere Industrie hat lange davon gelebt, dass wir hier hervorragende Produkte entwickeln und produzieren, um sie in die ganze Welt zu liefern. Jetzt sehen wir geopolitische Verschiebungen und Protektionismus. Und technische Regulierungen, die sich global stark auseinanderentwickeln.“
Das berührt sehr wohl die kritischen Punkte, aber es bleibt merkwürdig vage. Es herrscht eine merkwürdige Zweiteilung: auf der einen Seite „die Hausaufgaben“ (die Blume erledigen will) und auf der anderen Seite eine „Adjustierung“ des deutschen Wirtschaftsmodells (die nicht präzisiert wird). Hat der Chef des größten deutschen Autobauers nicht ein gewichtiges und vor allem konkretes Wort zu den notwendigen Veränderungen dieses Wirtschaftsmodells zu sagen? Kann er seine Aufgaben bei VW überhaupt erfüllen, solange sie ganz wesentlich von einem Wirtschaftsmodell vorgegeben werden, das gar keinen Raum für die unternehmerische Vernunft lässt? Und kurz darauf gleitet er in eine platte „Aufbruchs“-Rhetorik ab, auf die er als Unternehmer gerade nicht ausweichen darf:
„Deutschland braucht einen Aufbruch – weg vom Standstreifen zurück auf die Überholspur. Wichtig sind zum Beispiel: geringere Abgaben, Abbau bürokratischer Hürden, bezahlbare Energie, Sicherheit bei Förderzusagen. Das wäre im Sinne von Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätzen und künftigem Wohlstand.“
Das ist keine Liste präziser Maßnahmen, die jetzt in diesem Land für das Weiterbestehen der Automobilindustrie unabdingbar sind. Sie werden kaum in der Lage sein, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen.
Auch die Neuaufstellungen, die Blume vom Sanierungsprogramm bei VW berichtet, wirken merkwürdig unentschlossen. Man will kein Ziel streichen, und auf dieser Basis das beseitigen, was Kunden bisher vom E-Mobil-Kauf abhielt. VW will preisgünstigere E-Automobile anbieten. Es sollen wieder stärker hybride Fahrzeuge (Mischformen von E-Motoren und Verbrenner-Motoren) angeboten, um den Reichweiten-Problemen entgegenzuwirken. Die Probleme bei der Batterie-Produktion sieht Blume als kurzfristig lösbar an. Zu den Problemen in China macht der VW-Chef eine sehr forsche Aussage: „In China liegen noch ein zwei schwierige Jahre vor uns. Es wird zu Kapazitätsanpassungen kommen.“ Aber dann: „Wir haben alle Möglichkeiten, um in China auch in Zukunft erfolgreich zu sein – mit lokaler Entwicklungskompetenz, mit auf die lokalen Kundenwünsche angepassten Fahrzeugen und mit wettbewerbsfähigen Kosten.“ Aber ist es nicht gerade China, das all die „lokalen“ Produktionen, die es selber meistert, auch in die eigenen Hände zu überführen? Und was die technologische Zukunft des Automobilbaus betrifft, erneuert der VW-Chef seine einseitige Festlegung: „Die grundsätzliche strategische Richtung hin zur E-Mobilität ist klar.“ Eine forsche Ansage machte auch der Markenchef der Volkswagen AG, Thomas Schäfer, in der Bild am Sonntag: „Wir wollen auch im Elektrozeitalter die Nummer eins in Europa sein – mit mindestens drei VWs im Top-zehn-Ranking der EU.“
Man kann schon jetzt prognostizieren, dass diese forschen Zukunftserklärungen als bloße Stimmungsmache und grobe Verletzung der unternehmerischen Vantwortungt scheitern werden. Auf jeden Fall wird auf dieser Grundlage kein großes Automobilunternehmen mit hohen Absatzzahlen für ein breites Publikum wiederhergestellt werden. Vertrauen von Kunden, Belegschaft und Investoren wird durch diese Unentschiedenheit und Unübersichtlichkeit nicht zu gewinnen sein. VW hat sich nur etwas Zeit gekauft. Aber diese Zeit könnte bald schon abgelaufen sein.

Eine EU-Verordnung, die sich nun als ruinös erweist

Am 11.10.2024 berichtet die FAZ von einem gemeinsamen Positionspapier der Wirtschaftsminister der Bundesländer Niedersachsen, Hessen, Sachsen, Berlin (alle SPD), in dem sie die Bundesregierung und die EU-Kommission auffordern, „die geltende abrupte Absenkung der CO2-Flottengrenzwerte durch eine flexible Absenkung zu ersetzen“. Ein Überschreiten der Grenzwerte, deren Verschärfung für das Jahr 2025 festgelegt ist, werde milliardenschwere Strafen nach sich ziehen, die nötige Investitionen erschwere. Der europäische Automobilverband ACEA hatte schon im September kurzfristige Erleichterungen gefordert, weil ansonsten Strafzahlungen von bis zu 15 Milliarden Euro drohen. Eine Überprüfung der Flottengrenzwerte durch eine Expertenkommission, die die EU-Kommission für 2025 in Aussicht gestellt hatte, komme zu spät. Das Positionspapier der SPD-Wirtschaftsminister (es ist in der FAZ vom 14.10.2024 abgedruckt) weist darauf hin, dass die Berechnung auf Basis der Gesamtflotte eines Herstellers die traditionellen Automobil-Hersteller gravierend benachteilige, die bisher die Kunden mit Verbrenner-Automobilen versorgen und dafür große Belegschaften haben. Neugegründete, reine E-Mobil-Hersteller, mit viele weniger Beschäftigten seien nicht betroffen.
Der FAZ-Artikel berichtete von mehreren Treffen zwischen der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und den Chefs verschiedener Automobilkonzerne. Und er berichtete, dass die Kommission an den Flotten-Grenzwerten und Strafen für 2025 festhielt. Begründet wurde dies damit, dass die CO2-Ziele für 2025 schon 2019 vom Europaparlament und vom EU-Ministerrat verabschiedet wurden. Die Branche hätte mithin genügend Zeit gehabt, sich auf die gesetzten Ziele vorzubereiten. Damit wurde behauptet, dass alles erfüllbar sei, wenn man sich nur rechtzeitig anstrengt. Das war eine dreiste Schuld-Zuweisung seitens der EU-Kommission. Denn inzwischen war längst klar, dass die damaligen EU-Grenzwert-Beschlüsse auf völlig illusorischen Einschätzungen beruhten: Man ging von einem boomenden Markt für E-Automobile aus. In Wirklichkeit war dieser Markt im Herbst 2024 schon seit längerer Zeit dramatisch rückläufig. Die Flotten-Grenzwert-Beschlüsse gingen auch davon aus, dass die europäischen Autobauer bei der E-Mobilität große Exporterfolge erzielen würden. In Wirklichkeit waren inzwischen längst chinesische Hersteller weltweit auf dem Vormarsch. Angesichts dieser Lage wäre die Reduktion der CO2-Flottenemission, die notwendig wäre, um die EU-Grenzwerte für das Jahr 2025 einzuhalten und Strafzahlungen zu vermeiden, unerreichbar – es sei denn, die Autounternehmen würden einen Großteil ihrer Verbrenner-Fahrzeuge aus ihrem Angebot entfernen. Damit hat sich die so unscheinbare EU-Verordnung de facto in ein radikales Stilllegungsprogramm verwandelt.

Das Verbrenner-Verbot hat schon begonnen

Aber gibt es eventuell ein Einlenken der EU-Kommission und eine Korrektur der Verordnung? Diesen Eindruck erweckt ein Artikel, der am 31.Januar 2025 in der FAZ unter der Überschrift „Keine CO2-Strafen für VW und Co?“ erschienen ist. Dort heißt es, die Kommission sei „offensichtlich umgeschwenkt“. Ein Aktionsplan, den der zuständige EU-Verkehrskommissar am 5.März 2025 vorlegen will, soll zwar die bekannten Transformationsziele „Förderung von Innovationen, Umstellung auf Elektromobilität, Bau von Ladeinfrastruktur, Batteriefertigung und Umschulung von Arbeitskräften“ wiederholen, aber der FAZ-Artikel fügt hinzu: „Hoffnung können die Autokonzerne aber aus der Zusicherung schöpfen, einen pragmatischen Regelungsrahmen schaffen zu wollen.“ Die Hoffnung soll also auf das Wörtchen „pragmatisch“ gebaut werden. Da hätte man doch gerne Näheres erfahren. Im FAZ-Artikel wird folgende Passage aus einem „Wettbewerbsfähigkeits-Kompass“ zitiert, der noch schnell dem EU-Aktionsplan hinzugefügt worden war:
„Im Rahmen des Dialogs werden wir sofortige Lösungen finden, um die Investitionsfähigkeit der Industrie zu sichern, indem wir mögliche Flexibilitäten prüfen, um sicherzustellen, dass unsere Industrie wettbewerbsfähig bleibt. Ohne die 2025-Ziele zu entschärfen.“
Die EU will also an den Grenzwerten festhalten, aber gleichzeitig „Flexibilitäten prüfen“. Wie soll man sich das vorstellen, was ja eigentlich ein Widerspruch in sich? Und da zitiert die FAZ nun den Europaabgeordneten Peter Liese (CDU):
„Unsere Fraktion will Unternehmen, die die Ziele 2025 nicht erreichen, ermöglichen, Strafzahlungen durch die Übererfüllung der Ziele in den Jahren 2026 und 2027 zu vermeiden.“
Das ist nun freilich eine echte Falle für die Automobilunternehmen. Sie sollen die Ziele hinnehmen, aber gewissermaßen „Erfüllungs-Schulden“ aufnehmen. Sie müssten dann in der Jahren 2026 und 2027 die Grenzwerte stärker unterschreiten, um ihre Erfüllung-Schulden von 2025 auszugleichen. Oder, wenn sie das nicht schaffen, müssten sie einen aufsummierten und daher viel größeren Straf-Betrag zahlen. Damit werden die CO2-Flottengrenzwerte ab dem 1.1.2025, von denen ja nicht der mindeste Abstrich gemacht worden ist, im Nachhinein erst recht ruinös. Es wird also nur scheinbar Milde gewährt, um dann umso härter zuzuschlagen. Einen ähnlichen Vorschlag wie die CDU-Europaparlamentarier hat übrigens der deutsche Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) schon im Dezember 2024 gemacht.
Das Ganze erinnert an jenen alten Mechanismus, durch den arme Bauern nach schlechten Ernten durch billige Kredite in Abhängigkeit von einem reichen Geldgeber gerieten. Diese Bauern konnten in der Regel gar nicht die Erträge erwirtschaften, um aus den Schulden wieder herauszukommen. Sie versanken in einer immer drückenderen Schuldknechtschaft. In eine ähnliche Falle führt eine zeitlichen „Verrechnung“ von Emissions-Strafzahlungen. Ein finsteres Kapitel der Wirtschafts- und Sozialgeschichte lässt grüßen.

Die Überdehnung wird zur Enteignung

Die Affäre um die Flottengrenzwerte zeigt, dass sich die Überdehnungskrise, in der das Unternehmen VW und ein Großteil der europäischen Autoindustrie steckt, mit dem Jahr 2025 zuspitzen könnte. Denn die beiden großen Überdehnungen kommen hier und jetzt zusammen: Die Märkte für die E-Mobilität brechen zusammen, weil eine Technologie, die unter ökologischen Vorzeichen den Unternehmen auferlegt wurde, sich als zu teuer und unpraktisch erweist. Und zugleich findet auch an der Globalisierungsfront eine Verschlechterung statt. Die großen Automobilkonzerne müssen hohe Kosten für Investitionen vor Ort aufbringen, um in einem viel stärker geteilten Weltmarkt nach dem Prinzip „local to local“ weiter präsent zu sein. Die Unternehmen könnten sich genötigt sehen, ihre Produktion von Verbrenner-Fahrzeugen in andere Teile der Welt, deren Märkte kein technologisches Zwangskorsett haben, auszulagern. Und in Europa bliebe dann nichts mehr übrig als eine E-Mobil-Produktion ohne breite Käuferschichten. Und wer glaubt im Ernst, dass man die Leute mit einer vorgezogenen Zwangsreduzierung der Verbrenner-Produktion und mit immer höheren Zwangsabgaben für Benzin und Diesel zur E-Mobilität prügeln kann?
Wir stehen vor der Zuspitzung einer Krise, in der ein ganzer Industriezweig auf verlorenem Posten steht. Eigentlich könnte er hervorragende und bewährte Produkte liefern, für die es auch einen Bedarf gibt. Eigentlich verfügt er über leistungsfähige, zuverlässige Produktionsanlagen und Belegschaften, die das Resultat einer langen Entwicklungsgeschichte sind. All das ist noch da. Es steht noch bereit. Aber jetzt wird es nicht mehr irgendwie in eine große Epoche der E-Mobilität „übergeleitet“. Nein, es wird stillgelegt. Es wird den Kunden, den Belegschaften, den Unternehmern weggenommen. Die erheblichen Kürzungen und Stilllegungen an den verschiedenen VW-Standorten sind Einschnitte, die viel zu tief gehen, um bloße „Anpassungen“ zu sein. Es wird jetzt immer deutlicher, dass hier eine Enteignung stattfindet. Eine technologische Enteignung, die sich Produktionsmitteln und Arbeitsplätzen materialisiert.
So wird die Überdehnungskrise – weil es keine Rückverschiebung gibt – zu einer Enteignungskrise. Bisher konnten die Begründungen, die zur „unvermeidlichen Verkehrswende“, zur „unaufhaltsamen Globalisierung“ und zur „großen Transformation“ vorgetragen wurden, als gedankliche Irrfahrten angesehen werden. Doch jetzt wird die Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit, die diese Begründungen schon enthielten, zur materiellen Zwangsgewalt. Die Affäre um die EU-CO2-Flottengrenzwerte zeigt eine eiskalte Bereitschaft, jetzt vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Enteignung marschiert.
Auch Sätze wie „Das ist mit den EU-Regeln unvereinbar“ oder „Das ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts unvereinbar“ bekommen nun einen anderen Klang. Sie bedeuten nun, dass diejenigen, die diese Regeln und Urteile beschlossen haben, bereit sind, dafür fundamentale Rechte, Güter und Fähigkeiten zu opfern. Und mehr noch: Dass sie die Auflösung tragender Strukturen von Wirtschaft und Staat eines modernen Landes billigend in Kauf nehmen. In einer der größten deutschen und europäischen Industriezweige ist die Zerstörung der Unternehmens-Landschaft eine unmittelbare Gefahr. Sie wird ihrer Fähigkeit beraubt, aus eigenen Mitteln positive Erträge zu erwirtschaften, und so aus eigener Kraft die eigene Existenz zu behaupten.

Die Unternehmen sind der Schlüssel

Durch diese neue Situation bekommt die Rekonstruktionsaufgabe eine zusätzliche Dringlichkeit. Es ist hier noch nichts wirklich gelöst, aber es ist doch schon etwas Gutes geschehen im Land: Die Unternehmen sind stärker in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Die Einschätzungen der Unternehmer zu ihrer Lage und zu ihren Zukunftsaussichten werden mit größerer Aufmerksamkeit verfolgt. Der Glaube, dass es ein Naturgesetz der Marktwirtschaft gibt, nach dem die Dinge bei irgendwelchen Abstürzen wie von selbst wieder auf die Füße kommen, ist brüchig geworden.
Das bietet die Chance einer Rehabilitierung der unternehmerischen Vernunft. Diese Vernunft ist nicht nur etwas, das „die Unternehmer“ haben sollten, sondern das die ganze Wirtschaft eines modernen Landes bestimmen sollte. Es geht um die Erkenntnis und Erfahrung, dass eine moderne Wirtschaft produktive Grundeinheiten braucht, die aus eigenen Mitteln stetig eine Mehrprodukt schaffen können und tatsächlich schaffen. Also Grundeinheiten, die eigenständige Einheiten sind, die nicht von fremder Hand eingesetzt sind, und nicht von ihren Regelungen und Subventionen existenziell abhängig sind. Die nicht bloße Diener und Handlanger zur Umsetzung von höheren Vorgaben, Regeln oder Werten sind. Die Unternehmen sind die Souveräne des Marktes, die Festungen der Freiheit. In ihnen entscheidet sich die Produktivität einer Marktwirtschaft. Sie müssen die verschiedenen Faktoren und Ressourcen zusammenbringen. Sie sind der entscheidende Bilanzort der Wirtschaft. Die Marktwirtschaft eines modernen Landes müsste deshalb eigentlich „unternehmerische Marktwirtschaft“ heißen. Denn das ist das wichtigste Spezifikum, dass die moderne Marktwirtschaft von der Marktwirtschaft früherer Geschichtsepochen unterscheidet. Das Spezifikum, das die Wirtschaft als eine eigenständige Sphäre von der politischen Sphäre unterscheidet. Deshalb ist es im Grunde eine Entmündigung der unternehmerischen Marktwirtschaft, wenn man sie in „soziale Marktwirtschaft“ umtauft, oder – in unseren Tagen – in „ökologische Marktwirtschaft“. Ist hier nicht ein großer Opfergang vorprogrammiert, wenn man „die Gesellschaft“ oder „die Natur“ zum Leitmotiv der Marktwirtschaft erklärt? Man stellt die Marktwirtschaft unter tendenziell unendliche Größen und macht sie anfällig für alle möglichen Übergriffe. Die Unternehmen, die mit ihrem Produktivitäts-Gesetz solche unendlichen Größen konterkarieren könnten, waren lange Zeit zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Jetzt führt kein Weg an ihrer Rehabilitierung vorbei.

Das könnte auch zur Überwindung eines falschen Gegensatzes führen: zur Überwindung der Vorstellung, dass die Unterschiede, die zwischen der Unternehmerseite und der Belegschaftsseite bestehen, antagonistische Widersprüche sind. Also zur Überwindung der Vorstellung einer unüberwindlichen Feindschaft zwischen beiden Seiten. Es gibt ja eine vielfach unterschätzte und allzu schnell wieder verdrängte Erfahrung der Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik gewesen: dass Unternehmerseite und Belegschaftsseite auf Grund ihrer Zugehörigkeit zum Unternehmen miteinander verbunden sind. Und dass sie deshalb Sozialpartner werden können. Das wurde schließlich auch vom Godesberger Programm der SPD reflektiert, aber es war in den Betrieben gewachsen, bevor es politisch aufgegriffen werden konnte. Die Sozialpartnerschaft ist also eine genuin unternehmerisch-marktwirtschaftliche Partnerschaft. Sie ist nicht etwa eine Frucht der „sozialen Marktwirtschaft“. Eher sind unter Berufung auf neue „gesellschaftliche“ Ansprüche neue Widersprüche in die Sozialpartnerschaft hineingetragen worden. Dazu gehört zum Beispiel der Anspruch, dass die ganze Gesellschaft einen Anspruch auf Bildungsaufstieg und entsprechende Arbeitsplätze hat. Ein noch größerer Zwiespalt wurde in die Sozialpartnerschaft hineingetragen, als zusätzlich zu den sozialen noch „ökologische“ Ansprüche in die Unternehmen hineingetragen wurden. Durch sie wurde die produktive Vernunft der Unternehmen massiv in Frage gestellt. So kann man sich vorstellen, wie die Delegitimierung der unternehmerischen Vernunft und die Entwertung der betrieblichen Bindungen sich Jahr für Jahr tiefer ins Land und seine Unternehmens-Landschaft gefressen hat. Und wie es soweit kommen konnte, dass wir jetzt, im Jahr 2025, tatsächlich eine veritable Unternehmenskrise in Deutschland haben.

Allerdings sollte man einer Tatsache, die gegenüber der Situation der Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik neu ist, ins Auge sehen. Man könnte ja annehmen, dass die Unternehmensbindungen der damaligen Zeit dadurch begründet waren, dass es Aufbau-Jahre waren und deshalb Zugewinne sowohl für die Unternehmerseite als auch für die Belegschaftsseite ermöglichte. Dass es also eine sogenannte Win-Win-Situation war. In der heutigen Zeit liegen die Tatsachen anders. Es stehen keine zusätzlichen großen Gewinne in Aussicht. Die Rückverschiebungen, die die Rekonstruktions-Aufgabe prägen, können solche Gewinne redlicherweise nicht versprechen. Sie können nur die Wiederherstellung einer tragfähigen Unternehmens-Grundlage versprechen. Das schließt positive Erträge ein, aber sie werden weder die Gewinne der Zeiten des „Wirtschaftswunders“ noch die Zeiten des „Exportweltmeisters“ erreichen.
Das bedeutet, dass die Schlüsselrolle der Unternehmen nicht zu vordergründig auf das Versprechen einer neuen Win-win-Situation gebaut werden sollte. Die Begründung dieser Schlüsselrolle muss defensiver und elementarer ausfallen: Es geht in dieser Zeit um eine Selbstbehauptung der deutschen Wirtschaft. Exemplarisch dafür geht es um die Selbstbehauptung von VW als einem Großunternehmen der Automobilindustrie – einem Unternehmen, das für die Verfügbarkeit des Automobils als Massenverkehrsmittel für breite Bevölkerungsschichten unabdingbar ist.

Der längere Hebel

Es gibt hierzulande durchaus einen beträchtlichen sozialen Sektor, der bereit ist, die Automobilindustrie und das Auto als Massenverkehrsmittel zu opfern. VW ist ihm egal. Es ist ein Sektor, der bereit ist, seine Ziele mit allen Mitteln zu verfolgen – mit rücksichtsloser, kalter Abwicklung; mit arglistiger Täuschung; mit dem Bluff des „geht rechtlich nicht“, mit der Berufung auf „die“ Wissenschaft. Auch der Hebel der massenmedialen Aufblähung gehört dazu. Dagegen nur die besseren Argumente zu haben, reicht nicht. Der Sektor wird noch manchen „Sieg“ auf seinem Spielfeld davontragen: beim täglichen Beschwören und Beschreien finsterer Katastrophen. Manche Stilllegung ist da schnell durchgesetzt. Manches „innovative Projekt“ lässt sich toll in Szene setzen. Aber davon wird das Land nicht satt, sicher und sauber.
An dieser Stelle hat die große Transformation ihren wunderbaren Haken: Diejenigen, die da die Unternehmen und ihre produktiven Fähigkeiten enteignen, sind keineswegs in der Lage diese Fähigkeiten irgendwie zu übernehmen und im Ertrag zu ersetzen. Man sehe sich die Leute, die die großen „Wenden“ ausrufen, nur einmal näher an: Sie haben von Tuten und Blasen keine Ahnung. Sie haben weder Kraft noch Ausdauer zu täglicher, handfester Arbeit. Da liegt ihr süßes Geheimnis: Die Anhänger der großen Transformation. Sie erwarten insgeheim, dass andere diese Arbeit für sie erledigen. Man höre sich nur an, was sie heute zur Überwindung der Arbeitskräfte-Knappheit vorschlagen. Alles kommt vor, nur nicht eine drastische Reduzierung des heutigen Akademiker-Anteils von über 50 Prozent eines Jahrgangs.
So kann man in den kommenden Jahren mit folgendem Szenario rechnen: Es wird im Lande an immer mehr Stellen eine bedrückende Knappheit ausbrechen. Und diejenigen, die reale Betriebe führen können, und diejenigen, für die reale Arbeit kein Problem ist, werden in dieser Knappheit eher Wege zu ihrem Auskommen finden als die Prediger der „Zuversicht“.
Mit diesem Wechsel des Spielfelds eröffnen sich viele Möglichkeiten, Druck auszuüben. Auf diesem Feld liegt der längere Hebel, mit dem die Überdehnung ausgehebelt werden kann. Und mit dem dann auch, auf sicheren Boden, der konstruktive Wiederaufbau geschafft werden kann.

VW – Eine Überdehnungskrise

Die Volkswagen-AG ist nicht in eine unhaltbare Position geraten, weil sie zu sehr einem unternehmerischen „Egoismus“ gefolgt ist, sondern weil unternehmensfremde Sichtweisen und Ziele dominant geworden sind.
(Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft, Teil II)

VW – Eine Überdehnungskrise

02. Februar 2025

Wenn man genau hinsieht, was VW in die Krise gestürzt hat und was das Unternehmen weiterhin in einer unhaltbaren Situation hält, dann sind es nicht Fehlentscheidungen, die aus der inneren unternehmerischen Logik erwachsen sind. Die also auf ein „zu viel“ an unternehmerischem Denken zurückzuführen sind. Nein, es sind äußere, unternehmensfremde Sichtweisen und Ziele, die ins Unternehmen eindringen konnten. Der Autobauer wurde dadurch überlastet und in seinem Handeln überdehnt. Das Modewort „Herausforderungen“ spiegelt das wider – und verharmlost es zugleich, denn „Herausforderung“ ist mit der Vorstellung verbunden, dass es um etwas im Prinzip Erfüllbares geht. Es ist dann nur eine subjektive Frage, ob man die Herausforderung „annimmt“ oder nicht. In dem bereits zitierten Interview mit dem VW-Chef Oliver Blume (FAZ, 23.12.2024) wird er gefragt: „Nächstes Jahr drohen in Europa Strafzahlungen, weil die Autobranche strengere CO2-Regeln nicht einhalten kann. Wie teuer wird es für Volkswagen?“ Blume antwortet: „Die Ziele sind tatsächlich extrem anspruchsvoll.“ Das ist genau jene „leichte Sprache“, die den Eindruck erweckt, hier würde ein Anspruch an das Unternehmen gestellt, der zwar groß, aber doch irgendwie erfüllbar sei. In Wirklichkeit werden die Strafzahlungen, wenn sie nicht noch abgeschafft werden, ruinös für große Autounternehmen, die sowieso schon in großen Ertragsschwierigkeiten stecken. Es geht bei VW jetzt nicht um subjektive Bereitschaft und Moral, sondern um die objektiven Bedingungen der Wertschöpfung. Man kann 100mal den Klimawandel beschwören, aber wenn die Maßnahmen, die ihn (angeblich) eines Tages aufhalten sollen, jetzt die Produktivität der Unternehmen zerstören und sie nichts und niemand mehr bezahlen können, wird die „Klimarettung“ zu einer absurden Veranstaltung. Es ist daher ein richtiger Impuls, dass inzwischen eine Mehrheit im Lande die Krise der Wirtschaft mit größerer Sorge betrachtet als die Veränderungen beim Klima.
Man muss also insgesamt die Verschiebungen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten bei VW durch neue Ansprüche, die von außen an das Unternehmen herangetragen und in das Unternehmen hineingetragen wurden, neu betrachten und neu bewerten.

Zwei unhaltbare Positionen der Grundaufstellung von VW

Eine große Verschiebung, die sich jetzt als unhaltbar erweist und ganz wesentlich zur VW-Krise geführt hat, ist eine technologische Verschiebung. Sie erfolgte im Namen der Klimarettung: Die CO2-Emmissionen der Verbrenner-Motoren galten als Verursacher der Klimakrise. Über die Einstufung der CO2-Emissionen und aller ihrer angeblichen Folgen als externe Kosten, die es unbedingt zu internalisieren gelte, sollte eine fundamental andere Technologie, die Elektro-Motoren, als kostengünstiger erscheinen. Gegenüber den gigantischen Kosten der Klimakrise, sollten sich die zusätzlichen Kosten der E-Mobilität ökonomisch rechnen. Die fundamentale technologische Verschiebung sollte als „Gewinn“ verbucht werden können. Doch es ist etwas anderes geschehen. Der Wechsel von der Verbrenner-Technologie zur Elektro-Technologie hat sich in der Fahrzeug-Herstellung und in der Versorgungs-Infrastruktur als so teuer und unsicher erwiesen, dass der Fahrzeug-Absatz zusammengebrochen ist. Der Wechsel, der als Internalisierung externer Kosten begründet wurde (und nach wie vor so begründet wird), hat sich als Schritt ins Leere erwiesen. Als Massenverkehrsmittel für ein breites Publikum hat sich das E-Automobil als untauglich und unerreichbar erwiesen. Eine überzogene Internalisierung externer Kosten ist hier exemplarisch gescheitert: Sie führt hier nicht zu einer Erweiterung einer Volkswirtschaft, sondern zu einer Unerreichbarkeit von Gütern, die bisher erreichbar waren. Sie führt zur Verkleinerung von volkswirtschaftlicher Aktivität. Der Massenmarkt für Automobile schrumpft zu einem Sondermarkt für gehobene Schichten. Die Internalisierung ökologischer Kosten wurde einerseits durch politische Setzungen (zum Beispiel CO2-Preisaufschläge auf die fossilen Kraftstoffe) durchzusetzen versucht. Diese Internalisierung wurde andererseits aber auch von zahlreichen Automobil-Unternehmen als strategisches Ziel beschlossen.
Diese Internalisierung ist jetzt in der Krise, und das Unternehmen VW steht – als Großserienhersteller des Massenverkehrsmittels Automobil – mitten in dieser Krise.
Diese Internalisierung ökologischer Kosten kann man in einer größeren historischen Perspektive betrachten. Sie ist nicht die erste Großkrise durch eine überzogene Internalisierung, mit der sich die Moderne auseinandersetzen musste. Im 19. Jahrhundert war die Moderne mit der „sozialen Frage“ konfrontiert. Sie musste tatsächlich elende Zustände der Industriearbeiterschaft überwinden und diese Internalisierung gelang auch, soweit sie im Rahmen einer wachsenden Produktivität geschah. Das richtige Maß war durchaus nicht konfliktfrei zu finden, sondern war mit erheblich sozialen Auseinandersetzungen verbunden. Aber es musste verhindert werden, dass die soziale Frage sich zu einem grenzenlosen Konflikt steigerte. Diese Radikalisierungsgefahr war im 19. Jahrhundert real: Eine starke Strömung wollte die unternehmerische Vernunft (den Kapitalismus) als „Ursache“ für eine unaufhaltsame Verelendung der Mehrheit der Gesellschaft abschaffen. Aber die Moderne überstand diese Drucksituation. Sie marschierte nicht in eine wirtschaftliche Selbstzerstörung im Namen der „sozialen Kosten“. Jetzt aber sehen sich die Länder, die die Radikalisierung der sozialen Frage vermieden haben und sich über längere Zeit erfolgreich entwickelt haben, mit einer neuen Radikalisierung konfrontiert. Sie erfolgt von der Seite der Umweltbedingungen, im Namen der „ökologischen Frage“. Und wieder geht es darum, die Gefahr einer grenzenlosen Internalisierung – einer Internalisierung um jeden Preis – abzuwenden. Die Internalisierung muss im Rahmen der produktiven Möglichkeiten gehalten werden. Vor allem auch im Rahmen der realen technologischen Möglichkeiten. Und wiederum geht es darum, die Beschwörung terminaler Krisen zurückzuweisen: Diesmal muss die unternehmerische Vernunft gegen die finstere Mär von der Überhitzung des Planeten verteidigt werden.

Ein anderer Teil der Krise betrifft das Verhältnis zwischen Inlands- und Auslandsstandorten von VW. VW ist traditionell ein Hersteller mit großen Inlandsstandorten, der aber in den vergangenen Jahrzehnten einen erheblichen Anteil der Fertigung und der Zulieferer ins nähere und fernere Ausland verlagert hat. Das ging so weit, dass am Ende der Hauptteil der Überschüsse von VW in China erwirtschaftet wurde. Diese Auslagerung ist Folge des Versuchs, die Aufstellung von VW auf dynamischere Märkte auszurichten. Man versuchte also, die Globalisierung in eine erweiterte Aufstellung des Konzerns „einzubauen“. Diese Internalisierung ging eine Zeit lang gut, aber inzwischen ist diese Ausdehnung des Unternehmens fragwürdig geworden. Es geht dabei nicht nur darum, dass bei der Ausdehnung einzelne Fehler gemacht wurden, sondern darum, dass solche Weltkonzerne des Automobilbaus aus tieferen, guten Gründen überholt sind. Der Umkreis der Weltregionen und Länder, die eigene Großunternehmen der Automobilherstellung aufbauen konnten und die in fast allen Fahrzeugklassen inzwischen konkurrenzfähig sind, ist gewachsen. Der alte Vorsprung, der VW zu einem führenden Weltlieferanten machte, ist dahin, und es kann auch nicht erwartet werden, dass das Unternehmen einen solchen Vorsprung wieder erringen kann. Hier hat ein Umschlagen in der Problemstellung stattgefunden: Nicht ein zu enger Binnenmarkt ist in der Krise und die Globalisierung von Autounternehmen ist der Ausweg. Vielmehr ist jetzt ist dieser Ausweg in der Krise – wegen der Pluralisierung der Unternehmenswelt in der Automobilherstellung.
Diese Ausdehnung des Unternehmens Volkswagen im Namen der „Globalisierung“, die sich nun großenteils als Überdehnung herausstellt, lässt sich – wie der Internalisierung ökologischer Kosten – in einem größeren historischen Zusammenhang verstehen. Es ist hier ein geheimer Glaube am Werk, der im Grunde ein sehr naiver Glaube ist: Man glaubt an ein höheres Gesetz, das zu immer größeren Einheiten von Wirtschaft und Staat führt. Dass alles immer mehr „weltweit“ wird, soll ein Zeichen von „Fortschritt“ und „Gang der Geschichte“ sein. Bei näherem Hinsehen werden als Beleg aber nur die Ströme von Verkehr und Kommunikation angeführt. Das sind raumüberwindende Bewegungen. Es geht um Aktivitäten, Erfahrungen, Berufe in der Zirkulationssphäre. Im Laufe der neuzeitlichen Geschichte gab es in der Tat eine Zeit, in der der Kapitalismus sich vornehmlich in der Zirkulationssphäre bewegte – die Epoche des Handelskapitals und die Eröffnung weltweiter Verkehrswege und Nachrichtensysteme. Aber das Industriezeitalter eröffnete eine ganz anderes, viel weiteres Feld der Moderne: die Produktionssphäre. Hier war die Logik nicht Raumüberwindung, sondern Entdeckung und Nutzung bisher verschlossener Ressourcen – die Länder wurden tiefer durchgearbeitet und die Standorte der Unternehmen beschränkten sich nicht auf wenige Städte oder Rohstoff-Fundorte. Der Kapitalismus entfaltete sich, indem er sich räumlich fixierte und verdichtete – es begann die Ära der Territorialstaaten und der Nationalökonomie. Darin war schon eine Pluralisierung der Staatenwelt und der Unternehmenswelt angelegt, die im 18., 19. und 20. Jahrhundert immer weitere Kreise zog. Gewiss gab es immer auch Vorsprünge und Hegemonien, aber der Haupttrend war ihre Relativierung. Die Globalisierung von VW (und vielen anderen Unternehmen aus klassischen Industrieländern), die auf die Erzielung von Vorsprungs-Erträgen setzte, ist im Grunde eine alte Strategie, die auf die Dauer nicht haltbar sein kann. Diese Unhaltbarkeit ist jetzt akut geworden. Sie ist das zweite fundamentale Problem, das sich mit der VW-Krise stellt und die Grundaufstellung des Unternehmens betrifft.
VW stößt jetzt nicht nur auf neue Konkurrenten, sondern auch auf einen ganzen historischen Trend: Der Pluralisierungs-Trend in der Staatenwelt und Unternehmenswelt erfährt in diesem 21. Jahrhundert einen neuen Schub. Die Eckwerte des Weltmarkts für Automobile werden nicht mehr von den Unternehmen der klassischen Industrienationen gesetzt, sondern immer mehr von neuen Automobilnationen. Diese Nationen, die sich das Recht erkämpft haben, ihren Weg selbst zu bestimmen, müssen ihre Bedingungen und Prioritäten zur Geltung bringen und tun das auch.

So wird an zwei fundamentalen Positionen – bei der technologischen Aufstellung und bei der Standort-Aufstellung – klar, wie weit sich das Großunternehmen VW auf unsicheres Terrain begeben hat. Und wie es dort nun in einer Entwicklungssackgasse steckt. Wie aber konnte es dazu kommen? Was war das Einfallstor für diese Überdehnung des Unternehmens?

Die täuschende Leichtigkeit der Überdehnung (I):
Eine freundliche Natur und eine luftige Globalität

Die Ausgangslage von VW war eigentlich gut: Das Unternehmen hatte sich in den ersten drei Jahrzehnten der Bundesrepublik einen guten Ruf und große Marktanteile erarbeitet. Solide technische Weiterentwicklungen waren gelungen, und das Hauptgewicht der Fertigung lag in Deutschland. Auch der Zusammenhalt des Unternehmens war gut. Die Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmensführung und Belegschaft funktionierte, weil hier beide Seiten – bei aller Unterschiedlichkeit – starke Bindungen an das Unternehmen hatten, die auf Leistungen und Gegenleistungen beruhten. Wie konnte es zu Verschiebungen kommen, die das Unternehmen auf unsicheres Gelände führten? „Falsche Entscheidungen“ wären eine zu einfache Erklärung. Auch politisch-ideologische Verirrungen können nicht erklären, warum ein solides Großunternehmen den bisherigen Pfad verlässt. Es muss eine Entwertung dieses Pfads stattgefunden haben. Und mit ihm eine Zerstörung der unternehmerischen Vernunft.

Es muss einerseits einen Großtrend in der Gesellschaft gegeben haben, der die bisherige Grundlage dieser Vernunft entwertet hat. Jede Entwertung setzt andere Sachverhalte und Maßstäbe voraus, die als „größer“ und „besser“ gelten können. Das kann man tatsächlich an den beiden Verschiebungen, die bei VW im Lauf der vergangenen Jahre und Jahrzehnte stattfanden zeigen: Hier ist einerseits eine „Ökologisierung“ der Ökonomie am Werk, die den Eindruck erweckt, einen umfassenderen Maßstab in die Ökonomie einzuführen. Und es ist andererseits eine „Globalisierung“ der Ökonomie am Werk, die auch den Eindruck erweckt, einen umfassenderen Maßstab – den planetaren Maßstab – in die Ökonomie einzuführen. Merkwürdigerweise führen diese Maßstäbe aber nicht zu der Konsequenz, dass nun härter gearbeitet und gewirtschaftet werden muss, sondern dass sich damit das Tor zu einer leichteren Welt öffnet.
Im Fall der Ökologisierung ist ja immer von einer freundlichen, freigiebigen Rousseau-Natur die Rede, die mit ihren Geschenken nur darauf wartet, dass wir endlich „naturnäher“ produzieren. Das Beispiel der Energien, die scheinbar fix und fertig aus Wind und Sonne abgeleitet werden können und die euphemistisch „erneuerbare“ Energie genannt werden, zeigt diese betonte Leichtigkeit sehr deutlich. Es ist eine täuschende Leichtigkeit, denn sie blendet aus, dass solche „erneuerbaren“ Energien vor allem sehr unregelmäßig anfallende, volatile Energien sind, die mal zu wenig und mal zu viel liefern, um ein Stromnetz, dass flächendeckend und kontinuierlich ein hohes Niveau sicherstellen muss, zu speisen.
Im Fall der Globalisierung ist immer von der relativ leichten Tätigkeit des Austauschs und der Kommunikation die Rede (und von der Digitalisierung, die alles mühsame Arbeiten am Gegenstand durch Tastendruck zu erledigen verspricht). Und die auch verspricht, dass man ein Großteil der globalisierten „Neuen Arbeit“ nicht in den Zwängen einer großen Fabrik, eines großen Büros, eines großen Krankenhauses oder einer großen Bildungsstätte verrichten muss, sondern im „Home Office“. Das ist das süße Geheimnis der „größeren Maßstäbe“, die nun in die unternehmerische Vernunft eingeführt werden sollen: Sie sollen angeblich mit einer neuen Leichtigkeit einhergehen. Mit Arbeitszeitverkürzung, abwechslungsreicher Arbeit, höherer Bildung für alle und Sonderurlaub für lebenslanges Lernen.

Was hier ausgeblendet wird, wird sofort klar, wenn wir uns die klassische Definition von ökonomischem Wert noch einmal vor Augen führen: Es ist die Knappheit von Gütern, die ihnen erst einen Preis verleiht. Und es gibt die Möglichkeit, diese Knappheit unternehmerische Vernunft und die Arbeit einer Belegschaft zu mildern (nicht: abzuschaffen). Das wiederum verleiht dem Tun von Unternehmern und Belegschaften ihren Wert verleiht. Dazu muss sie sich aber auf die Knappheit und Widerständigkeit eines Gegenstandes einlassen – also auf die Realität einer knappen und widrigen Natur.
Wie nett ist das Naturbild, und wie wohlfeil die Pflicht, von der Herbert Grönemeyer uns singt (Herbert Grönemeyer, Stück vom Himmel):
„Die Erde ist unsere Pflicht. Sie ist freundlich, freundlich. Wir eher nicht.“
Diese „freundliche Erde“ ist ein kitschiges Wunschbild ist, das von den Widrigkeiten, Knappheiten, Ungewissheiten der realen Natur nichts wissen will. Doch jetzt, nach einem starken Ausbau der „freundlichen“ erneuerbaren Energien werden die unfreundlichen Realitäten sichtbar – zum Beispiel in den Dunkelflauten, wenn weder der Wind bläst noch die Sonne scheint. Da behält doch das „Gesetz der Knappheit“ Recht, das in jedem guten Volkswirtschafts-Lehrbuch ganz vorne steht. Bei Paul A. Samuelson lesen wir in seiner „Volkswirtschaftslehre Band 1“ (S.35), was ein Ignorieren des Knappheits-Gesetzes bedeuten würde,
„…es gäbe keine wirtschaftlichen Güter, das heißt keine Güter, die relativ knapp sind, und man bräuchte sich kaum mit Fragen der Wirtschaft oder des `Wirtschaftens´ zu beschäftigen.“
Eine „Ökologisierung der Ökonomie“, die auf die Annahme gebaut ist, dass die Natur per se eine gute Natur ist, läuft auf eine Abschaffung jeglicher Ökonomie hinaus. Genauso sieht das Einfallstor aus, durch das die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft in die Wirtschaft eindringt. Ein ähnliches Einfallstor ließe sich bei einer näheren Betrachtung der „Globalisierung der Ökonomie“ zeigen.

Die täuschende Leichtigkeit der Überdehnung (II):
Fortschreitendes „Upgraden“ des Automobil-Angebots

Die Verbindung von ausufernden Maßstäben und einer täuschenden Leichtigkeit spiegelt sich auch in der Entwicklung der Modellpalette von VW wieder. Das Automobil wurde immer stärker mit Dingen aufgeladen, die mit der Fahrleistung, mit der Fahrsicherheit, mit der Funktionalität der Ausstattung und der Qualität der Verarbeitung wenig oder gar nichts zu tun hatten. Aber die Fahrzeuge sollten nun „Geschichten erzählen“ und der Selbstdarstellung der Fahrenden dienen – und zugleich das Umweltbewusstsein der Fahrenden bedienen. Dieser Weg führte bis zur „Alternativlosigkeit“ des E-Automobils mit immer mehr Automatisierungs- und Unterhaltungsfunktionen. Aber diese Entwicklung setzte schon vorher ein, mit dem ständigen „Upgrading“ der Modelle. Ein Golf am Ende der 1980er Jahre wies schon große Unterschiede zu dem Golf auf, der 1974 zum ersten Mal auf den Markt kam. Er war auch erheblich teurer. Er wurde immer mehr zu einem gehobenen Mittelklasse-Wagen, während der Golf vorher noch eher der Klasse des VW „Käfer“ zuzurechnen war. Er war damals, wie der vor ihm der Käfer, noch das Auto des Facharbeiters.

So lassen sich vielleicht vier Phasen der Fahrzeug-Entwicklung bei VW unterscheiden:
1.) Die Dominanz des „Käfers“ und der Etablierung des „Golf“, der einen bedeutenden technologischen Fortschritt darstellte, aber noch auf einem Niveau angesiedelt war, das den Präferenzen und dem Geldbeutel qualifizierter Arbeiter entsprach (bis Ende der 1980er Jahre).
2.) Das „Upgrading“ der verschiedenen Fahrzeuge der VW-Flotte beginnt. Die Antriebe sind noch Verbrennermotoren, aber die Fahrzeuge werden größer, aufwendiger und werden mehr auf „Stil“ getrimmt. Zugleich ist es eine Phase verstärkter Ausgliederung von Produktions- und Zuliefer-Standorten (bis Ende der 2000er Jahre).
3.) In der dritten Phase wird China zum zweiten Standbein des Gesamtunternehmens. Und der strategische Umstieg auf das Elektro-Auto wird beschlossen und schrittweise umgesetzt. Damit ist eine Kosten- und Preissteigerung für die gesamte Fahrzeug-Flotte verbunden, die sich in der ersten Upgrading-Phase schon ankündigte. Der Golf erscheint nun definitiv ein Fahrzeug für den gehobenen Mittelstand. Diese Phase könnte man bis in die jüngere Vergangenheit ansetzen.
4.) Nun aber hat eine vierte Phase begonnen: Sie ist gekennzeichnet von einem Markteinbruch bei den E-Automobilen und einem Markteinbruch im China-Geschäft. Aber die Einsicht, dass hier wirklich eine Phase am Ende ist, und eine Klarheit über die dann tragfähige Neuaufstellung ist noch nicht da. VW ist gegenwärtig an einem toten Punkt angekommen.


Es ist wichtig festzuhalten, dass der Weg in die jetzige Krise nicht in der ersten Phase begann, sondern erst in der zweiten Phase. In der dritten Phase wurde der Trend zum „Upgrading“ mit dem einseitigen Umstieg auf die E-Automobile dann wirklich exklusiv. In dieser Entwicklung ist auch ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel enthalten. Es herrscht nicht mehr die Sachlogik der automobilen Leistung, die der Orientierung des Facharbeiters entspricht, sondern die Distinktions-Logik des sozialen Aufstiegs und des „feineren Geschmacks“, der sich von der Massenware der „gewöhnlichen Leute“ abzuheben versucht.

Um das zu verdeutlichen, kann ein Blick in ein kleines Buch, das im Jahr 2000 publiziert wurde und einen beträchtlichen Erfolg hatte, hilfreich sein. Der Autor ist Florian Illies, und der Titel lautete: „Generation Golf“. Der Titel ist vielversprechend. Wird mit dem VW Golf nicht eine Errungenschaft aus der Ära zelebriert, als Deutschland noch ein vorbildliches Industrieland war? Doch Illies (Jahrgang 1971) hat eine merkwürdige Sicht auf den Golf, der da zum Symbol einer ganzen Generation erklärt wird. Er schreibt (Seite 54):
„Als der Golf 1974 erstmals vom Band lief, sollte er vor allem an die Erfolge des Käfers anknüpfen. Die Philosophie klang recht lapidar: Motor vorn, Klappe hinten, dazwischen fünf Sitzplätze. Das erste Modell hatte 50 PS und fuhr 140 Stundenkilometer Spitze. Zwei Jahre später gab es den Golf dann auch als GTI…Erst drei Jahre später wurde das erste Golfmodell zum Kultauto: und zwar in Form des Cabrios, das ab 1979 produziert wurde und offenbar, von einigen roten und weißen Ausrutschern abgesehen, ausschließlich in den Farben Dunkelblau und Schwarz. Der dunkelblaue Golf als Cabrio ist das Gründungsautomobil der Generation Golf.“
Diese Darstellung passt nicht recht zu den Tatsachen. Denn der Golf, der 1974 auf den Markt kam (Florian Illies war damals drei Jahre alt) war keineswegs ein „lapidarer“ Nachfolger des VW „Käfers“. Um ihn nach diesem großen Erfolgsmodell auf den Markt zu bringen, und das mit sehr großen technischen Änderungen, bedurfte einigen Mutes (und mehrere zu kurz geratener, erfolgloser Anläufe). Der „Motor vorne“ war mit einem Antrieb vorne und einem stark verbesserten Fahrverhalten verbunden. Dazu kamen eine verbesserte Sitzposition und verbesserte Sitze. Der Motor war wassergekühlt, seine Leistung ließ sich steigern und wurde bald gesteigert. Schon kurz nach dem 50 PS-Modell brachte VW den „Golf S“ mit 70 PS und 170 km/h Spitze heraus, der wirklich eine ganz neue Agilität auf die Straße brachte. Der Autor dieser Zeilen kann das beurteilen: Ich habe 1979 ein Golf S als Jahreswagen von einem VW-Werkangehörigen gekauft, und war wirklich begeistert, ohne dass ich den Wagen als „Kultauto“ empfand. Es genügte einfach der Vergleich mit den Leistungen meiner vorherigen Fahrzeuge – einem Fiat 600, einem Renault R 4 und einem VW Käfer. Hingegen ist der Golf, den Florian Illies zum Inbegriff einer ganzen Generation stilisiert, ein Golf Cabrio von 1990. Das mag ein Auto für starke Auftritte gewesen sein, aber unter dem Gesichtspunkt der Fahrzeug-Leistung war er eigentlich nichts Neues gegenüber den Golfs der ersten Generation. Das Golf-Cabrio gehörte schon in die Phase des „Upgrading“. Nebenbei bemerkt hatte das Cabrio des alten VW-Käfers eine sehr viel passendere sportliche Eleganz als das Golf-Cabrio, das eher wie ein Kasten daherkam.
Die Lektüre von Illies Buch „Generation Golf“ ist insofern interessant, als hier ein Wechsel des Bewertungsmaßstabs ins Spiel kommt, der der Konzeption und Konstruktion von Automobilen nicht unbedingt guttut. Das Auto wird hier zu einem Zeichen, zu einer Sprache. Wir sollen das Auto nicht fahren und ihm in seiner Materialität als Fahrzeug etwas abgewinnen, sondern wir sollen mit seinem Gebrauch eine Geschichte von uns selbst erzählen, von unserer Generation. Es ist interessant, woher Illies diese Sichtweise entlehnt. Auf S.56 ist von einer Werbeagentur die Rede, die den Begriff „Generation Golf“ offenbar erfunden hat:
„Das als erste erkannt zu haben, ist der große Verdienst der Düsselsdorfer Werbeagentur DDB, die Mitte der neunziger Jahre ihre Werbekampagne folgendermaßen auf den Punkt brachte: Der Grundgedanke war, die Verwenderschaft des Golf alsGeneration Golf´ zu codieren´.“
Aus heutiger Sicht mutet diese Hochstilisierung eines VW-Fahrzeugs merkwürdig schief und aus der Zeit gefallen an. Die Suche nach einem „Kultauto“ erscheint uns in einer Zeit, in der das Auto als Massenverkehrsmittel unbrauchbar und unerschwinglich zu werden droht, als blinde Eitelkeit. Ein großer Autobauer wie VW müsste vom Teufel geritten sein, wenn es das Schicksal des Unternehmens solchen „Codierern“ überlässt. Es geht jetzt um eine Rückkehr zum harten Kern des Autofahrens.

Die täuschende Leichtigkeit der Überdehnung (III)
Statt Sozialpartnerschaft eine allwissende „neue Mitte“

Ende Dezember 2024 gab es in der „Süddeutsche Zeitung“ und im „Spiegel“ im Zusammenhang mit dem VW-Kürzungsprogramm Meldungen, dass auch das Management des Unternehmens dazu beitragen soll. Dort konnte man lesen, dass die im Mai ausgezahlten Boni so stark sinken sollten, „dass das Jahreseinkommen von rund 4000 Managern 2025 und 2026 um zehn Prozent sinke“. Das erstaunliche an diesem Satz sind eigentlich nicht die Kürzungen, sondern die Zahl „4000 Manager“. Wie kommt es zu dieser gewaltigen Zahl? Was zählt da alles zum Management der Volkswagen-AG? Offenbar handelt es sich um eine eigene Schicht, die nicht zum engeren Führungskreis zählt, weil ja nicht wirklich mit 4000 Managern der Kurs von VW bestimmt werden kann. Aber die 4000 zählen auch nicht zur Belegschaft, denn sie stehen ja in einem gesonderten, gehobenen Vertragsverhältnis.
In diesem Zusammenhang wird eine Bemerkung bedeutsam, die eine Teilnehmerin auf einer Warnstreik-Kundgebung im Dezember am VW-Standort Emden vor laufender Fernsehkamera machte. Die Kollegin wies darauf hin, dass VW noch vor zwei, drei Jahren zahlreiche Neueinstellungen für die Umstellung auf die E-Mobilität vorgenommen habe. Da würde man gerne Näheres erfahren. Für welche Aufgaben geschahen die Einstellungen? Hat das eventuell auch etwas mit den sogenannten ESG-Kriterien zu tun, die nach einer EU-Verordnung große und mittlere Unternehmen erfüllen müssen? „ESG“ bedeutet „Ecological“, „Social“ und „Governance“. Es also um „höhere“ Ziele, die zusätzlich zu den herkömmlichen Unternehmenszielen erfüllt sein müssen. Darunter fällt zum Beispiel das (soziale) „Diversity Management“ oder eine detaillierte Dokumentation über die verwendeten Rohstoffe und Vorprodukte, und deren ökologische und sozialen Herstellungsbedingungen. Da wäre es natürlich wichtig zu wissen, was für Tätigkeiten da entstehen, woher sich das Personal rekrutiert und welche Bildungsgänge (höhere Bildungsgänge?) absolviert wurden. Offenbar ist da bei VW (und überhaupt in Industrieunternehmen) in den letzten Jahren ein ganz neues „gehobenes“ Milieu entstanden, das mit der Fertigung der Fahrzeuge wenig zu tun hat. Die Frage ist: Fühlt sich dies Milieu mit der klassischen VW-Belegschaft noch verbunden? Und wie loyal ist es gegenüber dem Unternehmen VW?

An diesem Punkt ist eventuell ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der schon vor einiger Zeit erschienen ist (am 23.8.2019) hilfreich. Er berichtet davon, dass in der Führung und Zielfindung von namhaften Unternehmen größere Umwälzungen stattfinden. „Vor dem G-7-Treffen versprechen große Unternehmen mehr soziales und ökologisches Engagement“, heißt es da. Und es wird der Vorstandsvorsitzende des Lebensmittelkonzerns Danone mit den Worten zitiert: „Wir müssen die die Führungskräfte von morgen anziehen. Das ist schwieriger als früher.“ Immer häufiger würden Mitarbeiter, Kunden und Investoren von den Unternehmen ein soziales oder ökologisches Engagement erwarten, heißt es in dem Artikel. Natürlich sind es nicht „die Mitarbeiter“, „die Kunden“ und „die Investoren“, sondern es geht um „Führungskräfte von morgen“, die sich nicht aus dem Unternehmen heranbilden lassen, sondern die von außen, aus der gehobenen Mittelschicht der Gesamtgesellschaft in die Unternehmen Eingang finden. Aus Anlass des damaligen G-7-Gipfels in Biarritz setzte der französische Präsident Macron „Konzernchefs, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisation“ zusammen in Szene. Der FAZ-Artikel berichtet von einer Koalition von 34 internationalen Unternehmen von Danone über BASF bis zu Goldmann Sachs, die sich den Titel „Business for Inclusive Growth“ nennt.
Es liegt nahe, hier einen Zusammenhang mit dem Gebot der „Internalisierung externer Kosten“ zu sehen. Hier scheint sich eine ganz neue Schicht in den Unternehmen anzusammeln zu haben, für die die unternehmerische Vernunft „zu eng“ ist, und die sich nicht so sehr für die Erträge des Unternehmens interessieren, sondern vielmehr ganz bestimmte ökologisch oder soziale Ziele verwirklicht sehen wollen. Das Unternehmen wird von ihnen in den Dienst solcher „konkreten“ Ziele gestellt. Dazu wird gerne der Begriff „purpose driven“ verwendet, der etwas besonders Gutes und Smartes ausdrücken soll. Aber dies auf einzelne besondere Zwecke gerichtete Denken und Handeln ist – verglichen mit der unternehmerischen Vernunft – im Grunde eine Verengung und Vereinseitigung. Denn die „Abstraktheit“ der unternehmerischen Vernunft, die zunächst einmal darauf abzielt, überhaupt Überschüsse zu erwirtschaften, um sie dann auszuschütten und es den Empfängern zu überlassen, für welche Zwecke sie sie einsetzen, ist offener und flexibler. Der Versuch, ein Unternehmen gleich für einen bestimmten Zweck in Dienst zu stellen, glaubt zu sehr an die Güte der eigenen Zwecke, und will sie nicht einer offenen Wahl zwischen Alternativen überlassen.

Offenbar gibt es inzwischen einen ganzen „Purpose Drive Sektor“, der seiner guten Zwecke gewiss ist. Und der nur dann bereit ist, in Unternehmen Verantwortung zu unternehmen, wenn das Unternehmen seinem guten Zweck zu Diensten ist. Und der Hinweis auf die „Nachwuchssorgen“ der Unternehmen kann als Indiz gewertet werden, dass es offenbar schwierig ist, aus dem gewaltig angewachsenen akademischen Nachwuchs Menschen für normale Unternehmensziele zu gewinnen. So kann es dazu kommen, dass sich Unternehmen dazu genötigt sehen, in ihren Betrieben ein Milieu zuzulassen, das eigentlich ein Fremdkörper im Betrieb ist. Auf diesem Weg finden die Externalitäten auch personell Eingang in die Unternehmen. So erklären sich manche erstaunlichen Zahlen, und man kann sich vorstellen, wie es bei VW zu der Zahl von „4000 Managern“ gekommen ist.
Hier hat offenbar eine gewichtige strukturelle Veränderung stattgefunden. Eine „neue Mitte“ hat sich gebildet, die sich deutlich von den beiden Lagern unterscheidet, die wir aus der Geschichte von Industrieunternehmen als „Sozialpartner“ kennen. Diese Partnerschaft konnte sich zusammenfinden, weil beide Seiten – trotz aller Unterschiede – ein vitales Interesse am Gedeihen des Unternehmens hatten. Die „neue Mitte“ ist anders: Sie braucht keine Partnerschaft. Sie beansprucht für sich allein das Wissen und die Macht, um die „einzig richtigen“ und „einzig guten“ Ziele des Unternehmens zu bestimmen. Diese „neue Mitte“ gelangt auf dem Ticket der „Offenheit“ ins Unternehmen, um dann sogleich die Unternehmensgrenzen zu „erweitern“. Und diese Dehnung des Unternehmens geschieht ohne Rücksicht auf die Stetigkeit wirtschaftlicher Erträge und positiver Bilanzen. Die Dehnung wird ja von Leuten getragen, die sich nicht im Unternehmen hocharbeiten mussten, sondern unternehmensfern zwischen Studien und Aktivismus – selbstverständlich global – unterwegs waren. So ist das Unternehmen für sie eigentlich gar kein fester Rahmen, gar kein „Haus“, dem sie sich zugehörig fühlen. Oder, um es einmal ganz einfach zu sagen: Sie lieben VW nicht.
Doch jetzt ist bei VW und vielen anderen Unternehmen in den verschiedensten Branchen eine Krise ausgebrochen. Nein, es ist keine Krise der unternehmerischen Vernunft, ganz im Gegenteil. Es ist eine Krise der Erweiterungen und Zusatzbelastungen, die auf Kosten und zu Lasten dieser Vernunft geschehen sind. Die ihre Grenzen eingerissen haben. Jetzt haben sich die Ausdehnungen als Überdehnungen erwiesen. In dieser Richtung kann es nicht weitergehen.

Die VW-Krise ist eine Überdehnungskrise

Aus den hier skizzierten Verschiebungen in der Grundaufstellung von VW ergibt sich ein dramatisches Gesamtbild. Die Verschiebungen waren Überdehnungen. Sie haben das Unternehmen jetzt an einen Abgrund geführt. Es steckt in einer historischen Sackgasse, in der es nicht einfach Abwarten kann, und erst recht keine Flucht nach vorn nach dem Motto „Jetzt erst recht“ versuchen kann. Es muss sich – je eher, desto besser – aus diesen zu weit vorgeschobenen Positionen zurückziehen, um wieder sicheren Boden unter die Füße zu bekommen und auch seinen inneren Zusammenhalt wiederzufinden.
Das Einfallstor war der Versuch, externe Kosten ohne Rücksicht auf die Unternehmens-Produktivität zu internalisieren. Zu diesem Versuch kam es, weil das Unternehmen von der scheinbaren Größe der externen Aufgaben verführen ließ. Und weil sich das Unternehmen auch von einer täuschenden Leichtigkeit dieser Aufgaben verführen ließ. Die technischen und geoökonomischen Probleme wurden kleingeredet und beschönigt. Diese Maßlosigkeit und Realitätsferne hatte sich über einen längeren Zeitraum im Unternehmen eingenistet. Aber sie ist keine Erfindung von VW, sondern eine allgemeine Erscheinung der sogenannten „postindustriellen“ Gesellschaft. Sie hat sich in Deutschland und anderen klassischen Industrieländern entwickelt. Nun aber sind es die Unternehmen, die die Folgen dieses Trends existenziell zu spüren bekommen. Es stellt sich heraus, dass die Ausdehnungen tatsächlich Überdehnungen waren. Die Externalitäten zeigen zunehmend ihre Sperrigkeit, Widrigkeit, Knappheit. Als Kräfte, die von außen kommen, zerren sie am Unternehmen und reißen es gewissermaßen auseinander. Sie lösen den technischen, wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Zusammenhang vieler Unternehmen – großer, mittlerer und kleiner Unternehmen – auf. Der Fall des großen und erfolgreichen deutschen Unternehmens Volkswagen ist hier exemplarisch.

Die Versuche, externe Kosten zu internalisieren, haben das Unternehmen zu Vorleistungen gezwungen, von denen gar nicht sicher war und weiterhin ist, ob sie eines Tages so hohe Erträge erbringen, dass die Vorleistungen sich wirklich rechnen. Sie können eigentlich nicht als Investitionen verbucht werden. Aber die Sprache ist an diesem Punkt unscharf. Es ist vom „Potentialwachstum“ die Rede, aber da Technologien und Standorte verbucht, deren wertschöpfender Charakter gar nicht nachweisbar und bilanzfähig ist. Im Teil I dieser Textreihe wurde schon gezeigt, dass die Externalitäten eine im Prinzip unendliche Größe sind, und dass es eine Grundvoraussetzung für die unternehmerische Vernunft ist, eine Grenze zwischen „unternehmens-intern“ und „unternehmens-extern“ zu ziehen. Wenn den Unternehmen dieses Landes auferlegt würde, alle möglichen Kosten präventiv auf sich zu nehmen und dann den Käufern ihrer Produkte in Rechnung zu stellen, gäbe es keine Unternehmen mehr. Es würde eine baldige Zahlungsunfähigkeit der Unternehmen eintreten, und – in der Folge – auch eine Zahlungsunfähigkeit des Staates.
Es wurde im Teil I auch eine besondere Tücke dargestellt, die im Sammelbegriff „Externalitäten“ verborgen ist. Bei den Externalitäten gibt es eine Gegenläufigkeit von sozial-humanen Anforderungen und ökologischen Anforderungen. Steigert man die sozial-humanen Anforderungen, geht das zu Lasten der ökologischen Anforderungen. Heute ist dieser Zwiespalt unübersehbar geworden, denn es gibt eine Steigerung der Anforderungen auf beiden Seiten und ein ständiges Hin und Her zwischen der Betonung der einen Externalität und der Betonung der anderen Externalität. Dies Hin und Her reißt die Unternehmen hin und her. Und es zerreißt sie über kurz oder lang.
Es ist in unserer Gegenwart, insbesondere in den klassischen Industrieländern, eine fundamentale Unredlichkeit am Werk – wie sie in der Geschichte beispiellos ist. Man steigert die ökologische Betroffenheit in extremste Größenordnungen (die tägliche Beschwörung einer terminalen, planetarischen Klimakatastrophe) und treibt man die sozial-humanen Ansprüche auf extremste Höhen: Sozialer Aufstieg für alle, Ausgleich aller Handikaps, Privilegien für immer neue Sondergruppen, endlose Selbstfindung statt Berufsausbildung, Zurückdrängung der Berufstätigkeit zu Gunsten aller möglichen Auszeiten zur „Work-Life-Balance“. Die Geschichte der Menschheit hat gewiss monströse Totalitarismen gesehen, mit beispiellosen Massenvernichtungen. Aber was heute an Weltuntergangs-Beschwörung bei gleichzeitiger eitelster Selbstverwirklichung veranstaltet wird, ist – auf eine andere Weise – auch monströs.

So steht VW vor einer sehr grundlegenden Aufgabe. Das Unternehmen Man muss aus der Überdehnungskrise herausfinden, und das geht nur durch eine Rehabilitierung der unternehmerischen Vernunft. Die Unternehmen müssen in ihrer Eigenart und ihrer spezifischen Leistung verstanden und geschützt werden. Sie brauchen keine „Förderung“ von außen, sondern einen defensiven Schutz vor Überlastungen. Das aber bedeutet heute: einen massiven Rückbau von bereits eingeführten Zusatzaufgaben, Normenverschärfungen, Kontroll- und Berichtspflichten, Rechtsunsicherheiten… Die Unternehmen haben aber auch eine große interne Aufgabe. Sie müssen ihre Unternehmen von den externen Lasten und Aufgaben befreien, die sich in ihnen schon festgesetzt haben und in das Unternehmen integriert wurden, obwohl es sich im Grund um Fremdkörper handelt.
Die Grundrichtung, um aus der Überdehnungskrise bei VW herauszufinden, muss also defensiv sein. Sie muss auf den Punkt zurückkommen, wo das Unternehmen die Gebote der unternehmerischen Vernunft verlassen hat und gewissermaßen „falsch abgebogen“ ist. Es geht um einen Rückgriff. Aber auch um ein tieferes, besser fundiertes Verständnis der unternehmerischen Vernunft – damit ihre Verteidigung in Zukunft besser gelingt. Es geht also um eine Rekonstruktionsaufgabe. Dazu mehr im dritten und letzten Teil dieser Text-Serie.

VW – Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft

Bei der Volkswagen AG geht es nicht um eine der gewohnten Strukturwandels-Krisen, sondern um die ganze Existenz als großer Automobilhersteller. Und auch die gegenwärtige Wirtschaftskrise ist eine Unternehmenskrise.

VW – Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft

02. Februar 2025

Die VW-Krise ist erstmal aus den Schlagzeilen. Aber sie ist durch die im Dezember vereinbarten Sanierungsmaßnahmen nicht gelöst. Es ist der Glaube an die Kräfte eines „Kompromisses“, eines „Zusammenhaltens“ in „Zuversicht“, der dazu führt, erstmal nicht tiefer in den Abgrund zu schauen, vor dem der größte deutsche Autobauer steht. Dabei kommt in der Krise von VW exemplarisch die Misere der deutschen Wirtschaft zum Ausdruck. Diese Misere liegt nicht daran, dass ein an sich wohlbegründeter Strukturwandel nur „verschlafen“ wurde. Die deutsche Wirtschaft befindet sich nicht nur in einer Übergangskrise, bei der eigentlich feststeht, dass tatkräftige Unternehmen sie meistern können. Nein, der ganze Übergang ist fragwürdig geworden. Es gibt berechtigte Zweifel, ob die gesetzten „obersten Ziele“ einer technologischen Neuerfindung des Automobils und einer weiteren Globalisierung der Unternehmens-Standorte überhaupt unternehmerisch vernünftig sind. Das aber würde bedeuten, dass die Krise der deutschen Wirtschaft in ihrem Kern eine existenzielle Unternehmenskrise ist, bei der es darum geht, ob in Zukunft überhaupt noch Unternehmen die tragenden Säulen der Volkswirtschaft sein werden.
Man könnte also erwarten, dass nun die Grundentscheidungen, die die Tätigkeit der Unternehmen belasten, überprüft und gegebenenfalls revidiert werden. Aber das passiert nicht. Die Krise ist an einem toten Punkt angelangt, wo einerseits noch ein Weiter-So praktiziert wird, und andererseits das Vertrauen in eine nachhaltige Überwindung der Krise Tag für Tag geringer wird. So herrscht eine merkwürdige Unentschiedenheit. Ist das eine persönliche Charakterschwäche der Verantwortlichen? Nein, eher ist es ein Fehlen klarer Kriterien, nach denen die Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit des eingeschlagenen Kurses beurteilt werden kann. Die Krise ist also letztlich eine Krise des unternehmerischen Urteilsvermögens. Die deutsche Wirtschaftskrise ist – ohne dass man sich dessen schon recht gewahr geworden wäre – eine Krise der unternehmerischen Vernunft. Um sie muss die Auseinandersetzung geführt werden. Und dieser Kampf findet innerhalb der Unternehmen statt, wo die Signale unübersehbar sind, dass die selbst gesetzten Ziele sich außerhalb der Grenzen unternehmerischer Vernunft bewegen. Und sie findet zwischen den Unternehmen und den von außen gesetzten politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen statt, die sichtlich die Anforderungen der unternehmerischen Vernunft missachten.
Deshalb ist die Krise von VW ein bedeutsames und schwerwiegendes Geschehen – sowohl für dies einmal so große und erfolgreiche Unternehmen, als auch für den Industriestandort Deutschland, dessen erfolgreiche Geschichte VW über Jahrzehnte mitgeschrieben hat.

Die VW-Krise ist nicht überwunden

Am 23. Dezember 2024 erschien im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein ganzseitiges Interview mit dem VW-Vorstandsvorsitzenden Oliver Blume. Zu diesem Zeitpunkt war ein Abkommen mit der IG Metall und dem Betriebsrat über einen Personalabbau und Einsparungen bei Löhnen und Gehältern schon beschlossene Sache. Blume bezifferte die „nachhaltigen Kostenentlastungen“ für die Volkswagen AG auf 15 Milliarden pro Jahr. Das bedeutet real eine Reduzierung der Produktionskapazitäten um rund 730000 Fahrzeuge, die dauerhaft sein soll. VW schrumpft also. Das entspricht nach Blume, „dem Produktionsumfang von zwei bis drei großen Werken“. Und er fügt in dem Interview hinzu: „Wichtig ist, dass wir unsere Kernmarke VW so aufstellen, dass sie ihre Investitionen selbst finanzieren kann.“ Man könne und wolle sich nicht mehr auf unterstützende Einnahmen aus dem Auslandsgeschäft verlassen, „beispielsweise aus China“. Und der VW-Chef spricht auch von den politisch gesetzten Rahmenbedingungen und davon, dass „das Wirtschaftsmodell Deutschland adjustiert werden“ müsse:
„Unsere Industrie hat lange davon gelebt, dass wir hier hervorragende Produkte entwickeln und produzieren, um sie in die ganze Welt zu liefern. Jetzt sehen wir geopolitische Verschiebungen und Protektionismus. Und technische Regulierungen, die sich global weit auseinanderentwickeln.“
Das ist erstmal sehr richtig und eine Portion Realismus. Der Markteinbruch bei den Elektro-Automobilen in Europa und die schweren Verluste von VW-Marktanteilen in der Welt, insbesondere in China, zeigen also Wirkung. VW ist existenziell gefährdet, und diese Situation ist durchaus exemplarisch für den Industriestandort Deutschland. Aber bedeutet das geschlossene Abkommen, dass VW über den Berg ist? Die Krise betrifft tragende Säulen des Geschäftsmodells, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten verfolgt wurde. Einsparungen und Reduzierungen der Produktionskapazitäten reichen da nicht.

Es geht um die Grundaufstellung des Unternehmens

Gemessen an der Tiefe der Krise sind die Aussagen, die der VW-Chef Blume in dem Interview macht, ziemlich schwach. Sie sind eine Mischung von Lösungen, aus denen nicht hervorgeht, mit welcher Grundaufstellung das Unternehmen aus der Krise herauskommen soll. Insbesondere sind die Kürzungen nicht mit einer Zurücknahme von Zielen verbunden, die zu der jetzigen Situation geführt haben. Der harte Kern der VW-Krise besteht ja darin, dass zwei große Auswege, auf die VW gesetzt hat, sich jetzt als ruinös erweisen. Zum einen ist der technologische Ausweg in die E-Mobilität keine Lösung für das Automobil als Massenverkehrsmittel. Setzt ein großer Autohersteller auf diese Zukunft, wird er seine Größe verlieren. Zum anderen ist auch der Ausweg in eine noch stärkere Globalisierung versperrt. Eine Exportoffensive, wie sie in vergangenen Jahrzehnten erfolgreich war, scheitert heute daran, dass andere Länder zu starken Hersteller-Ländern geworden sind. Also steht auf zwei zentralen Feldern bei nüchterner Betrachtung eine wirkliche Wende zum Besseren nicht in Aussicht. Die Einschnitte, die bei VW jetzt beschlossen wurden und die nicht bloß als kurzfristige Anpassung verstanden werden, sind im Grunde ein Eingeständnis, dass es hier kein Weiterkommen gibt.
Aber die Führung des Unternehmens und auch die Vertreter der Belegschaft scheinen nicht die Kraft aufzubringen, sich von diesen Grundentscheidungen wirklich zu verabschieden. Es wird noch nicht einmal in klaren Alternativen gedacht. Über dem Interview in der FAZ steht die Aussage des VW-Chefs „Es liegt noch viel Arbeit vor uns“. Das kann man als vorsichtigen Hinweis lesen, dass VW noch große, schwierige Entscheidungen vor sich hat. Aber das „viel Arbeit“ kann auch dahingehend verstanden werden, dass es nun nur noch um viele kleinere Details geht. Und dann liest man den Satz: „Die grundsätzliche strategische Richtung hin zur E-Mobilität ist klar“. Blume will also an der bisherigen technologischen Grundentscheidung weiter festhalten. Soll also „viel Arbeit“ in ein Fahrzeug-Angebot investiert werden, für das kein entsprechender Markt da ist?
Bei den gewaltigen betrieblichen und infrastrukturellen Investitionen für die E-Mobilität ist es höchst zweifelhaft, ob sie wirklich als reale Investitionen zu zählen sind. Das heißt, ob sie wirklich eines Tages Überschüsse erzeugen, aus denen das ausgegebene Geld wieder hereingeholt wird. Andernfalls hätte man da nur eine gigantische Investitionsruine errichtet. Soweit das durch eine zusätzliche Sonder-Verschuldung von Unternehmen und Staat finanziert wird, ist mehr als fragwürdig, aus welchen Erträgen die Schulden je abgetragen werden können. Die Energiewende könnte sich also als ein ewiger Zuschussbetrieb und als eine schwere Belastung für die ganze Volkswirtschaft erweisen. Und auch bei der Globalisierung sind die deutschen Autobauer und politisch Verantwortlichen im Land an einem toten Punkt angelangt. Sie mögen sich nicht vom Exportbasis-Dogma trennen, und müssen dann zusehen, wie andere Länder ihre Binnenmärkte selbst bedienen. Und wie sie – siehe China – auch ihrerseits auf den Weltmarkt vordringen.
Die Vorstellung, dass das Unternehmen VW eigentlich auf dem richtigen Kurs ist, und nur einzelne Anpassungen erforderlich sind, ist daher falsch. Es geht nicht um eine Übergangssituation, die nur irgendwie „überbrückt“ werden muss, um dann wieder in Fahrt zu kommen. Diese Vorstellungswelt bewegt sich in Stimmungen zwischen Angst haben und Mut machen. Damit kommt man in der Welt der Realwirtschaft nicht zurecht. Kein Unternehmen kann sich auf dieser Basis längere Zeit halten. Es muss auf gegebene Realitäten mit eigenen Realitäten antworten. Umso wichtiger ist es, sich das Wesen und die Gesetze dieser unternehmerischen Realität noch einmal in Erinnerung zu rufen.

Über die unternehmerische Vernunft

Um die Misere von VW zu begreifen, muss man zunächst die Fähigkeiten und Anforderungen kennen, die das Wesen eines modernen Wirtschaftsunternehmens ausmachen. In dieser Hinsicht ist der eingangs zitierte Satz von Oliver Blume ein sehr richtiger und wichtiger Satz: „Wichtig ist, dass wir unsere Kernmarke VW so aufstellen, dass sie ihre Investitionen selbst finanzieren kann.“ Dieser Satz handelt von einer auf Dauer angelegten Fähigkeit moderner Unternehmen: Dass sie sich aus ihren eigenen Überschüssen immer wieder reproduzieren können. Die Produktivität von Unternehmen misst sich nicht an einmaligen Überschüssen, sondern an Überschüssen, aus denen immer wieder von neuem Einkommen der Belegschaft und der Kapitaleigner bezahlt werden können. Und aus denen die Investitionen finanziert werden können, damit die Reproduktion der Unternehmen gewährleistet ist. Das kann die einfache Reproduktion sein, die den natürlichen Verfall und den Verschleiß in der Produktion ausgleicht. Oder die erweiterte Reproduktion, die die Maschinen und das Arbeitsvermögen des Unternehmens quantitativ oder qualitativ vergrößert.
Es geht also erstens um Eigenständigkeit, und zweitens um Dauerhaftigkeit. Beides ist im Profit enthalten, der an den Kapitaleinsatz gekoppelt ist. Von „Kapital“ im Unterschied zu bloßem „Reichtum“ kann erst die Rede sein, wenn es diese sich selbst reproduzierende Fähigkeit hat. Die unternehmerische Vernunft muss dieser Eigenschaft gerecht werden. Dass sie das tatsächlich kann, ist eine historische Errungenschaft. Die Zivilisation musste eine bestimmte Höhe der Produktivität erreicht haben. Und eine bestimmte institutionelle Ordnung musste gewährleisten, dass die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung der Reproduktionsaufgabe dem oder den beteiligten Akteuren zugerechnet wurde – die Eigentumsrechte.

Gegenwertig wird der Zustand und die Bedeutung von Unternehmen vor allem mit dem Gründungsgeschehen (den „Start Ups“) verbunden. Aber das geht an der Hauptsache vorbei und führt in die Irre. Das „Gründen“ ist ja noch das Leichteste und immer schnell getan. Obendrein wird hier das (Risiko-)Kapital größtenteils von fremder Hand zur Verfügung gestellt. Es wird gar nicht von den Gründern erarbeitet. Man kann eine große „Gründerszene“ haben, die zwar gewisse Umsätze macht, aber jahrelang keine Überschüsse erwirtschaftet.
Ist ein Unternehmen für die Einkommen und Investitionen immer mehr auf Schulden oder Subventionen angewiesen, ist es schon nicht mehr ein gesundes Unternehmen. Zu dessen Wesen gehört, eigenständig und dauerhaft Überschüsse erwirtschaften zu können. Wenn in der Unternehmens-Landschaft eines Landes ein immer größerer Teil der Unternehmen durch mehr Schulden oder Subventionen am Leben erhalten werden muss, kann von einer modernen, kapitalgetragenen Marktwirtschaft nicht mehr die Rede sein. Ohne eigenständige Unternehmen verliert auch das Land seine Eigenständigkeit. Und es verliert seine Motivation. Denn das ist ja der ökonomische Clou der Moderne: Dass sie zu Anstrengungen für positive Erträge motiviert, indem sie diese Erträge dort lässt, wo sie entstehen, und erst in einem zweiten Schritt einen Teil dieser Erträge für gemeinschaftliche Aufgaben und Infrastrukturen einzieht.

Diese Reproduktivität aus eigenen Überschüssen (Profiten) ist der gute harte Kern des Kapitalismus. Diese Reproduktivität beruht nicht auf einer Moral, die von außen den Unternehmern auferlegt werden muss und in die Unternehmen hineingetragen werden muss. Sondern sie ist Teil der Logik des Kapitals. Mit der Re-Investition von Teilen des Überschusses steht und fällt das Gesamtkapitals. Würde man die Überschüsse als bloßen Schatz behandeln und Stück um Stück verzehren, wäre bald der Produktionszusammenhang nicht mehr aufrechtzuerhalten – geschweige denn zu erweitern. Das ist ein mächtiges, originär unternehmerisches Motiv zur Reproduktivität.
Ein oberflächlicher Blick sieht bei der Produktivität eines Unternehmens nur den einmaligen Akt. Und das gibt Raum für alle möglichen Vorurteile: Ein heute sehr verbreitetes Vorurteil lautet, dass in der Welt der Unternehmen der Imperativ des „immer höher, immer weiter, immer größer, immer schneller“ herrschen würde. Dass nur die höchsten Profite zählen würden. Dass die kapitalistische Konkurrenz deshalb eine gnadenlos verdrängende Konkurrenz auf Leben und Tod wäre. Wer nicht bei dieser Maximierung mitmache, sei zum Untergang verurteilt. Und da alle mitmachen, kommt es zu einer ruinösen Steigerung, die schließlich zu einer terminalen Krise führen würde.
So macht man der ökonomischen Vernunft einen falschen Schauprozess, in dem man ihre Eigenschaften von vornherein völlig verzerrt hat. Man übersieht geflissentlich, dass es für das Kapital völlig logisch ist, bei einer Investition in eine erweiterte Reproduktion sehr vorsichtig zu sein – denn man setzt dann ja die erzeugten Überschüsse und auch das Kapital, das sie bisher erzeugt hat, aufs Spiel. Der Schauprozess basiert also im Grunde auf der Annahme, dass die Haftung mit eigenem Eigentum kein Grund zu besonderer Sorgfalt ist, sondern ein Grund zu besonderem Leichtsinn und grenzenloser Verschwendung.

Es geht hier um die Frage, ob der unternehmerischen Vernunft eine Kraft zur Selbstbegrenzung innewohnt oder nicht. Ein realwirtschaftliches Faktum kann zeigen, dass es diese Kraft gibt, und dass sie gar nicht in einer besonderen persönlichen Weisheit des Unternehmers besteht, sondern von den Gegenständen der unternehmerischen Tätigkeit. Es fällt nämlich auf, dass sich die Konkurrenz in verschiedenen Branchen zu sehr verschiedenen Unternehmenslandschaften führt. Es gibt keineswegs überall die Tendenz, dass nur einige wenige Monopolisten übrigbleiben und das Marktgeschehen unter sich ausmachen. Die Schwerindustrie führt, auf Grund des Kapitalaufwandes und der Unteilbarkeit von Produktionsprozessen zu wenigen Akteuren, während die Leichtindustrie viel mehr Unternehmen umfasst. Der Flugzeugbau weist höhere Konzentrationsgrade als der Automobilbau auf. Aber in beiden Branchen bietet die Spezialisierung von Flugzeugen bzw. Fahrzeugen auch Platz für kleinere Hersteller. Ebenso führen Teilbarkeiten des Herstellungsprozesses auch zur Trennung zwischen Hauptunternehmen und Zulieferern. Statt eines monotonen Trends zum „immer größer“ gibt es ein immer wieder neues Spiel der Grenzen. Und dies Spiel folgt weniger den Launen der Personen als den Veränderungen der Dinge.
Diese reproduktive Orientierung der unternehmerischen Vernunft bindet sie stets von neuem an die Realität dieser Welt. Die Tatsache, dass die Überschüsse eines Unternehmens zeitweilig die Form des Geldes annehmen, ändert an diesem Realismus nichts. Das Geld ist eine verallgemeinerte Form des Unternehmensprofits. Und es ist prinzipiell für die unterschiedlichsten Käufe (Rückverwandlungen in Sachwerte) offen. Aber dass heißt nicht, dass man sich darauf zurückziehen kann, diese abstrakte Form des Reichtums bloß als Schatz aufzuhäufen und anzubeten. Bei aller Offenheit ist die Rückverwandlung in die Bestimmtheit eines Sachwertes (ob als Einkommen oder als Investition) unverzichtbar. Die kapitalistische Ökonomie hat diese Rückverwandlung gewaltig ausgedehnt – allein schon durch die geschichtliche Entwicklung, in deren Lauf sie aus der Handelssphäre in die Produktionssphäre vorgedrungen ist. So hat die reproduktive Vernunft der Unternehmen ihr Potential erst richtig durchgesetzt.
Auch in anderer Hinsicht ist der Blick auf die Realwirtschaft und ihre Geschichte hilfreich: Sie zeigt, dass Unternehmen immer die Fähigkeit hatten, längere „träge“ Perioden zu überstehen, in denen es bei Technologie und Arbeitsverfahren sich einfach keine Gelegenheiten zu Erweiterung und Innovation gab. Eine kapitalistische Volkswirtschaft besteht immer auch aus Branchen, Unternehmen und Unternehmensteilen, die relativ „alte“ Produkte und Herstellungsverfahren verwenden. Das macht ihre Breite und Komplexität aus. Auch ihre Überlebensfähigkeit. Es hat daher nichts mit unternehmerischer Vernunft zu tun, wenn heute in Deutschland zwanghaft nach sogenannten „Zukunftstechnologien“ gesucht wird und nur diese als erstrebenswert betrachtet werden. Und diese Verengung der Zukunft auf das Neue dann als Stärkung der „Resilienz“ (Widerstandskraft in Krisen) gilt – wo diese Flucht nach vorne doch gerade krisenanfällig macht.
Es gibt kein höheres Gesetz, dass jedes kapitalistische Unternehmen immer nach einer erweiterten Reproduktion streben muss. Ein kapitalistisches Unternehmen braucht unbedingt Überschüsse (Profite), aber die Überschüsse müssen nicht so hoch sein, dass sie um jeden Preis eine Erweiterung tragen müssen. Es funktioniert auch bei einfacher Reproduktion: bei dem bloßen Ersatz des natürlichen und produktiven Verschleißes der Maschinen und Anlagen. In der Realität kommt es oft vor, dass ein Unternehmen in einem tragenden Teil bewährte Technologie, Maschinerie und Fachkönnen verwendet und in einem kleineren Teil mit neuen Dingen experimentiert. Dass es also Standbein und Spielbein hat.
Nur durch diese reproduktive Flexibilität ist die erstaunliche Beständigkeit des Kapitalismus zu erklären, die der Kapitalismus in den vergangenen Jahrhunderten gezeigt hat. Könnte er wirklich nur dem Steigerungs-Gesetz des Höher, Weiter, Größer, Schneller folgen, wäre er längst untergegangen.

Ein anderes grundlegendes Merkmal der unternehmerischen Vernunft wurde bisher noch nicht erwähnt. Es geht um die Dinge, die ein Unternehmen bei seiner Tätigkeit als Aufgaben (und Kosten) berücksichtigen kann, und die Dinge, die es als Aufgaben (und Kosten) nicht berücksichtigen kann. Es geht also um die Unterscheidung und Grenze zwischen den sogenannten „internen Kosten“ und „externen Kosten“. Zunächst einmal muss hier hervorgehoben werden, dass ein Unternehmen sehr viele und sehr verschiedene Kosten berücksichtigt. Aber einige Kosten sind im Prinzip unendlich groß und können daher nicht im vollen Umfang berücksichtigt werden. Die dadurch entstehenden Kosten würden jedwede Möglichkeit zu positiven Erträgen zunichtemachen. Zum einen können Unternehmen nicht Einkommen bezahlen, die alle Bedürfnisse der beteiligten Menschen befriedigen. Die menschlichen Bedürfnisse und Wünsche sind im Prinzip unendlich. Zum anderen können Unternehmen auch nicht alle Aufgaben der Naturerhaltung und Naturentfaltung erfüllen, weil auch diese Aufgaben im Prinzip unendlich sind. Auf beiden Seiten wird es also externe „soziale“ und „ökologische“ Kosten geben, die nicht „internalisiert“ werden können. Sie können nicht alle berücksichtigt werden, sondern müssen extern bleiben.
Dabei ist eine Tatsache noch gar nicht erwähnt worden, die die gegenseitige Beziehung der sozialen (menschenbezogenen) Kosten und den ökologischen (naturbezogenen) Kosten betrifft: Diese Beziehung ist eine konträre, gegenläufige Beziehung. Eine größere Steigerung bei der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und Wünsche muss mit einer stärkeren Belastung der Naturbedingungen und Ressourcen bezahlt werden. Eine stärkere Berücksichtigung natürlicher Knappheiten muss mit weniger Einkommen auf Seiten der Menschen bezahlt werden. Gerade diese Gegenläufigkeit der Aufgaben, die ein Unternehmen berücksichtigen muss, zieht der „Internalisierung externer Kosten“ enge Grenzen. Gewiss kann der technologische Fortschritt oder eine höhere Effizienz bei der Unternehmensorganisation die Spielräume etwas erweitern. Aber die Grenzen bleiben eng, und die Steigerungen müssen konkret auf dem jeweiligen Tätigkeitsfeld eines bestimmten Unternehmens oder einer bestimmten Branche wirksam sein. Eine generelle Wette auf ein allgemeines „Gesetz des Fortschritts“ hilft den Unternehmen nicht. Sie müssen immer von der konkreten Situation ihrer Industrie ausgehen. Sie müssen dabei immer mit der Möglichkeit rechnen, dass diese Industrie in einer historischen Phase ist, in der es keine großen Sprünge gibt, sondern nur kleinere und langsame Entwicklungsschritte. Für abstrakte Gesetze können sie sich nichts kaufen.

Die „Internalisierung externer Kosten“ ist ein großes Thema unserer Zeit. Nachdem dabei lange Zeit vor allem sozial-menschliche Bedürfnisse und Ansprüche gestellt wurden, werden jetzt zusätzlich ökologische Restriktionen (siehe Klimarettung, Rettung der Artenvielfalt) betont. Aber dabei geschieht nicht eine Internalisierung in dem Sinn, dass die gegenläufige Beziehung zwischen sozialen Kosten und ökologischen Kosten berücksichtigt wird. Vielmehr werden die ökologischen Aufgaben einfach zu den sozialen Bedürfnissen hinzuaddiert – sie werden also auf die fortbestehenden sozialen Bedürfnisse einfach draufgesattelt. Ein Beispiel sind die sogenannten ESG-Kriterien, über deren Erfüllung mittlere und größere Unternehmen nach einer EU-Verordnung penibel Bericht erstatten müssen. Hier werden die verschiedenen Kriterien auf einer Liste nebeneinandergestellt und nebeneinander behandelt. Ob und wie das Unternehmen diese Ansprüche in ihrer Produktionsaufgabe zusammenführen kann und positive Erträge erzielen kann, bleibt offen. Die Unternehmen werden zur Übernahme von zusätzlichen Aufgaben und Ausgaben veranlasst, die dann eventuell ihren Wertschöpfungs-Zusammenhang sprengen. Die Aufgabe der „Internalisierung“ wird den Betrieben nach dem Prinzip „Friss, Vogel, oder stirb“ vor die Füße gekippt.
Die „Internalisierung von externen Kosten“ ist daher keine wirkliche Internalisierung, sondern nur eine von außen dem Unternehmen auferlegte Zusatzlast. Sie ist ein Einfallstor für die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft. Man hört immer wieder das Argument, dass eine Nichtbeachtung human-sozialer und ökologischer Aufgaben auf die Dauer (wegen sozialer Unruhen und Naturkatastrophen) „viel teurer“ käme als eine sofortige Behandlung und Bezahlung als „Kosten“. Doch damit würde das Problem nur in die Unternehmen verlagert, die in den Ruin getrieben würden. Eine Wirtschaft mit positiven Erträgen würde in eine Defizitwirtschaft verwandelt, deren Verschuldung Tag für Tag wächst. In eine solche Wirtschaft würde niemand investieren. Und es gäbe auch kein Motiv mehr, bei der Arbeit Tag für Tag Mühe und Sorgfalt aufzubringen. Es gehört offenbar zur wirtschaftlichen Vernunft, dass sie einen erheblichen Teil der natürlichen und menschlichen Entwicklungen als Externa hinnimmt und sich nur, soweit es geht, vor den schlimmsten Folgen schützt. Dass man also viele Entwicklungen, an deren Ursachen man nichts ändern kann, in ihrem Verlauf „palliativ“ mildert.

Und noch ein Punkt ist hier wichtig. Die unternehmerische Vernunft ist nicht die einzige Vernunft, die in einem modernen Land vorhanden sein muss. Es gibt auch eine staatliche Vernunft, die sich von der unternehmerischen Vernunft unterscheidet und anderen Kriterien folgt. Der Staat unterliegt eigenen Leistungskriterien, auch er muss liefern – wie es exemplarisch in den verschiedenen Infrastrukturen ihren Niederschlag findet. Auch hier werden viele, verschiedene und gegenläufige Dinge integriert. Und auch hier gibt es Externa, die kein Staatswesen in seinen Strukturen auffangen kann. Doch zieht die staatliche Vernunft die Grenze zwischen intern und extern etwas anders als es die unternehmerische Vernunft es tut. Die unternehmerische Vernunft „produziert“. Sie geht induktiv vom Einzelding aus und kann in der wiederholten Herstellung von Produkten Überschüsse erwirtschaften. Die staatliche Vernunft ist nicht auf solche Überschüsse gerichtet, sondern setzt breiter an: Sie richtet sich auf eine Allgemeinheit und hebt deren Niveau. Ob es um Wegesysteme, Leitungssysteme, Müllentsorgung, Gesundheit, Bildung geht – immer richtet sich die staatliche Vernunft auf eine Allgemeinheit und leitet deduktiv daraus ihre Strukturen und Größenordnungen ab. Sie muss selber keine Überschüsse erwirtschaften, sondern nur „Bedingungen der Möglichkeit“ von Überschüssen herstellen. Der Staat finanziert sich aus diesen Überschüssen und ist insofern von einer eigenständigen und starken unternehmerischen Vernunft abhängig. Der moderne Staat hat seine eigenen sachlichen Effizienzgesetze. Er ist nicht in erster Linie ein personales Herrschaftssystem. Er hat seine eigenen Internalisierungs-Grenzen: Er kann nur einen Teil der sozialen Ansprüche und ökologischen Restriktionen integrieren. Generell kann man sagen, dass Staaten einen weiteren Umkreis von sozialen Ansprüchen und ökologischen Restriktionen internalisieren können. Aber das liegt nicht daran, dass ihre Vernunft einen höheren Standpunkt innehat oder moralisch besser ist, sondern dass sie nicht tagtäglich mit der Erzielung von Überschüssen beschäftigt sein muss.
Man kann es auch so ausdrücken: Die Gesamtheit der Unternehmen stellt eine große Produktionsmaschine dar, während die Gesamtheit der staatlichen Einheiten eine große Hebemaschine ist. Diese Unterscheidung ist wichtig. Die Differenzierung zwischen einer Unternehmenswelt und einer Staatswelt ist eine Errungenschaft moderner Länder. Sie ist effizienter als eine Vermischung von Unternehmen und Staat. Wenn Unternehmen wie ein Staat funktionieren sollen, oder wenn Staaten wie Unternehmen funktionieren sollen, kommt es zu einer Überlastung und Überdehnung – sowohl auf Seiten des Staates als auch auf Seiten der Unternehmen. Nur eine klare Differenzierung zwischen unternehmerischer und staatlicher Vernunft kann das vermeiden. Die unternehmerische Vernunft, um die es in diesem Essay geht, kann also niemals die alleinige Patentformel für ein modernes Land sein. Aber sie ist eine tragende Säule.

Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft

Eine nähere Betrachtung der unternehmerischen Vernunft – der „Unternehmensräson“, wenn man so will – kann helfen, besser zu verstehen, was bei VW auf dem Spiel steht, und welche Mechanismen hier am Werk sind. Wer bei unternehmerischer Vernunft nur an etwas denkt, das irgendwie „zu eng“, zu kurzsichtig“, „zu einseitig“, zu egoistisch“ ist, wird dazu neigen, sie mit zusätzlichen Aufgaben und höheren Zielen zu befrachten. Das führt zu einer Überlastung und zu einer Auflösung des Zusammenhalts und Zusammenhangs des Unternehmens. Das Unternehmen kann seine produktiven und reproduktiven Vorzüge gar nicht mehr zur Geltung bringen. Von dieser Art ist die VW-Krise. Ihre tieferen Gründe liegen nicht in einer Übertreibung oder „Radikalisierung“ der unternehmerischen Vernunft, sondern in einer Überlastung durch unternehmensfremde und uferlose Ziele. Mit einem anderen Begriff: Es handelt sich um eine Überdehnungskrise.
Wenn man versucht, den tieferen Gründen der VW-Krise nachzugehen, die auch eine Krise anderer großer Automobil-Unternehmen und eine allgemeine Unternehmens-Krise in Deutschland ist, dann stößt man immer wieder auf den gleichen Vorgang: auf Versuche, externe Veränderungen in interne Umstrukturierungen zu transformieren. Doch führen diese Internalisierungen zu einer Überdehnung der Unternehmen. Sie verzehrt ihre Wertschöpfung und damit auch die Ressourcen, auf denen ihre Fähigkeit zur eigenen Reproduktion beruht. Die bedingungslose „Öffnung“ eines Unternehmens für unkontrollierbare Faktoren und Entwicklungen zerstört seine Existenz.
Die VW-Krise ist keine Krise einzelner, isolierter Fehlentscheidungen, wie sie immer vorkommen und relativ leicht korrigierbar sind. Sie ist auch keine Krise im Rahmen eines Strukturwandels, bei dem eine sichere neue Struktur zur Verfügung steht, die an die Stelle der alten Struktur gesetzt werden kann. Die VW-Krise ist eine systematische Krise, die die Grundaufstellung des Unternehmens betrifft. Diese Krise hat insbesondere mit den Grenzen des Unternehmens zu tun. Diese Grenzen können nicht beliebig ausgedehnt werden, wenn nicht die Integrationsleistung des Unternehmens und seine (Re-)Produktivität Schaden nehmen soll.
Deshalb ist es wichtig, an das Wesen und die Eigenart der unternehmerischen Vernunft (und der realen Unternehmens-Welt) zu erinnern und diese gegen falsche Kritik in Schutz zu nehmen. Das ist offenbar in Deutschland bitter notwendig. Denn wir erleben gerade eine schwere Wirtschaftskrise, die sichtlich eine Überlastungskrise der Unternehmen ist. Nach langen Jahren, in denen die Unternehmen sich in ihren öffentlichen Äußerungen sehr zurückgehalten haben, ist seit einiger Zeit eine Änderung zu beobachten. Verschiedenste Unternehmerverbände sehen sich gezwungen, die Bedrohung ihrer Existenzgrundlagen deutlich auszusprechen.
Allerdings spielen Unternehmen als tragende Säule in Deutschland im politischen Diskurs dieses Landes selten eine Rolle. Man liest von „Brutto und Netto“, oder von „Arbeitsplätzen“, als würden Arbeitsplätze und Kaufkraft unmittelbar durch politisches Handeln erzeugt. Es wird auch der Eindruck erweckt, das politische Handeln könne – an den Unternehmen vorbei – Sozialleistungen oder Infrastrukturen einfach durch die Aufnahme von Schulden finanzieren. In Wirklichkeit lassen sie sich nur mittelbar finanzieren – durch das Bestehen einer Unternehmenslandschaft, in der positive Erträge erwirtschaftet werden. Da liegt die wirtschaftliche „Mitte“ dieses Landes.

Ist die Union reif für eine Wende?

Um den Niedergang von Wirtschaft und Staat in Deutschland zu beenden, genügt es nicht, sich von Rot-Grün zu distanzieren. CDU und CSU müssten sich klar und selbstkritisch von ihrer eigenen Politik der leichten Auswege verabschieden.

Ist die Union reif für eine Wende?

20. November 2024

Das abrupte Ende der Ampel-Koalition kann man als Erlösung begrüßen. Aber es gibt auch die Gefahr, dass die jetzige Beschleunigung der Dinge dazu führt, dass die tieferen Probleme des Landes aus den Augen verloren werden. Es geht um mehr als um die „Zerstrittenheit“ einer Regierung. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben in Deutschland schwerwiegende Eingriffe die Grundaufstellung von Wirtschaft und Staat stattgefunden, die sich nun als Irrweg erweisen. Mit dieser Aufstellung steuert das Land auf einen fundamentalen Engpass zu.
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war das Missverhältnis zwischen den Belastungen des Landes und seiner Produktivität so groß. Die Konsequenz ist eine Reproduktionskrise. Es gelingt nicht mehr, die Grundelemente von Wirtschaft und Staat aus den eigenen Erträgen zu finanzieren. Der Niedergang ehemals tragender Industriebranchen wie Automobilbau, Chemie und Maschinenbau ist viel mehr als eine konjunkturelle Krise. Das gleiche gilt für die immer größere Sanierungslücke bei der Brücken-, Straßen- und Schienen-Infrastruktur. Zur dieser Reproduktionskrise gehören auch die Nachwuchsprobleme in vielen Berufen und die sinkende Bereitschaft, längerfristige Investitionen von Kapital einzugehen.
Zugleich beobachten die Bürger auch einen Hoheits- und Substanzverlust bei den gemeinsamen Beständen und Rechtsgütern des Landes, die dem Staat anvertraut sind. Es gibt nicht nur einzelne Fehlentwicklungen, sondern insgesamt ein eklatantes Missverhältnis zwischen einer zunehmenden Gewaltneigung und Verwahrlosung im öffentlichen Raum einerseits und den Schutzleistungen des Staates andererseits. Für die Mehrheit der Bürger gehört es inzwischen zur Normalität, bestimmte Bahnhöfe oder Parks in den Abend- und Nachtstunden zu meiden. Bei der Massenimmigration laufen die Dinge ganz offensichtlich aus dem Ruder, aber das Regierungshandeln läuft oft darauf hinaus, dass die Bürger diesen Zustand hinnehmen sollen. Ähnliches lässt sich von der Leistungskrise des Bildungssystems sagen.

Es sind die elementaren Errungenschaften, die unsicher geworden sind

Bemerkenswert an der deutschen Krise ist, dass es gar nicht hochspezielle und unerhört neue Dinge sind, die fehlen. Sondern es sind eigentlich elementare Errungenschaften, die unsicher geworden sind. Die „einfachen“ Dinge gelingen nicht mehr. Die Bürger sehen auch, dass die so stark ins Rampenlicht gestellten „Innovationen“ oft als Ersatz wenig taugen, sondern das Leben umständlicher machen.
Diese Entwicklung geht auf Kosten eines zentralen Elements jeder modernen, freiheitlich-demokratischen Ordnung: den selbsttragenden Grundeinheiten.
Die Haushalte der Bürger, die Unternehmen, die Kommunen werden immer mehr mit Aufgaben überfrachtet und von Subventionen abhängig gemacht. Sie verlieren die Fähigkeit, ihre Dinge selbst zu bestimmen und das mit den Mitteln und dem Wissen zu tun, über die sie selbst verfügen. Wie hieß noch Immanuel Kants Wahlspruch der Aufklärung: „Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Für die Ordnung eines Landes bedeutet dieser Wahlspruch, dass die Grundeinheiten von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft so eingerichtet sein müssen, dass sie aus eigener Mündigkeit und eigenen Mitteln ihr Dasein gestalten können. Von dieser elementaren Souveränität hat sich Deutschland weit entfernt. Deshalb kommt jetzt gerade aus den Unternehmen, aus den Kommunen und aus den Bürger-Haushalten die Klage: Unsere eigenständige Existenz wird kaputt gemacht.

Leichte Auswege gibt es nicht mehr

Einige Jahrzehnte lang konnte man in Deutschland darauf setzen, dass die Produktivität der deutschen Industrie und die Tragfähigkeit der Infrastruktur so hoch waren, dass das Land bei Konjunktur-Einbrüchen und einzelnen Struktur-Krisen „wie von selbst“ immer wieder auf die Füße fiel. „Politik“ bedeutete da nur ein begleitendes, moderierendes, allenfalls überbrückendes Handeln.
Ebenso beruhte die internationale Stellung Deutschlands auf einem Produktsegment, das im Zuge des Wachstums der Weltwirtschaft stark nachgefragt wurde – wie Maschinen- und Anlagenbau oder die Produktion von Automobilen gehobener Standards. Gelegentliche Schwächen im deutschen Binnenmarkt konnten durch Exportstärke aufgewogen werden. In politisch-militärischen Krisen konnte man im Schatten der USA eine eher weiche, vermittelnde Rolle spielen.
So gewöhnte man sich hierzulande daran, von wirtschaftlichen und politischen Krisen mit einer routinierten Leichtigkeit zu sprechen. Immer wieder wurde die Erwartung geweckt, dass „wir gestärkt aus der Krise hervorgehen werden“. Was die Regierenden nicht daran hinderte, im gleichen Atemzug die Gefahr immer größerer „sozialer“ und „ökologischen Krisen“ in düsteren Farben an die Wand zu malen.
Doch nun zeigt sich die Krise an einer Stelle, an der man das Land für unverwundbar hielt: Die Überschüsse, die dem Land früher über alle Krisen hinweghalfen, stehen nicht mehr zur Verfügung. Auch der Ausweg auf die Exportmärkte wird zum Engpass, denn immer mehr Länder stellen die Produkte des „deutschen Segments“ nun selber her oder beziehen sie von anderen Lieferanten – siehe China.
Auf einmal muss Deutschland die eigene industrielle Basis rehabilitieren. Zugleich erlauben die poltisch-militärischen Krisen kein leichtes Mitfahren mehr. Aber eine „Flucht nach vorne“ in eine neue europäische Weltmacht-Politik wäre auch keine Lösung, sondern abenteuerlicher Leichtsinn. Vielmehr müssten in dieser Lage viel strikter die Grenzen der deutschen Möglichkeiten als mittelgroßem Land klar definiert und gewahrt werden.
In dieser Lage wäre es ein Gebot der Redlichkeit, offen zu sagen, dass der gewohnte Ausweg aus Krisen jetzt nicht mehr funktioniert. Und eine Revision der Grundaufstellung dieses Landes vorzunehmen. Doch die Regierung der „Ampelkoalition“ brachte die Kraft zu dieser Redlichkeit nicht auf. Ihre Krisenpolitik folgte dem Schema längst vergangener Jahrzehnte: Man setzte darauf, dass „Innovation“ und „Exportüberschuss“ schon bald wieder die zusätzlichen Erträge liefern würden, um aus der Krise „herauszuwachsen“.

Substanzverzehr und Verschuldung

Man baute eifrig weiter an der „großen Transformation“. Und man versuchte, mit teuren Subventionen und zusätzlichen Leistungen für „Soziales“ gute Stimmung zu machen und nochmal etwas Zeit zu kaufen. Einerseits wurde so die Substanz verzehrt, andererseits gewöhnte man sich mit dieser Politik an eine ständig wachsende Verschuldung. Man deklarierte „Notlagen“ und griff zu rechtswidrigen Umbuchungen. Man gelangte schließlich an den Punkt, dass die im Grundgesetz verankerte „Schuldenbremse“ angetastet werden sollte. Exakt an diesem Punkt ist die Ampelkoalition zerbrochen.
Wie zu hören ist, will der rot-grüne Ampelrest diese Scheinlösungen durch Schuldensteigerung bis zu den Neuwahlen weiterverfolgen, eventuell im Rahmen einer europäischen Gemeinschafts-Verschuldung. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die Ursache zu benennen, die bis zu diesem Punkt geführt hat: Es ist der Versuch, Wirtschaft und Staat unter einen höheren Zweck zu stellen: das „Soziale“ und das „Ökologische“. Es liegt auf der Hand, dass SPD und Grüne sehr empfänglich für eine solche sozial-ökologischen Verschiebung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sind.
Doch was ist eigentlich mit der CDU/CSU? Die Christdemokraten waren ja einmal so etwas wie die Gründungs- und Ordnungspartei der Bundesrepublik. Sie hatten die Weitsicht, um wichtige Grundentscheidungen für Staat und Wirtschaft zu treffen. Und sie hatten die Statur, um sie auch durchzusetzen und nachhaltig zu wahren. So richteten sich immer dann, wenn Deutschland vor schwierigen Entscheidungen stand, die Blicke auf die Union. Auch jetzt bieten sich die christdemokratischen Parteien als die große und einzige Alternative für Deutschland an.
Allerdings gibt es hier ein großes Fragezeichen. Denn in der jüngeren Vergangenheit haben die beiden Schwesterparteien in ihrer Ordnungsaufgabe versagt. Sie haben selber einen beträchtlichen Anteil an der Weichenstellung, die Deutschland auf das falsche Gleis gebracht hat. Sie haben an der Illusion leichter Krisen-Auswege führend mitgewirkt. Und sie sind auch jetzt weit davon entfernt, von dieser Illusion ausdrücklich Abschied zu nehmen.

Die CDU und das Ziel „Klimaneutralität“

Im neuen Grundsatzprogramm der CDU, das im Frühjahr 2024 beschlossen wurde, findet sich folgender Satz: „Bei einem Prozent Weltbevölkerung und zwei Prozent CO2-Ausstoß global wollen wir zu 20 Prozent zu der Lösung beitragen: mit Technologien für die Welt.“ Dieser Satz stammt von Friedrich Merz persönlich, wie man einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom Mai entnehmen kann. Er drückt die Erwartung aus, dass man die „Klimaziele“ (die nicht in Frage gestellt werden) mit einer Stärkung der deutschen Wirtschaft und ihrer Rolle in der Welt verbinden kann.
Das scheint auch die generelle Botschaft des neuen CDU-Grundsatzprogramms zu sein, wenn man Andreas Jung, dem stellvertretenden Parteivorsitzenden, folgt. Er wird in der „Frankfurter“ mit folgenden Worten zitiert: „Wir sind die Partei der Nachhaltigkeit, die Wirtschaft, Umwelt und Soziales zusammenbringt. Nur wenn wir ein starkes Industrieland bleiben, erreichen wir auch die Klimaziele.“
Das hört sich so an, als sei das Industrieland Deutschland bei der CDU in guten Händen. In Wirklichkeit wird hier ein Junktim zwischen allen möglichen Zielen formuliert. Eine Zurücknahme oder auch nur eine Verschiebung der Klimaziele wird ausgeschlossen. Dabei sind bei den Ausgaben für „Soziales“ die Einsichten schon weiter. Dort wird vielfach offen ausgesprochen, dass es mit dem „Zusammenbringen“ nicht getan ist, sondern Kürzungen unvermeidlich sind. Doch bei Umweltthemen ist die Union offensichtlich nicht zu diesem Schluss gelangt.
Die „Klimaziele“ sind inzwischen durch höchste Institutionen festgeschrieben. Jede Revision oder Relativierung wird dadurch extrem erschwert. Und es geht nicht nur um Ziele, sondern um handfeste Maßnahmen. Immer höhere Normen und Kosten, immer weitergehende Verbote sind beschlossene Sache. Die Klimaziele haben eine Prioritätsstellung im Land erobert, bei der für die Bürger nur die Alternative „Friss oder Stirb“ übrig bleibt.

Das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts

Das ist nicht irgendein „grüner Ausrutscher“, der dem Geist der Christdemokraten eigentlich fremd ist. Im Gegenteil: Die Klimapolitik ist von prominenten Vertretern der CDU aktiv in die höchsten Institutionen Deutschlands und Europas transportiert worden. Das gilt für die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel genauso wie für die Vorsitzende der EU-Kommission Ursula von der Leyen wie auch für Stephan Harbarth, den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und Vorsitzenden jenes ersten Senats, der das Klimaurteil vom März 2021 gefällt hat.
In diesem Urteil wurde die Aufstellung eines Fahrplans zur Erreichung der Klimaneutralität Deutschlands zum Verfassungsgebot erklärt und daraus direkt Handlungspflichten des Parlaments (der Legislative) und der Regierung (der Exekutive) abgeleitet. In diesem Urteil ist der Fall, dass das Schutzgebot des Klimas mit der Existenz Wirtschaft und Staat in Konflikt gerät und eine Abwägung von Rechtsgütern vorzunehmen ist, gar nicht vorgesehen. So ist eine Revision der Klimaziele vom höchsten deutschen Gericht eigentlich ausgeschlossen worden. Der Marsch in die Klimaneutralität wird damit zu einer Art Zweitverfassung der Bundesrepublik.
Die Aufnahme des Klimaziels ändert dabei das Wesen der Verfassung. „Klimaneutralität“ ist nur ein Postulat, das dem Bereich von Wunsch und Vision zugehört. Eine Verfassung, die aus Postulaten besteht, ist etwas ganz anderes als eine Verfassung, deren Rechte und Pflichten sich auf die gegebenen Ressourcen und realgeschichtlichen Errungenschaften eines Landes beziehen.
Das Ziel „Klimaneutralität“ legt die Bundesrepublik auf die sogenannte „große Transformation“ fest. Sie macht aus unserem Grundgesetz eine Transformations-Verfassung. Mit anderen Worten: Sie wirft das Land in den Strom einer Veränderung, deren erfolgreicher Abschluss noch in den Sternen steht. Denn hinreichende technologische und zivilisatorische Voraussetzungen für das Erreichen der Temperaturziele sind noch gar nicht in greifbarer Nähe. Das Urteil ist daher ein tiefer Einschnitt in der deutschen Verfassungsgeschichte. Und an diesem Urteil war mit Stephan Harbarth ein ehemaliger stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beteiligt.

Wettbewerbs-Metaphysik

Roland Koch, Ex-CDU-Ministerpräsident von Hessen und gegenwärtig Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung konstatierte in seiner wöchentlichen Kolumne („Erhard heute“) Anfang Oktober: „Der Kern des europäischen Klimapaktes ist die schrittweise Verteuerung von CO2-Emissionen, um den Anreiz zu schaffen, fossile Energieträger durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen. (…) Ohne die sichere Erwartung der Zertifikate-Verknappung und des Preisanstiegs rechnen sich weder E-Autos noch Wasserstoff-Wirtschaft noch Wärmepumpen und so weiter. Nur wenn das allen klar ist, beginnt der Wettbewerb um preiswerte E-Autos, kostengünstige und flächendeckende Wasserstoffversorgung und effiziente neue Heizungssysteme.“
Während die deutsche Wirtschaft in diesem Herbst 2024 nicht aus der Rezession herausfindet, sieht Koch seine Aufgabe darin, die EU-Klimapolitik zu retten. Die zitierte Passage enthält eine wundersame Wandlung: Zuerst wird alles teurer, damit es „klimafreundlich“ wird. Dann aber wird auf einmal alles billiger: Auf einmal sollen E-Autos „preiswert“ sein, soll es eine „kostengünstige und flächendeckende Wasserstoffversorgung“ geben, und die neuen Heizsysteme sollen so „effizient“ sein, dass die Bürger ihre bisherige Heizung schnellstmöglich zum alten Eisen werfen wollen.
Das ist nicht eine von Kapital und Arbeit getragene Marktwirtschaft, sondern eine naive Wettbewerbs-Metaphysik. Wie soll die Verteuerung der Güter, die ja durch die ökologischen Eingriffe in die Produktionssphäre verursacht ist, einfach „durch Wettbewerb“ verschwinden? CO2-Emissions-Zertifikate kann man schnell beschließen, aber die Entwicklung von Technologien und Arbeitsprozessen ist ungleich zäher. Oft erweisen sich vielversprechende Zukunftsprojekte als reine Luftschlösser.
Roland Koch will nicht die Klimaziele revidieren, sondern die Verteuerung der fossilen Energieträger nur ergänzen – durch das sogenannte „Klimageld“. Es soll an „einkommensschwache Haushalte“ gezahlt werden. Finanziert werden soll es aus den Einnahmen durch die CO2-Zertifikate. Ihr Verkauf spült einen Batzen Geld ins Staats-Säckel, und da denkt Herr Koch: Na super, da kann man einfach einen Teil an die Bedürftigen zurückgeben, und alle gesellschaftlichen Probleme sind erledigt.
Die Tatsache, dass die CO2-Einnahmen erstmal von der ganzen Gesellschaft bezahlt werden müssen, taucht gar nicht mehr auf. Die gigantische Kostenwelle, die eine Verteuerung der Energie quer durchs ganze Land auslöst, soll weiterrollen. Sie muss weiterrollen, sonst kann das Klimageld ja nicht bezahlt werden – fürwahr eine sozialökologische Großtat.

Die Standhaftigkeit Ludwig Erhards

Was Roland Koch vorschlägt, ist das glatte Gegenteil von dem, was Ludwig Erhard vertrat. Das vorgeschlagene „Klimageld“ ist Teil aller möglichen Konsum- und Investitionsbeihilfen, die jetzt, wo allmählich die wahren Kosten der „großen Transformation“ sichtbar werden, installiert werden. Hier findet nicht nur eine neue Ausdehnung von Sozialausgaben statt, sondern eine sozialökologische Zentral-Bewirtschaftung des ganzen Landes. In diesem Räderwerk gibt es weder Platz noch Motivation für die Leistungen von Unternehmern und Belegschaften. So kann das Brachfallen von vielen Wirtschaftsstandorten nicht verhindert werden. Und so wird auch kein verlorener Produktionszweig wieder ins Land zurückgeholt.
An dieser Stelle ist eine Rückbesinnung auf die tatsächliche Leistung Ludwig Erhards sinnvoll. In der Aufbauphase der Bundesrepublik, vor dem Hintergrund der Zerstörungen und Knappheiten nach dem zweiten Weltkrieg, gab es starke Tendenzen, ein Zentral-Bewirtschaftungssystem einzuführen. Die Ordnungspolitik Ludwig Erhards misstraute dagegen dem bloßen „Machen“ von oben und setzte darauf, die eigenständige Handlungsfähigkeit der Unternehmen, der Bürger-Haushalte und der verschiedenen Staatsebenen wiederherzustellen. Das bedeutete, dass nicht alle Ansprüche sogleich bedient und alle Notlagen sogleich behoben werden konnten. Die Ordnungspolitik hatte also auch ihre eigenen Härten.
So waren damals in Deutschland Weitsicht und Durchhaltevermögen gefragt. Das war in den kargen, angespannten Nachkriegsjahren alles andere als selbstverständlich. Aber es gelang. Dazu hat damals – vor allem in Wirtschaftsfragen – die ordnungspolitische Standhaftigkeit von CDU und CSU ganz wesentlich beigetragen. Es wurde zum Markenkern der Christdemokratie, aber auch – für einige Zeit – zum Markenkern des politischen Lebens der Bundesrepublik.

Ordnungspolitik: Härte und Freiheit

Wo es einst diese Grundfähigkeit im Lande gab, klafft heute eine große Leerstelle. Das ordnungspolitische Versagen der heutigen Christdemokratie macht diese Leerstelle besonders deutlich. Wir haben keine klare Vorstellung mehr von dem, was eine gute Grundaufstellung leisten könnte. Doch wir sehen, wie kurzatmig die Dinge im Lande geworden sind. Und wie sie zugleich unbeweglich geworden sind. Wir sehen, wie schwer es fällt, bei kurzfristigen Wünschen „Nein“ zu sagen. Und wie zugleich die Fähigkeit verloren geht, langfristige Investitionen aus eigenen Erträgen zu finanzieren. Ganz ähnlich wurzelt auch die Unfähigkeit, die Souveränität über die Grenzen unseres Staatswesens zu wahren, in einer solchen Schwäche des Nein-Sagens.
Wenn ein Land in einer tiefen Krise gefangen ist, gibt es keine nachhaltige Lösung ohne eine Verschiebung in der Sichtweise der Bürger – in der Bildung einer neuen demokratischen Mehrheit. Dazu müssen die lange Zeit vernachlässigten Ordnungsaufgaben wieder deutlicher von den 1000 Vormundschaften und Fördertöpfen, die man uns täglich andient, unterschieden werden. Es geht darum, dass die Bürger eine realitätsfeste, dauerhafte und keineswegs extreme Grundaufstellung von Wirtschaft und Staat als ihre eigene Ordnung verstehen, aus der heraus sie dann ihr eigenes Ding machen können.

Der Sport und das „Sommermärchen“

Ob Olympische Spiele oder Fußball-EM – In diesem Sommer wurde immer wieder eine „gute Stimmung“ beschworen, für die auch der Sport zu in Dienst gestellt werden soll. Es ist daher höchste Zeit, sich mit dem zu beschäftigen, was der Sport ist und was er nicht ist. (Aus meinem Notizbuch)

Der Sport und das „Sommermärchen“

August 2024

In diesem Sommer 2024 haben sich die Dinge zu einem merkwürdigen Gegenüber entwickelt. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere europäische Länder. Und für die USA, wenn man an das merkwürdige Phänomen „Kamala Harris“ denkt. Auf der einen Seite wird alles auf die „Stimmung“ gesetzt. Gelingt es die Stimmung zum Guten zu wenden, wird alles gut. Also wird versucht, ein Klima der „Zuversicht“ zu erzeugen. Es ist ein Vorhaben, das auf Willen und Vorstellung gebaut ist, also einseitig auf das Subjektive. Demgegenüber konstituiert sich eine andere Seite, die alles auf die „Realität“ setzt. Dieser Realismus ist also nicht auf einen anderen Willen und andere Vorstellungen gebaut, sondern auf die Macht des Objektiven: auf einen „Ernst der Lage“, an dem die bloß subjektiven Stimmungskräfte der „Zuversicht“ versagen. Die Realisten müssen also nicht in einen Wettbewerb um die höherfliegenden Ziele und bunteren Erzählungen eintreten. Sie agieren auf einem ganz anderen Kampffeld: Dazu gehört freilich, dass der Ernst der Lage so stark wird, dass er nicht mehr übersehen und verdrängt werden kann. Für die Realisten hat nur das bleibenden Wert, was in Auseinandersetzung mit den Widrigkeiten und Knappheiten dieser Welt errungen ist. Der Realismus, so könnte man sagen, ist ein langsamer Geselle – verglichen mit der Leichtfüßigkeit der Stimmungsmacher.
Es findet also nicht ein einfaches Duell zwischen zwei Positionen statt, sondern eine Auseinandersetzung zwischen zwei ganz verschiedenen Kampf-Räumen und -Zeiten. Eine asymmetrische Auseinandersetzung. Eine Auseinandersetzung, die darum geht, welche „Arena“ sich durchsetzt. Es geht dabei um Verschiebungen, die den Beteiligten oft gar nicht ganz bewusst sind, sondern die sich hinter dem Rücken der Gesellschaft wie von unsichtbarer Hand vollziehen.

Über den Sport

Der Sport ist natürlich nicht repräsentativ für alle Probleme und die ganze Gegenwart eines Landes. Aber er ist ein interessanter Messpunkt, um den Stand der Auseinandersetzung zwischen „Stimmung“ und „Lage“ festzustellen. Um die Feinheiten von Frontverläufen und Frontverschiebungen erkennen zu können. Der Vorteil, wenn wir den Sport zum Beobachtungspunkt wählen, besteht darin, dass der Sport ein genuin physisches Feld eröffnet. Ein Feld physischer Auseinandersetzungen, Disziplinen, Arenen, Körpertechniken. In einer Welt, die sich uns heute meistens als Welt der Zeichen, Kommunikationen und Medien darstellt, bietet der Sport die Möglichkeit einer Gegenprobe: Hier kann man das Kommunikativen am Nicht-Kommunikativen messen, hier muss sich die Zeichenwelt in einer genuin anderen Welt bewähren. Sie hat sozusagen ein Auswärtsspiel.
Aber natürlich ist auch der Sport der Macht der Worte, der Zeichen, der Kommunikationen ausgesetzt und wird von dieser Macht oft überformt. Er wird zum „Medienereignis“, zum „Schauspiel“, zur Inszenierung, zum Anlass von immer längeren „Vorberichten“. Er wird ständig „besprochen“. Sportler werden ständig und rücksichtslos genötigt, ihr Tun und Erleben in Worte zu fassen – oft noch kurz vor oder nach ihrem Wettkampf. Und das hat auch Folgen für die Zusammensetzung des Publikums und seine Erwartungen. Man kann heute gar nicht davon ausgehen, dass bei allen Zuschauern wirklich das Erleben der physischen Auseinandersetzung – nicht nur mit dem Gegner, sondern vor allem mit den physischen Bedingungen und Schwierigkeiten ihrer Sportart – im Vordergrund steht. Viele erfreuen sich eher an der Schau, an der Begleitmusik, an den Lichteffekten, am Gemeinschaftserlebnis auf den Rängen.

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Die eigene Größe des Sports – Es soll hier nicht einfach Kulturkritik geübt werden, sondern der Blick für die spezifische Größe und Eigenlogik des Sports geschärft werden. Dazu gehört auch, ihn in seinen Mühen und Härten zu sehen. Und in seiner Begrenztheit. Er eignet sich nicht als Generalschlüssel zur Verbesserung der Welt oder zur Sanierung eines Landes. Zugleich soll der Blick für die verschiedenen, groben oder subtilen Besetzungen des Sports durch sportfremde Dinge geschärft werden. Dabei soll aber nicht einfach das Lied vom bösen „großen Geld“ und den bösen „Mammutveranstaltungen“ angestimmt werden. Manche Kritik an den Olympischen Spielen legt es ja nahe, solche Zentralereignisse am besten gar nicht mehr stattfinden zu lassen. Gerade in Deutschland hat in den vergangenen Jahren eine Kritik die Oberhand gewonnen, die – per Volksentscheid – Olympiabewerbungen von München oder Hamburg zu Fall gebracht hat. Das hatte wenig mit Sportsgeist zu tun, und viel mit einer Gleichheits-Ideologie, die nur noch ein provinzielles Klein-Klein zulassen mag. Die Anstrengungen und Einschränkungen, die eine sportliche Großveranstaltung jedem Veranstaltungsort abverlangt, können von diesem Standpunkt nicht mehr verstanden und akzeptiert werden. Das schlägt dann auf den Sport selbst zurück: Er darf dann nur noch irgendein ein „entspanntes Bewegen“ sein.

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Gesichter des Sports – „Geht auf den Platz und habt Spaß.“ Diese Devise ist in unserer Zeit des Öfteren als Ratschlag von Trainern an ihre Spieler zu hören. Auch mancher Sportler hat vor laufender Kamera schon geäußert, dass er einfach in den Wettkampf geht, und sich vornimmt, Spaß zu haben. Das hört sich gut an. Es ist wie eine Lockerungsübung. Und es passt ja zu einer der Grundhypothesen, die dies Land seit mehreren Jahrzehnten regieren: Dass man durch weniger Druck oder durch eine Belohnung, die der Leistung vorausgeht, eine höhere Leistungsmotivation erzeugt. Das wäre sozusagen die „Entspannungs-These“, die auch im Sport ihren Einfluss ausübt.
Doch sollte man einmal genau hinsehen, wenn Athleten unmittelbar vor einer Übung stehen. Wenn sie an den Start gehen. Oder wenn sie am Übergang zwischen verschiedenen Phasen einer Übung stehen. Ist ihr Gesichtsausdruck und ihre Körperhaltung wirklich entspannt? Besagt der Gesichtsausdruck eines Hochspringers, einer Turnerin am Schwebebalken, eines Paares Reiter-Pferd in der Dressur, eines Skirennläufers, einer Fußballerin wirklich, dass sie in diesem Moment „Spaß haben“? Nein. Gewiss ist es auch kein „Leiden“, das sich im Gesicht ausdrückt. Aber es ist Konzentration. Der sogenannte „Tunnel“, in dem der Athlet ist und sein muss, wenn er etwas erreichen will. Die Fokussierung auf ein bestimmtes, genau gesetztes Umschalten in einem Bewegungsablauf.

Über das Sommermärchen

„Plötzlich lächelt Paris“ steht in großen Lettern über einem ganzseitigen Artikel von Michaela Wiegel auf Seite 3 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. August 2024. Im Untertitel heißt es: „Frankreich erlebt sein Sommermärchen. Olympia verwandelt die Hauptstadt zum Besseren – wohl auch über die Dauer der Spiele hinaus.“ Es ist ein sehr großes Ansinnen, das hier einem doch relativ kurzen Ereignis zugeschrieben wird. Ein Lächeln also soll eine ganze Weltmetropole und nationale Hauptstadt zum Besseren verwandeln, und das „wohl auch“ nachhaltig über den Tag hinaus. In dem Artikel schreibt Wiegel:
„Schon jetzt steht fest, dass Paris ein Sommermärchen erlebt hat. Das besteht nicht nur im allgegenwärtigen Lächeln – ungewöhnlich genug in Paris – oder in den vielen Medaillen. Sondern auch in dem wiederentdeckten Stolz darauf, eine bunte und tolerante Stadt zu sein. Zahlreiche Sportler mit Migrationshintergrund haben in den vergangenen zwei Wochen die zentralen Plätze der Stadt in Szene gesetzt: als Fechter im Grand Palais, als Schützen am Invalidendom, als Skateboarder am Concorde-Platz. Sie haben nicht nur das alte Paris erstrahlen lassen. Die Stadt hat auch neue Bauten hinzugewonnen, die Olympia überdauern werden, etwa das olympische Dorf und eine Schwimmhalle, vor allem aber neue Metrostationen in der Banlieue. Sie sollen das Zentrum von Paris auch im übertragenen Sinn besser mit den Außenbezirken verbinden. Das Sommermärchen, so hoffen in diesen Tagen viele Pariser, könnte die Stadt nachhaltig zum Besseren verändern.“

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Am Ende dieses Artikels hält es die Autorin für angebracht, die Pariser Bürgermeisterin Hidalgo zu Wort kommen zu lassen. Sie hat sozusagen das Schlusswort des „Sommermärchens“:
„Noch größer ist die Freude der 65-jährigen Bürgermeisterin darüber, dass die Spiele wie eine fröhliche Absage an die Rechtspopulisten wirken. `Es passiert etwas unglaublich Positives. Man kann sich daran erfreuen, Menschen zu treffen, die anders sind als man selbst´, sagt sie. Die Botschaft der extremen Rechten, ist sie überzeugt, sei durch die Olympischen Spiele zertrümmert worden.“
Damit endet der Artikel, der unter der Überschrift steht „Plötzlich lächelt Paris“. Dies Verbindung ist bemerkenswert. Es geht um ein Lächeln, das zertrümmert. Wie geht das, fragt man sich. Es geht dadurch, dass es ein demonstrativ ignorierendes, ausschließendes Lächeln ist. Dies schließt alles aus, was den Ernst der Lage – auch in Paris, auch in Frankreich – ausmacht. Wer von diesem Ernst spricht, statt in das Lächeln miteinzustimmen, ist ein böser, kranker Extremist. Das “Lächeln“ wird hier zu einem hochangestrengten, hässlichen Grinsen. Pamela Harris lässt grüßen.

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Man könnte es vielleicht auch so ausdrücken: Je weitläufiger die Wirkungen des Sports beschworen werden, umso weniger bleibt von seinem Kern und seiner eigenen Größe übrig.

Zur Eigenlogik des Sports

Die immer häufigere Subsumierung des Sports unter sportfremde Maßstäbe stellen mit wachsender Dringlichkeit die Aufgabe, das präziser zu fassen und hervorzuheben, was die Eigenart des Sports ausmacht und ihn von anderen Zivilisations-Bereichen unterscheidet.
Der ist Sport wird bestimmt von einem Antagonismus. Dem Antagonismus zwischen sehr begrenzten körperlichen Anlagen und Kräften eines endlichen Wesens und den unvergleichlich größeren, niemals völlig beherrschbaren Anlagen und Kräften der äußeren Natur. Der Sport ist dabei nicht darauf angelegt, diese äußeren Kräfte möglichst weitgehend durch technische Mittel zu überwinden. Seine Rationalität und sein Reiz unterscheiden sich von der technischen Rationalität. Wenn ich mich schnell bewegen will, kann ich das Auto nehmen. Wenn ich hochhinaus will, kann ich einen Fahrstuhl nehmen. Aber im Sport tue ich genau das nicht. Er ist gewissermaßen eine „Zelebration der Schwäche“. Seine Regeln sind darauf angelegt, den menschlichen Körper in gewissem Sinn zu „entblößen“. Und auf die Macht technischer Hilfsmittel zu verzichten. Gewiss werden Laufschuhe und Fußballschuhe, Turngeräte und Turnmatten, die Stäbe des Stabhochsprungs, die Ruderboote, die Biathlon-Gewehre ständig weiterentwickelt. Aber der Grundkonstellation des Sports haftet doch auch etwas Archaisches an.
Man tut dem Sport keinen Gefallen, wenn man ihm eine Logik der grenzenlosen Steigerung der Leistungen unterstellt und die Rekordjagd zum Hauptanreiz für die Sportler erklärt – also das „schneller, höher, weiter“. Das Feld des Sports bietet in dieser Hinsicht kein grenzenloses Wachstum. Er strebt auch nicht nach einer Position immer größerer oder gar „unantastbarer“ Überlegenheit. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass der Wert des Sports nicht in einem bestimmten Endresultat liegt, sondern in der physischen Auseinandersetzung selbst, im „antagonistischen Moment“. Im Sport wird nach Toren, nach gemeisterten Höhen, nach schnelleren Zeiten gestrebt. Aber nie nach etwas Endgültigem. Der Antagonismus soll hier nicht aufgehoben werden. Er soll immer neu eröffnet werden können. Er soll fortbestehen.

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Der antagonistische Moment und die Photographie – Wie kann man sich diesen Moment vorstellen? Wie wird er fassbar? Walter Benjamin hat sich in seinem Essay „Kleine Geschichte der Photographie“ (1931) mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Technik der Photographie – im Gegensatz zur Malerei – nur mechanisch genaue Abbilder der Realität produzieren kann? Oder ob sie eine zusätzliche, magische Realität eröffnet, die dem menschlichen Auge vorher unzugänglich war. Benjamin neigt dieser zweiten Auffassung zu, und in seiner Begründung findet sich folgende Passage:
„Hat man sich lange genug über so ein Bild (eine Photographie, GH) vertieft, erkennt man, wie sehr auch hier die Gegensätze sich berühren: die exakteste Technik kann ihren Hervorbringungen einen magischen Wert geben, wie für uns ihn ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann. Aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung seines Modells zum Trotz fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchgesengt hat…
Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, dass an die Stelle eines vom Menschen mit Bewusstsein durchwirkten Raums ein unbewusst durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, dass einer sich vom Gang der Leute Rechenschaft gibt, sei es auch nur im Groben, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des Ausschreitens. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln – Zeitlupen, Vergrößerungen – erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewussten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewussten durch die Psychoanalyse.“
Das „Fünkchen Zufall“, mit dem die Wirklichkeit die Fotographie „durchsengt“ hat, ist auch in der Sportphotographie am Werk. Sie kann den antagonistischen Moment festhalten, der oft nicht unmittelbar für unsere Augen zugänglich ist. Unseren Augen entgeht ein Teil der Realität, oft ein starker, beeindruckender, magischer Teil. Die Sportphotographie öffnet uns einen Zugang. Sie hat unsere Welt größer gemacht. Wir können ihr dankbar sein. Dabei liefert die Photographie keine „Konstrukte“. Diesen Moment im Sprung, im Kampf um den Ball, im Ruderboot, in der Erschöpfung nach der Zielankunft konnte niemand bewusst so hinstellen. Doch gerade dieser Unplanbarkeit macht das Bild authentisch. Es verleiht ihm eine Wirkungsmacht, die dann ihrerseits den Betrachter „durchsengt“.

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Erinnerung, sprich – In ziemlich früher Jugend habe ich die „Sportillustrierte“ entdeckt. Sie wurde meine Lieblingslektüre. Vor allem die großen Photographien von Wettkampf-Szenen. Wie habe ich manche Bilder angestaunt! Was für eine Welt tat sich da auf.

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Der Ernst des Sports (I) – Der Sport hat seine eigene Härte. Seine eigene Unerbittlichkeit. Schummeln ist ehrlos. Und erst recht Doping. Die Härte liegt aber auch im Zwang zum Resultat. Der „gute Willen“ allein zählt nicht. Man muss tatsächlich Tore schießen. Man muss eine Höhe beim Hochsprung tatsächlich bezwingen. Wenn man nur irgendwelche Gesten macht, irgendwie herumhampelt und bloß „viel Bewegung“ demonstriert, macht das im sportlichen Sinn nicht satt. Die Spannung des Gelingens oder Nicht-Gelingens ist immer präsent. Das ist der Ernst des Sports und unterscheidet ihn vom Kinderspiel.

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Der Ernst des Sports (II) – Aber diese Spannung des Gelingens oder Nicht-Gelingens ist nicht von einem besonders hohen Niveau abhängig. Man braucht keinen Spitzensport oder Olympiasieg, um es zu erfahren. Man kann es auch bei einer Kreismeisterschaft, bei der man nur einen zweiten Platz erringt, haben. Die Magie des Sports gibt es auf jedem Niveau. Aber all das wird sofort zunichte gemacht, wenn man auf einmal anfängt, die Anforderungen für eine sportliche Leistung ganz zu streichen – und einfach gratis Urkunden, Auszeichnungen und Beifall zu spenden. Mit solcher „Pädagogik“ erniedrigt man die Athleten, deren Leistungen sich auf niedrigerem Niveau bewegen. Und man stiehlt insbesondere Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit, kleine Kraftproben wirklich zu bestehen und etwas wirklich selbst – ohne fremdes Zutun – zu erringen.

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Das Training – Zum Ernst des Sports gehört auch das Training. Wenn die Leistung nur ohne große technische Mittel herbeigeführt werden kann, und wenn sie nicht durch fremde Hilfe und durch vorschnellen und beschönigenden Beifall ersetzt werden kann, bekommt das Üben eine wichtige Rolle. Die sportliche Leistung fällt nicht vom Himmel. Sie ist kein Geniestreich. Sie wird nicht „im Kopf“ gewonnen. Sie muss durch Trainingsfleiß erworben werden. Beim Training ist der Reiz des Wettkampfes nicht unmittelbar gegeben. Training ist eine Wiederholungs-Aufgabe. Nur so können Muskeln, Sehnen und Knochen aufgebaut werden. Nur so können Bewegungsabläufe eingeübt werden. Manch Ahnungsloser spricht da von stupider Arbeit. Und sogar – wenn es um junge Leute geht – von „Kinderarbeit“. Aber man lernt hier den Wert des Wiederholens kennen. Und das ist keine Selbstverständlichkeit in einer Zeit, die so tut, als könne man jeden Tag „innovativ“ und „kreativ“ sein. Und jede Wiederholung sei daher stupide Zeitverschwendung für „Verlierer“.

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Über Fairness – Es ist bemerkenswert, dass die Athleten, die sich gerade in einem harten Wettkampf miteinander befunden haben, aufeinander zugehen können und sich gegenseitig Respekt und Mitgefühl entgegenbringen. Der Sport muss also ein Element enthalten, das die Athleten einander nahebringt. Und dies Element kann nicht in einer kommunikativen Verständigung liegen. Ich denke, diese Nähe liegt in der – oben beschriebenen – Situation der Schwäche, die jede Sportart auf ihrer Weise herstellt: Dass die Athleten es immer mit unvergleichlich größeren äußeren Kräften und schwierigen Bedingungen zu tun haben, denen sie mit sehr beschränkten Mitteln gegenübertreten. Angesichts der gemeinsam erfahrenen „Blöße“, der sich alle unterwerfen, relativieren sich die Gegensätze zwischen den Athleten. Das ist eine starke Basis für Fairness.
Für diese Erklärung spricht auch, dass die Zuschauer sehr viel weniger zu dieser Fairness neigen, obwohl sie doch nicht so direkt am Wettkampf beteiligt sind wie die Sportler. Aber von den Zuschauerrängen ist des Öfteren zu hören, dass Fehlleistungen eines „gegnerischen“ Athleten mit höhnischem Jubel bedacht werden. Dagegen ist es wirklich sehr selten, dass eine solche Verhöhnung zwischen gegnerischen Sportlern auf der Laufbahn, auf dem Fußball-Platz, am Turngerät oder auf einer Ruderstrecke stattfindet. Oder bei einer Siegerehrung. Aber die geringere Fairness der Zuschauer ist eigentlich logisch: Sie sind ja nicht der sportlichen Grundsituation der Schwäche und Blöße ausgesetzt.

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Eine Begebenheit beim Pariser Marathonlauf – In der FAZ vom 12.8.2024 berichtet Alfons Kaiser von einer Begebenheit beim olympischen Marathonlauf. Der Titel lautet „Ein König ohne Socken“. Es geschah an der 30-Kilometer-Marke. Eliud Kipchoge aus Kenia ist zweifacher Olympiasieger und einer der Großen des Langstreckenlaufs. Aber an der 30-Kilometer-Marke musste er wegen starker Unterleibsschmerzen („Seitenstiche“) anhalten. Den Kontakt zur Spitze des Läuferfeldes hatte er schon vorher verloren, nun zog das übrige Feld vorbei. Er musste aufgeben. Aber er wurde nicht sofort von Helfern betreut und mitgenommen. Sondern er stand ganz alleine da. Das folgende berichtet Alfons Kaiser so:
„Eliud Kipchoge schaut nach hinten, aber niemand kommt, zwei, vier, sieben Minuten lang. Das Rufen und Klatschen (des Publikums am Straßenrand, GH), das „allez, allez!“ ebbt langsam ab, und es wird peinlich still. Er steht da ganz allein, blickt ins Nirgendwo, damit er niemand anschauen muss, einige haben Tränen in den Augen. Einer löst die Stimmung und ruft frech: „Gib mir dein Namensschild!“ Eliud Kipchoge reißt wirklich sein Namensschild vom Rücken und reicht es über das Gitter, jetzt ist der Marathon für ihn wohl offiziell beendet. Niemand fragt, warum er den Lauf unterbrochen hat. Erst später wird er von Problemen an der Taille sprechen, also vermutlich von Seitenstechen… An der Route des Gardes versuchen sie es mit Aufmunterung. Einer ruft: „Bitte die Schuhe!“ Und wirklich: Er reicht erst einen Schuh, dann den anderen hinüber. Und dann kommt doch noch ein offizieller Wagen, erhält an, ein weißer Van, kein Taxi, wie es später heißen wird. Eliud Kipchoge zieht seine Socken aus, gibt sie auch noch ins Publikum, steigt ein und lässt sich wegfahren. Ein König ohne Krone. Und ohne Socken.“
Es ist gut, dass der Journalist diese Szene aufgeschrieben hat. Aber wie falsch klingt der Schluss (und der Titel) der Geschichte. Der Ausdruck „Ein König ohne Socken“ klingt fast hämisch, angesichts des Scheiterns und der plötzlichen Einsamkeit eines großen Athleten. Er verfehlt ganz die Tragik des Geschehens. Und mehr noch: Er verfehlt die Grausamkeit dessen, was sich zwischen einem Teil des Publikums und dem Läufer abgespielt hat. Da gibt es Zuschauer, die die Situation ausnutzen, um sich das Namensschild, die Schuhe und die Socken des erschöpften Athleten unter den Nagel reißen. Wohl als „Andenken“, als Trophäe, mit der sie dann prahlen können. Was für ein erbärmlicher Triumph von Zuschauern, die sich wohl als die wahren „Könige“ des Geschehens fühlen, und die Athleten wie Dienstpersonal behandeln, das zu ihrer Unterhaltung da ist.

Eine magere Sport-Bilanz und viel sportfernes Gerede

Nach Abschluss der Olympischen Spiele in Paris fiel die sportliche Bilanz Deutschlands nicht sehr großartig aus. Sie blieb hinter den Erwartungen zurück. Man kann hier die Medaillenbilanz anführen – Deutschland landete auf Platz 10 der Teilnehmernationen. Dabei fiel auf, das nicht nur sehr große Nationen wie die USA und China vor Deutschland rangierten, auch nicht nur das Gastgeberland Frankreich, sondern auch mittlere und kleinere Nationen wie Großbritannien und die Niederlande. Aber es ging nicht nur um die Medaillen-Ränge. Es fiel auch auf, dass Deutschland in elementaren Sportbereichen wie Leichtathletik, Schwimmen und Turnen in vielen Disziplinen nicht einmal in die Endkämpfe vordrang. Beim Laufen, Springen und Werfen – sozusagen olympische „Grundfächer“ – ist dies Land zweit- und drittklassig geworden. Wie wird dieser „Ernst der Lage“ des Sports in Deutschland reflektiert? Wird er überhaupt zur Kenntnis genommen?

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„Freie Entfaltung“ ist keine Sportart – In der FAZ vom 13. August 2024 steht ein Kommentar von Anno Hecker mit der Überschrift „Was Paris lehrt“. Der Autor will eine ganz andere Grundorientierung. Was er schreibt, trifft nicht nur einen zu engen Leistungsbegriff, sondern überhaupt den Leistungsbegriff im Sport:
„Hinter der Idee des Spitzensports muss in erster Linie etwas anderes stecken als die Fixierung auf Medaillenbringen. Von Anfang an allein die Idee, talentierten Menschen die Chance zu bieten, sich frei entfalten zu können. Dass es dazu leider nicht so oft kommt, wie es möglich wäre, liegt vor allem an einer Geringschätzung des Sports im Alltag. Er spielt keine Rolle in der Bildungspolitik, er ist ein Streichkandidat in der Schule.“
„Wer unbedingt Medaillen will, wird sie bekommen, sobald er versteht, wo der Weg beginnt und wo er so professionell, so einfühlsam und klug wie nur möglich begleitet werden muss: bei dem Versuch, Kinder für ein lebenslanges Bewegen zu gewinnen.“
Die Bedeutung des Schulsports möchte man gerne unterschreiben, auch wenn nach meinen Erfahrungen der Sportunterricht für die sportlichen Kinder zu wenig bietet, und die Arbeit von Sportvereinen unentbehrlich ist, wo dem Leistungsbedürfnis der Kinder Nahrung gegeben werden kann, damit es nicht verhungert. Doch beim Autor kommt das Wort „Leistungsbedürfnis“ nicht vor. Wenn es um Leistung geht, geht es ja um ein Messen, das jeweils nach Sportart genau bestimmt werden muss, um nicht bloß bei irgendeinem beliebigen Herumgehüpfe stehenzubleiben. Es ist ja gerade der „Ernst“ von Höhe, Weite, Zeit, der den Sport für Kinder reizvoll macht. Erfolgserlebnisse bei Sport gibt es nicht gratis. Sie wollen errungen sein. Gerade dadurch ist der Sport als anspruchsvoller Ort, an dem man die eigene Wirklichkeit ausprobieren kann, so reizvoll und wertvoll. Doch an diesem entscheidenden Punkt gleitet der Autor in das Vokabular jener pädagogischen „Wende“, die in Deutschland in den 1960er Jahren begann und heute im Umgang mit Kindheit und Jugend dominant ist. Da finden wir das „sich frei entfalten können“. Und zugleich fordert der Autor auch etwas, was das glatte Gegenteil von freier Entfaltung ist: eine hochkomplexe, fürsorgliche und entsprechend bevormundende Betreuung, mit der normale Eltern und Vereinslehrer überfordert sind. Es muss eine „Begleitung“ geben, die „so professionell“, „so einfühlsam“ und „so klug“ ist „wie nur irgend möglich“. Da werden Enttäuschungen, die zu jeder wahren Freiheit gehören (und daher auch zu jedem Kinder- und Jugendsport), zum Tabu. Und schon soll da eine leitende Hand installiert werden, die alle Enttäuschungen von den Kindern fernhalten soll und deshalb in jedem Augenblick wachen muss.

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Über eine Alibi-Formel: „Menschen bewegen“ – Einen Tag vorher hatte derselbe Autor in einem bilanzierenden Leitartikel unter der Überschrift „Paris hat bewegt“ (in der FAZ vom 12.8.2024) geschrieben: „Das Beste der Olympischen Spiele ist ihre Kraft, Menschen zu bewegen. Paris hat bewegt.“ Aber geht es bei diesem „Bewegen“ wirklich um Sport? Die Sommerwochen von Paris waren ja in einem großen Maße eine Inszenierung, ein Schauspiel, ein großes Theater. Und das war ja auch die Grundlage, auf der Olympischen Spiele mit dem Stadtraum von Paris verbunden wurden. Sie wurden „urbanisiert“, aber im gleichen Atemzug wurden sowohl der Sport als auch die Stadt „theatralisiert“, also zu einer großen Schauveranstaltung. In den Worten von Anno Hecker:
„Das tägliche Drama des Weltsport-Theaters eint die Sommerspiele, egal wo sie stattfinden. Aber in Paris ließ sich etwas Neues beobachten: Die Urbanisierung der Spiele, ihre Einbettung in das Leben einer pulsierenden Weltstadt. Sie fanden nicht überwiegend eingepfercht in einem schönen Park statt wie in Englands Hauptstadt, nicht auf einem riesigen Parkplatz hinter dem Berg von Copacabana. Paris öffnete sich, platzierte den Sport da, wo man gern und mal eben hingeht, an die schönsten Plätze, die berühmtesten Monumente.“
Das Bild der Einbettung von Olympia in das Leben „einer pulsierenden Weltstadt“ ist dabei irreführend. Es war die Sondersituation eines in den Ferien entvölkerten Paris (die Beschäftigten, die keinen Urlaub hatten, wurden gebeten, sich nach Möglichkeit ins Home-Office zurückzuziehen). Ein zentraler Mittelkorridor der Stadt war für den motorisierten Verkehr gesperrt. Das war für die Spiele nicht anders möglich, aber kann kein Dauerzustand einer „pulsierenden“ Weltstadt sein. Zugleich bot die „Urbanisierung“ nur selten Gelegenheit, die Sportler in ihrer Aktion wirklich aus einer größeren Nähe zu sehen. Man war doch wieder auf große Bildschirme angewiesen. Die Symbiose stieß also auf Grenzen – sowohl von der Seite des Sports als auch von der Seite der realen Stadtabläufe. Eine moderne Großstadt ist eben keine Theater-Vorstellung, keine Bühne, auf die man dann bloß die Olympischen Spiele als besonderes Bühnenstück zu stellen braucht. Das Pulsieren ist realer als eine Bühne. Eine Großstadt ist eine physische Maschine.
Aber das „Menschen bewegen“, das Hecker in den Mittelpunkt seiner Bilanz stellt, ist eben weder genuin sportlich noch genuin großstädtisch. Er spricht von einem „Bild der Bilder“, das die gelungene Verbindung von den Spielen und Paris exemplarisch zeigt. Es ist das Bild „…von einem traumhaften Spiel im Beachvolleyball-Stadion am Fuße des Eiffelturms im Abendlicht der untergehenden Sonne“. Wenn er von „Menschen bewegen“ schreibt, beschwört er also im Grunde eine Atmosphäre. Eine Stimmung.

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Die Fußball-EM in Deutschland: Der Bundestrainer als „Bundestherapeut“ – Diese Indienstnahme eines Sportereignisses führt zurück zu einem anderen Sportereignis: der Fußball Europameisterschaft, die im Juni/Juli 2024 in Deutschland stattfand. Hier stand die Aufgabe im Raum, einen „Stimmungsumschwung“ im krisenhaften Deutschland herbeizuführen. Man hoffte auf eine positive „Bewegung“, auf ein neues „Sommermärchen“, dass das Auftreten der deutschen Nationalelf vor eigenem Publikum auslösen sollte. Und der Bundestrainer Julian Nagelsmann sollte dabei eine Schlüsselrolle spielen. Unter dem Titel „Der Bundestherapeut“ schrieb Christian Kamp im Sportteil der FAZ am 1.7.2024 in einem Kommentar folgendes:
„Julian Nagelsmann stand vor einer gewaltigen Aufgabe, als er den Posten übernahm, nicht zuletzt wegen der Hypothek des fortwährenden Scheiterns unter seinen Vorgängern. Dass seine Mannschaft es geschafft hat, diesen Ballast loszuwerden und Fußball nicht mehr als Kampf gegen die Dämonen, sondern wieder als lustvolles Spiel zu begreifen, ist zu großen Teilen sein Verdienst: Der Bundestrainer als Bundestherapeut.“
Diese Lobeshymne wurde nach dem Dänemark-Spiel verfasst, das auf dem Platz freilich nur um Haaresbreite und durch Mithilfe eines (gar nicht so sportlichen) „Videobeweises“ gewonnen und nicht verloren wurde. Aber wo es um Stimmungen geht, spielt der tatsächliche Spielverlauf auf dem Platz nur eine Nebenrolle. Auf dem Feld der Stimmungen können dann alle möglichen Wirkungen beschworen werden, vor allem eine Wirkung auf das Gesellschafts-Ganze. So verliert sowohl der Sport als auch die Politik ihre jeweils eigene Besonderheit und Wirksamkeit. Alles wird nun irgendwie zu einer Angelegenheit von Therapie. Seelen-Coaching und Pädagogik. Und der Bundestrainer spielt mit. Nagelsmann erklärte am 6.7.2024 auf einer Pressekonferenz:
„Es gab eine Symbiose zwischen der Mannschaft und den Menschen im Land. Und ich hoffe, dass wir es auch nachhaltig hinkriegen, diese Symbiose in weit wichtigeren Dingen fortzusetzen.“
Zu diesem Zeitpunkt war die deutsche Nationalmannschaft nach einer Niederlage gegen Spanien bereits aus dem Turnier ausgeschieden. Aber auf der Stimmungsebene konnte die Deutschland-Therapie unverdrossen weitergeführt werden. Und auch Christopher Melzer von der FAZ spielte dies Spiel mit:
„Es ist durch die Niederlage gegen Spanien dann doch nicht der ganz große Sommer der Nationalmannschaft geworden, aber dafür etwas, was genauso wertvoll ist: Es ist der Sommer geworden, in dem die Menschen in Deutschland glauben und hoffen, dass es wieder der ganz große Sommer der Nationalmannschaft werden kann.“
So war das Land nun weiter auf „Glauben und Hoffen“ verwiesen.

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„Viel bewegt, weniger erreicht“ – Doch damit wollte sich dann doch nicht jeder zufriedengeben. „Viel bewegt, weniger erreicht.“ lautete die Überschrift über einem Kommentar zum Abschneiden der Nationalmannschaft, den der ehemalige Trainer des FC St. Pauli, Fabian Hürzeler, in der FAZ vom 8.7.2024 geschrieben hat. Bei Hürzeler gibt es also noch den Wert realer Resultate. Und prompt klingt das „viel bewegt“ ziemlich peinlich.

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Und das deutsche „Sommermärchen“ von 2006? – Bei so viel deutscher Beschwörung einer „Sommermärchens“ ist vielleicht eine kleine Anmerkung zur realen Wirksamkeit dieses Märchens angebracht. Man sollte ja meinen, in Deutschland sei nach dem Sommer 2006 eine riesige Aufbruchstimmung ausgebrochen. Es wären alle möglichen Hindernisse und opportunistische Kleinmütigkeiten beiseite gefegt worden. Weit gefehlt! Es begannen die Merkel-Jahre, in denen nichts Großes mehr bewegt werden konnte. Die Schuldenkrise in Europa? Durch faule Kompromisse verschleppt. Ein fernes Erdbeben in Japan, führt zum Atomausstieg in Deutschland. Migrantenströme zurückweisen? Auf keinen Fall, denn das gibt nur böse Bilder. Aber wenigstens eine Olympia-Bewerbung, wo doch die Fußball-WM 2006 ein so großer Erfolg war? Oh nein, nicht mal das. Wurde per Bürgerbefragung abgelehnt. Und man stelle sich vor, die Deutschen würden jetzt so viele Deutschland-Fahnen zeigen wie 2006. Nicht auszudenken! Das würde sofort als „Rechtsruck“ niedergeschrieben und man müsste darum fürchten, dass Autos mit Schwarz-Rot-Gold-Wimpeln plattgemacht würden…

Mit anderen Worten: „Sommermärchen“ sind ungeeignet, etwas am Ernst der Lage des Sports in Deutschland zu ändern. Und erst recht ungeeignet, den Ernst der Lage des Landes insgesamt zu ändern.


Hier drei ältere Essais des Autors zu Sport-Dingen:

2009-8 Kleine Philosophie des Sports
2012-8 Sportsgeist in London
2015-12 Olympia-Aus für Hamburg

Der Ernst der Lage

In diesem Herbst geht es nicht nur um parteipolitische Positionen, sondern um das ganze Feld der politischen Auseinandersetzung: Sollen die Stimmungen den Ausschlag geben oder die Realitäten?

Der Ernst der Lage

10. August 2024

In Deutschland gibt es gegenwärtig einen Unterschied, der in vielfältiger Form in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Auseinandersetzungen immer mitschwingt. Die einen sagen „Die Stimmung ist schlechter als die Lage“. Die anderen sagen „Die Lage ist schlechter als die Stimmung“. Diejenigen, die von ersterem ausgehen, neigen dazu, die Stimmung zu bearbeiten und sich um „bessere Stimmung“ bemühen. Das gilt besonders für diejenigen, die davon ausgehen, dass unsere Wirklichkeit sehr stark von Stimmungen regiert wird und mit Stimmungen auch bewältigt wird. Sie empfehlen der Nation jetzt „Zuversicht“ – in der Politik, in der Wirtschaft, aber auch im Sport, wie die bemühte Suche nach einem neuen „Sommermärchen“ bei der Fußball-EM gezeigt hat. Hingegen möchten diejenigen, die davon ausgehen, dass die Stimmung besser ist als die Lage, an der Lage etwas ändern. Sie gehen davon aus, dass Stimmungen zwar durchaus ihren Einfluss haben und auch immer sehr schnell zur Stelle sind, dass sich aber auf längere Sicht die Realitäten (die „harten Fakten“) durchsetzen. Aber es ist nicht so leicht, die Lage zu „bearbeiten“, denn diese Lage kann sehr festgefahren sein.
So ist in dem Unterschied zwischen Stimmung und Lage ein eigenartiger Wettstreit angelegt: Das Lager der Stimmungen wird profitieren, wenn die Mittel der schnellen Einflussnahme dominieren. Das Lager der Realisten wird gestärkt, wenn die Realität in Strukturen wirkt, die resistent gegen schnelle Einflussname sind und für Veränderungen erstmal Anpassungsleistungen erfordern. Dann kann es dazu kommen, dass bei Entscheidungen der „Ernst der Lage“ die Oberhand gewinnt – und das ist in Deutschland schon lange nicht mehr geschehen.

Eine „Erholung“, die sich immer weiter nach hinten verschiebt

Im März dieses Jahres sah ein Konjunktur-Kommentar von Patrick Welter (FAZ vom 23.3.2024) in der Verbesserung des Ifo-Geschäftsklima-Indexes noch einen „echten Hoffnungswert“. Die „deutliche Aufhellung“ des Indexes würde zeigen, dass „etwas in Bewegung gekommen ist“. Das damals verabschiedete „Wachstums-Chancen-Gesetz“ mit einem Entlastungsvolumen von 3,2 Milliarden Euro hielt Welter zwar für unzureichend, aber doch für einen „Schritt in die richtige Richtung“.
Einen Monat später stellte die FAZ (25.4.2024) die erste Seite ihres Wirtschaftsteils unter die Überschrift „Die Stimmung hellt sich auf“. Die Bundesregierung hob die Wachstumsprognose leicht an (0,3 Prozent statt 0,2 Prozent). 2025 sollte es dann ein Plus von 1 Prozent geben. Wer den Artikel genauer las, musste feststellen, dass bei der „Stimmung“ wieder die Zukunft über die Mühen der Gegenwart hinweghelfen musste. Der Ifo-Präsident Clemens Fuest wurde mit der Aussage zitiert, „dass die Verbesserung des Geschäftsklimas stark von den Erwartungen getrieben werden, nicht aber von der Einschätzung der gegenwärtigen Geschäftslage.“ Fuest wies auch auf eine „ausgeprägte Investitionsschwäche in der Industrie“ hin. Der Kommentar von Patrick Welter auf der gleichen Seite stand nun unter der Überschrift „Bruchstellen in der Zuversicht“. Dabei wurde auch eine außenwirtschaftliche Schwäche Deutschlands als Faktor genannt: Der Autor sah Anzeichen für eine „geoökonomische Spaltung der Welt“, die für die deutsche Wirtschaft zunehmende Schwierigkeiten und Verluste bedeuten könnte.
Und nun machen wir einen Sprung in den Juli 2024. Die FAZ vom 6.7.2024 resümierte die Lage mit einem ernüchternden „Die wirtschaftliche Erholung ist im Frühjahr ausgeblieben.“ Tags zuvor waren in der Zeitung gravierende Zahlen zu lesen: „Der Abwärtstrend im verarbeitenden Gewerbe hält seit 2022 unverändert an. Am Donnerstag kam die Nachricht, dass der Auftragseingang im Mai den fünften Monat in Folge gefallen ist…Insgesamt liegen die neuen Bestellungen 8,6 Prozent niedriger als vor einem Jahr.“ Und das grüne Wirtschaftswunder? Am 3. Juli war in der FAZ ein Artikel unter der Überschrift „Grün ist nur noch die Hoffnung“ erschienen. Angesichts immer neuer Meldungen von Entlassungen, Kurzarbeit und Firmenschließungen in den Bereichen, in denen durch grüne Produkte ein starkes Wachstum erwartet wurde, schrieb Julia Löhr: „Das grüne Jobwunder bleibt aus. Wird es hierzulande jemals kommen?“ In dem Artikel wird Joachim Rangnitz vom Ifo-Institut in Dresden mit der Aussage zitiert: „Offenbar gab es bei vielen Herstellern eine Fehleinschätzung zur Nachfrage“. Und weiter: „Selbst wenn die Nachfrage nach grünen Produkten wieder anzieht: Es ist nicht gesagt, dass diese dann aus deutscher Produktion kommen. Die Standortkosten sind zu hoch, die Produktivität der Betriebe ist zu gering.“
So verschiebt sich die Erholung der Wirtschaft immer weiter nach hinten. Das Warten wird immer mehr zur Hängepartie. Um da herauszukommen, muss das Land sich zu Entscheidungen durchringen. Dazu gehört ganz wesentlich: Es muss sich zu einem Urteil über den Ernst der Lage durchringen. Es geht dabei nicht um eine Beurteilung der Konjunkturlage, sondern es geht um Tiefenstrukturen, die darüber entscheiden, was Deutschland erwarten kann – nicht in einer fernen Zukunft, sondern in seiner Gegenwart.

Die Lage der Nation ernstnehmen

Schon vor gut einem Jahr erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Beitrag des Wirtschafts- und Sozialhistorikers Werner Plumpe mit dem Titel „Warten auf ein Wunder“ (FAZ vom 19.8.2023). Plumpe wendet sich gegen die Annahme, dass der Gang der Konjunktur über kurz oder lang die Dinge in Deutschland wieder zum Besseren wenden wird – weil dieser Konjunktur-Glaube davon ausgeht, dass hierzulande die Grundlagen gesund und stark sind: „Die Hoffnung, es werde schon gut gehen, das Land sei reich und seine Wirtschaft habe sich in der Vergangenheit doch durchaus resilient gezeigt, wie das Modewort heißt, ist nicht gut begründet.“ Plumpe fordert, der ökonomischen Realität „nüchtern ins Auge zu sehen“. Und dazu gehöre es, „die Auf- und Abschwünge nicht als isoliertes Phänomen zu betrachten… ihre Rhythmik sagt ja noch nicht sehr viel über die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung aus“. Das Schlüsselwort ist hier „Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung“. Diese Richtung ist nur in längeren, also geschichtlichen Zeitrhythmen zu erkennen. „Geschichte“ heißt hier nicht etwas Vergangenes, sondern etwas in der Gegenwart Fortbestehendes. Und diese geschichtlich angereicherten Phasen können unterschiedlich ausfallen. Jedes Land hat starke und schwache, expansive und restriktive Phasen.
„Die deutsche wirtschaftshistorische Erfahrung der letzten 150 Jahre ist insofern überaus lehrreich. Es gab mittelfristige Abschwungphasen, in denen die rhythmischen Schwankungen deutlich schmerzhafter ausfielen (1870er- bis 1890er Jahre, die Zwischenkriegszeit) als in den Jahren des Aufschwungs seit 1895 oder in der Zeit nach 1945. Seit dem Krieg bis in die 1990er-Jahre hinein gab es zudem eine bestimmende Tatsache, die im Alltagsbewusstsein heute kaum präsent ist: Während die Wirtschaft mal schneller, mal langsamer wuchs und seit den 1970er-Jahren gelegentlich auch stagnierte oder schrumpfte, nahm die Produktivität kontinuierlich und schneller als die wirtschaftliche Gesamtleistung zu…Dies Muster hat sich derart ins kollektive Denken eingebrannt, dass die öffentliche Meinung es fast schon für eine Art Naturgesetz hielt. Doch ist es das keineswegs.“

Die Produktivitätskrise

Im Folgenden weist Werner Plumpe auf eine fundamentale Veränderung der Lage in hin, die direkt oder indirekt die Wirtschaft, den Staat und auch die Kultur in Deutschland betreffen:
„Seit den 1990er Jahren hat sich die Lage zunächst schleichend, inzwischen dramatisch verändert. Seit jener Zeit gingen die jährlichen Produktivitätszuwächse deutlich auf ein Viertel der zuletzt erreichten Werte zurück, von etwa 2 Prozent jährlich auf 0,5 Prozent in der Zeit vor Corona.“
Die Ursachen eines solchen Langzeit-Trends sind vielfältig und reichen tief – bis hin zu technologisch „langsamen“ Phasen, in denen die Entwicklung nicht einfach beschleunigt werden kann, weil sie nicht vom Willen der Menschen abhängt. Hier stößt „gute Wirtschaftspolitik“ an Grenzen, „Wirtschaftswunder“ kann man nicht nach Belieben veranstalten. Deshalb ist die Beurteilung der konkreten Lage eine wichtige und anspruchsvolle Aufgabe. Es muss zu einem Urteil darüber kommen, was ein Land in einem bestimmten Zeitabschnitt seiner Entwicklung als gegeben hinnehmen muss, und was es durch eigenes Handeln verändern kann. Das freie Erfinden einer „ganz neuen Zukunft“ ist ausgeschlossen. Wenn man in diesem Sinn die Lage ernst nimmt, kann das Erreichbare in verschiedenen Situationen sehr unterschiedlich sein. Das Urteil muss ja nicht immer darauf hinauslaufen, dass die Lage „schwierig“ ist. Es gibt durchaus, wie der Artikel Plumpes zeigt, Phasen starker Produktivitätsentwicklung. Aber für die Gegenwart geht der Autor – aus guten Gründen – offenbar davon aus, dass Deutschland in einer Situation ist, in der es sich an eine Verengung seiner Möglichkeiten anpassen muss. Und dass dies auch für längere Zeit gelten wird.

Es geht nicht um ein fatalistisches Warten

Das bedeutet nicht, dass nun ein passiver Fatalismus regieren muss. Dass eine finstere Totengräber-Stimmung oder eine zynische Vorfreude auf einen „Zusammenbruch“ im Lande herrschen soll. Im Gegenteil ergibt sich aus der Krise des Produktivitätswachstums eine ganz andere logische Konsequenz: Eine Aufwertung aller noch erhaltenen produktiven Strukturen und eine neue Wertschätzung für jene Betriebe und Tätigkeiten mit niedriger Produktivität, die man im Zug der hochfliegenden Erwartungen aufgegeben oder ans Ausland abgegeben hat. Nichts darf mehr leichtfertig aufgegeben werden. Die sogenannten „einfachen“ Arbeiten und Betriebe in Industrie, Handwerk, Landwirtschaft und Dienstleistungen und Industrien müssen gehegt und gepflegt werden. Es gibt auch schon Manches, was aus gesundem Selbsterhaltungstrieb hier und da geschieht. Aber es geschieht nicht systematisch und ist auch nicht grundlegender Teil einer Agenda dieses Landes. Aber das muss es sein, wenn man feststellt, dass viele der Dinge, die vorher selbstverständlich verfügbar waren, nun fehlen. Die Logik ist einfach: Manche Dinge mögen „banal“ sein, aber sie sind immer noch viel besser als gar keine Dinge.

Die Ablehnung der „Großen Transformation“ erledigt noch nicht das Produktivitätsproblem

Noch ein Punkt ist wichtig: Die ausgerufene „Große Transformation“ ist eine verheerend falsche Antwort auf die Produktivitätskrise, weil sie Wirtschaft und Staat mit schweren Zusatzlasten belegt und funktionsfähige Betriebe und Infrastrukturen leichtfertig zum alten Eisen wirft. Insofern ist die Ablehnung der regierenden „Wendepolitik“ nach wie vor richtig und wichtig. Aber die Produktivitätskrise wäre auch da, wenn es dies große ökologisch-soziale Zukunfts-Theater gar nicht gäbe. Die wirklichen Krisen dieses Landes müssen als solche und ganz unabhängig von der Auseinandersetzung mit diesem Theater bewältigt werden. Keine parteipolitische Polemik gegen „grün“ oder „rot“ kann diese Aufgabe ersetzen.

Nur der Ernst der Lage kann die politische Landschaft verändern

Hier liegt die eigentliche Bewährungsprobe, um Deutschland durch die gegenwärtige Zeit zu führen. Hier ist der Platz, der in der politischen Landschaft insgesamt vakant ist und nicht von einer Partei allein besetzt werden kann. Hier muss sich die Mehrheit bilden, die die Klarheit und das Durchhaltevermögen hat, um Wirtschaft und Staat heil durch diese engen Zeiten zu führen. Es gibt ja einen verbreiteten Zweifel unter den Menschen, ob dies Land die Aufgaben der Gegenwart überhaupt bewältigen kann. Diese Zweifel beziehen sich nicht nur auf irgendwelche Personen an der Regierung, sondern auf viele gesellschaftliche Bereiche und Einrichtungen. Es sind letztlich Zweifel an der eigenen Kraft als Bürgerschaft. Und das Eingehen auf den wirklichen Ernst der Lage ist auch das beste Mittel gegen die Drohung, eine größere Kurskorrektur im Lande würde mit „mehr Extremismus“, „mehr Hass“ und „mehr Diktatur“ verbunden sein.
Es wird immer verschiedene Parteirichtungen geben. Und nur der Ernst der Lage kann so nachhaltig und breit wirken, dass er bei diesen verschiedenen Parteirichtungen jeweils eigene Positionsveränderungen anstößt und eine gute Umgruppierung im Gesamtbild der Parteienlandschaft bewirkt.

Wer die Gegenwart nicht bewältigt,wird keine Zukunft bekommen

Die Bilanzen von Wirtschaft und Staat in Deutschland sind verheerend. Aber man predigt eine „Zuversicht“, die völlig in der Luft hängt. So wird das ganze Land in einen hilflosen Wartestand versetzt.

Wer die Gegenwart nicht bewältigt, wird keine Zukunft bekommen

25. Juli 2024

Deutschland befindet sich in einem merkwürdigen Zwiespalt. Auf der einen Seite häufen sich die schlechten Nachrichten aus Kernbereichen der deutschen Industrie wie dem Automobilbau, der chemischen Industrie oder dem Maschinenbau. In vielen Bereichen sind die Kosten so hoch, dass nicht einmal mehr eine einfache Reproduktion der alternden Bestände gelingt, wie der Verfall des Streckennetzes der Bundesbahn oder die drastischen Rückgänge im Wohnungsbau zeigen. Elementare Berufstätigkeiten finden keinen Nachwuchs. Neben dieser Arbeitskrise gibt es inzwischen auch eine Kapitalkrise, weil die Wertschöpfung, aus der Investitionen finanziert werden müssten, nicht mehr gegeben ist. Mit anderen Worten: Deutschland bewältigt die ständigen Aufgaben, die für jedes moderne Land grundlegend sind, nicht mehr. Das Elementare gelingt nicht mehr. Die greifbaren Resultate und zählbaren Erträge bleiben aus. Die Gegenwartsaufgaben bleiben liegen.
Doch auf der anderen Seite gibt es eine Zukunftserzählung, die das Land in einen extremen Erwartungszustand versetzt hat. Ihm soll nicht nur die größtmögliche Katastrophe drohen, sondern zugleich die größtmögliche Erlösung winken. Auf der einen Seite gibt es eine bevorstehende Überhitzung des Planeten, eine weltweite Massenflucht-Bewegung und dazu Russland als neuer Weltkriegs-Treiber. Auf der anderen Seite stehen globale Heilsversprechungen: Eine Zukunft soll machbar sein, in der es eine „ganz neue“ wunderbare Welt aus erneuerbaren „natürlichen“ Energien, abgestellten Fluchtursachen und einem entmachteten Russland geben. Aus diesem Gesamtdrama aus finsterster Drohung und hellster Erlösung kann man sich nur schwer befreien. Es verwickelt das Land nicht nur in opferreiche Kämpfe und Kriege, sondern – schwerwiegender noch – es verhindert, dass das Land sich seinen naheliegenden Aufgaben und drängenden Problemen zuwendet. Obwohl die wunderbare Welt eines grünen Wirtschaftswunders in immer weitere Ferne rückt, wird die Klimarettung als „unser Klimaziel“ immer noch beschworen. Und die konkreten Stilllegungs-Beschlüsse wie das Verbot des Verbrennungsmotors ab 2035 werden nicht aufgehoben, obwohl kein gleichwertiger Ersatz vorhandeln ist. So wird die Gegenwart einer „ganz neuen“ Zukunft geopfert.
In Deutschland gelingt es angesichts einer unübersehbaren Krise nicht, dem Naheliegenden die erste Priorität zu verschaffen: dem Abwehrkampf gegen den Niedergang von Wirtschaft und Staat. Dieser Abwehrkampf kann nur geführt werden, wenn sich das Land von der Last und Verführung durch eine extrem dramatisierte Zukunft befreit, zumindest mehr Distanz zu dieser „großen Erzählung“ gewinnt. Denn diese Erzählung versetzt die Menschen in einen lähmenden Wartezustand. Sie werden zu einer bloßen Erwartungshaltung verurteilt. Sie sollen sich, wie man jetzt des Öfteren zu hören bekommt, in „Zuversicht“ üben. Um dem zu entgegen, muss dies Land viel stärker seiner Gegenwart ins Auge blicken. Dazu müssen die vorliegenden Bilanzen endlich ernst genommen werden, und nicht als bloße „Konjunkturdelle“ abgetan werden. Und es muss den elementaren, ständigen Aufgaben eines modernen Landes ins Auge blicken. Es ist ja nicht zu übersehen, dass dies Land häufig an den sogenannten „einfachen“ Dingen scheitert – weil es die täglichen Mühen scheut, die sie erfordern. Wenn Deutschland also eine Ordnungsidee braucht, die dem Niedergang entgegenwirkt, dann wäre es eine Ordnung, die der praktischen Auseinandersetzung mit der gegebenen realen Welt Priorität einräumt. Und die den Leistungen, die hier erbracht werden müssen, nachhaltigen Wert verleiht. Die also der Neigung entgegenwirkt, die Gegenwart eines Landes einer spekulativen Zukunft zu opfern.

Eine „vollkommen neue“ Zukunft?

Es ist ein guter parlamentarischer Brauch, dass eine Haushaltsdebatte mit einer Auseinandersetzung „Zur Lage der Nation“ verknüpft wird. Das bietet Regierung und Opposition die Gelegenheit, ihre Einschätzung zur Lage vorzutragen und vor diesem Hintergrund, den Umfang und die Prioritäten der Staatsausgaben zu begründen. Hier wird Zukunft also aus Gegenwart entwickelt. Doch ein Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5.7.2024 über die Bundestagsdebatte zum Bundes-Haushalt für das Jahr 2025 (Überschrift „Scholz irritiert als Chefoptimist“) deutet auf etwas Anderes hin. Dort heißt es:
„In der Bundestagsdebatte am Mittwoch platzierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) seine neueste Wortkreation. Nach der Bazooka´ gegen Corona und dem „Doppel-Wumms´ gegen die hohen Energiepreise soll nun derWachstumsturbo´ kommen. Nicht weniger als `eine unglaubliche Belebung´ stellte Scholz in Aussicht.“ Und an anderer Stelle heißt es:
„Schon im vergangenen Jahr hatte Scholz für Erstaunen gesorgt, als er Deutschland wegen der Investitionen in den Klimaschutz ein Wirtschaftswachstum wie in den Nachkriegsjahren prophezeite.“
Der Kern dieses „Optimismus“ besteht darin, dass er sich gar nicht erst bei der deutschen Gegenwart aufhält, sondern den Blick gleich auf die Zukunft lenkt – auf eine Zukunft, die in gar keinem nachvollziehbaren Verhältnis zur Gegenwart steht. Der Gedanke, dass die Zukunft nur aus den heutigen Erträgen einer leistungsfähigen Wirtschaft zusammen mit effizienten Infrastrukturen entwickelt werden kann, ist der Regierung offenbar völlig fremd. Dass die Hindernisse, die diesen Erträgen jetzt entgegenstehen, auch jetzt beseitigt werden müssen, steht nicht im Mittelpunkt der Debatte. Stattdessen befasst man sich mit den Möglichkeiten zusätzlicher Schulden. Sie dienen als Ersatzlösung, um eine wirkliche Bewältigung der Gegenwartsprobleme zu vermeiden.

Das Verführerische der „Großen Transformation“

Wenn man freilich in der Auseinandersetzung um die Gegenwart und Zukunft des Landes nur „mehr Schulden!“ rufen würde, würde das niemand überzeugen. An dieser Stelle tritt nun die große Erzählung von einem Umbau der Welt, wie ihn die Geschichte nicht gesehen hat, in ihre Funktion. „Die große Transformation“ ist der Titel der Erzählung, wobei „Transformation“ ein schillerndes Wort ist: Es klingt ein bisschen nach Reform und ein bisschen nach Revolution. Eine magische Verwandlung klingt hier an. Aber wenn uns jemand von der Verwandlung von Wasser in Wein erzählt und das als „Innovation“ anpreist, sind wir doch ein bisschen skeptisch. Hier spielt nun der Zusatz „große“ eine wichtige Rolle: Im Großen sind wir eher zum Glauben geneigt als im Kleinen. Das macht das Verführerische an der versprochenen „Großen Transformation“ aus.

Metaphysik (I)

So wie „das Globale“ eine ganz eigene (räumliche) Metaebene ist, auf der die Ressourcen und Knappheiten eines gegebenen Landes nicht mehr zählen, ist „die Zukunft“ eine ganz eigene (zeitliche) Metaebene: Die Ressourcen und Knappheiten einer gegebenen Gegenwart zählen hier nicht mehr. Es ist, als wäre „die Zukunft“ ein eigener Planet, der ganz unabhängig von den Mühen der Gegenwart angesteuert werden könnte.

Metaphysik (II)

Eigentlich ist die „große Transformation“, über die heutzutage mit so großer Selbstverständlichkeit geredet wird, ein völlig absurdes Ansinnen. Die größtmögliche Bedrohung wird – wie mit einem riesigen planetarischen Zauberstab – in das größtmögliche Glück gewendet.

Urselchens Mondfahrt

Es gibt Versuche, der Zauberei einen Anstrich von historischer Plausibilität zu verleihen. Schon im Jahr 2019 hatte Ursula von der Leyen in Hinblick auf das „Green Deal“-Programm von „Europas Mann-auf-dem-Mond-Moment“ gesprochen. Es sollte ein „großer Moment“ entstehen, der mit dem Mond-Landungsprogramm der Amerikaner zu vergleichen wäre. Das ist ein Gedanke von verführerischer Leichtigkeit: Die „große Transformation“ soll nicht mehr sein als eine große Reise. Allerdings waren die Amerikaner in den 1960er Jahren nicht solche Narren, dass sie glaubten, mit einem Raumfahrt-Programm eine komplett neue industrielle Basis gewinnen zu können.

Die „Große Transformation“ als „Deal“?

Der „European Green Deal“ ist ein Maßnahmen-Paket, das von der EU-Kommission beschlossen und europaweit abgesegnet wurde. Der Titel des Pakets ist suggestiv: In Anlehnung an die Politik des „New Deal“ unter dem US-Präsidenten Roosevelt in den 1930er Jahren wird der Anspruch erhoben, einen großen Schub für das Wirtschaftswachstum auszulösen. Allerdings stand damals ein realer Produktivitäts-Zuwachs in der Industrie zur Verfügung, die eine Anschubfinanzierung wie beim „New Deal“ auf fruchtbaren Boden fallen ließ. Das galt auch für die Automobilindustrie auf Basis des Verbrennungsmotors. Diese realwirtschaftlichen Fortschritte führten zu einer Vergrößerung der Märkte. Automobile wurden auch für breite Gesellschaftsschichten erschwinglich. Doch nun, im „Green Deal“, ist eine solche realwirtschaftliche Grundlage nicht in Sicht. Im Gegenteil: Er bringt ökologische Auflagen, die viele Produkte erheblich verteuern und effiziente Technologien verbieten. Dazu gehört das Verbot der Verbrenner-Technologie in Automobilen ab 2035 – also das Verbot einer der Technologien, die dem alten „New Deal“ zum Erfolg verhalfen. Das Verbot wurde verhängt, ohne dass ein gleichwertiger, erschwinglicher Ersatz zur Verfügung stand. Man geht offenbar davon aus, dass „die Zukunft“ schon irgendwie liefern wird.

Ein ganzes Land im erzwungenen Wartestand

Angesichts des verheerenden Markteinbruchs bei Elektro-Automobilen und großer Ertragsprobleme in vielen Branchen, die von ökologisch motivierten „Wenden“ betroffen sind, könnte man erwarten, dass nun die verkündeten Ziele zurückgenommen werden. Aber das geschieht nicht: Es gibt keine große Korrekturbewegung im Land. Nicht einmal ein Innehalten, um nachzudenken. Mit seltsamer Eile wird immer wieder gleich vorneweg versichert, dass man treu zu „unseren Klimazielen“ stehe. Das gehört sozusagen zum guten Ton im Lande. Viele Unternehmen beklagen die gestiegenen Kosten und mangelnden Erträge, aber man scheut sich, die in der Politik getroffenen Richtungs-Entscheidungen und die eigenen Investitionsentscheidungen ausdrücklich als falsch zu bezeichnen. Im öffentlichen Leben beeindrucken zunächst die großen Weltdramen von Bedrohung und Rettung, und ein Rückzug aus solch großen Kulissen – auch wenn er noch so wohlbegründet wäre – hat es zunächst schwer, sich durchzusetzen. Er ist mit dem Makel der Kleinlichkeit und Feigheit behaftet. So ist ein nicht unbeträchtlicher Teil der Menschen bereit, an alle möglichen Wunderstoffe und Pilotprojekte zu glauben, die das große Weltretten doch noch zu einem guten Ende führen sollen. Das gilt besonders dann, wenn in der Öffentlichkeit die täglichen Leistungen der Realwirtschaft keine Aufmerksamkeit und keine Anerkennung mehr finden. Aber in einer Öffentlichkeit, in der die großen Weltdramen regieren, sind die Menschen mehr denn je zu bloßen Zuschauern degradiert.
Im Deutschland der Gegenwart stecken viele Menschen auf die eine oder andere Weise in einem Wartezustand. Dieser Zustand ist ein hilfloser Zustand: Man ist gezwungen auf etwas zu warten, das man gar nicht beeinflussen kann. Die Beschwörung einer „ganz neuen Zukunft“ hat das ganze Land in einen erzwungenen Wartezustand versetzt. Ein Ende ist nicht in Sicht.

Gute Aussichten – aber nicht für eine schnelle Wende 

Die Arbeitskrise zeigt, in welcher Richtung eine Überwindung der deutschen Krise insgesamt zu suchen ist. Zugleich werden hier schon die Kräfte und Hebel sichtbar, die eine Rehabilitierung des Landes tragen können. (Wie Deutschland ein anderes Land wurde, Teil IV)

Gute Aussichten – aber nicht für eine schnelle Wende 

April 2024

Die Arbeitskrise in Deutschland wird hier nicht angeführt, um sie als Übel zu beklagen und sie den Regierenden zum Vorwurf zu machen. Die Arbeitskrise ist eine Anklage gegen die im Lande herrschenden Verhältnisse. Genauer: Sie ist die richtige Antwort auf einen längeren Prozess der Entwertung von Arbeit und Leistung. Die Arbeitskrise besteht ja nicht darin, dass Arbeitsplätze fehlen, sondern dass Arbeitskräfte fehlen. Dies Fehlen ist nicht Folge einer generellen Arbeitsunlust, sondern Antwort auf eine Entwertung der Arbeit – und zwar insbesondere der sogenannten „einfachen“ Arbeit (Facharbeiter und angelernte Arbeiter in den verschiedensten Branchen und Sektoren). Einer Arbeit, die bei näherem Hinsehen gar nicht so „einfach“ ist, sondern die sich aktiv mit den Widrigkeiten und Knappheiten der materiellen Welt auseinandersetzen muss. Diese Arbeit wird heute in Deutschland – im Verhältnis zu den „gehobenen“ Tätigkeiten – geringgeschätzt. Sie wird als Beschäftigung für „Verlierer“ angesehen. Auf diese Geringschätzung wird nun seit einigen Jahren ganz praktisch geantwortet – mit einem massiven Rückzug aus dieser Beschäftigung. Und sofort stellt sich ein sehr positiver Effekt ein: Auf einmal macht sich ganz handfest bemerkbar, welch elementare Bedeutung die „einfachen“ Tätigkeiten haben. Wie unersetzlich sie sind, um das Land am Laufen halten. Wunderbar, wie die so selbstgewisse „Bildungsrepublik“ und „Zivilgesellschaft“ hier auf dem falschen Fuß erwischt wird! Gerade noch war man sich einig, dass eine Lehre in Industrie, Handwerk und Dienstleistungen eigentlich etwas für Verlierer sei. Jetzt fragt man auf einmal sorgenvoll „Wo bleiben sie nur?“ Plötzlich weht der raue Wind der Realität durch die Republik. Denn es fehlt an wichtigen Gütern und Dienstleistungen. Sie fehlen nicht in irgendwelchen Zukunftsprognosen, sondern im Hier und Jetzt. Eiligst wird versichert, dass man nun schnell Abhilfe schaffen werde. Mit viel „Wir schaffen das!“ und ein bisschen mehr Geld. Aber das wird in dieser Krise nicht funktionieren. Die neue Knappheit ist viel härter und dauerhafter als die Beschwörungskünste der Regierenden. Man kann die Arbeitskrise nicht lösen, ohne die gesellschaftliche Schieflage zu beheben, auf die sie reagiert. Diese Krise berührt den Kern des tiefgreifenden Wandels, der Deutschland zu einem anderen Land gemacht hat. Deshalb muss man für diese Krise dankbar sein. Denn aus ihr kann man ersehen, in welcher Richtung eine Rehabilitierung des Landes erfolgen muss. Und es zeichnen sich hier auch schon die Kräfte und Hebel ab, die diese Rehabilitierung tragen können – und sie gegen Widerstände durchsetzen können. 

Eine naheliegende Lösung, die tabu ist 

Nur eine Rehabilitierung des Gesellschaftsvertrages wird die Arbeitskrise in Deutschland überwinden können. Diese Rehabilitierung kann nicht zu den Bedingungen der gehobenen Mittelklasse gelingen – ein „gehobener Gesellschaftsvertrag“ würde sich noch weiter von den realen Möglichkeiten dieses Landes entfernen. Es muss also um einen Rückbau gehen. Es muss eine erhebliche Reduzierung jenes gehobenen gesellschaftlichen Sektors stattfinden – sowohl in der Größe als auch im Einkommensniveau. Man muss also kein ganz neues Deutschland erfinden, sondern eine – durchaus einschneidende – Anpassung an die Realitäten durchsetzen. Doch von dieser Lösung ist das Land noch weit entfernt. Das zeigen die Vorschläge, die jetzt zur Lösung der Arbeitskrise die Runde machen. Ganz oben steht der Vorschlag, noch mehr Migranten ins Land zu holen. Das bedeutet, dass die Probleme nicht im Land mit den Mitteln dieses Landes gelöst werden, sondern an importierte Mittel. Und diese Logik des Auslagerns steht auch beim zweiten Vorschlag Pate: Die älteren Arbeitnehmer sollen länger arbeiten. „Das größte Potential des deutschen Arbeitsmarktes liegt über 60“ schreibt ein namhafter Vertreter des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in einem Beitrag für die FAZ (19.8.2023). Wenn man an diese Arbeitsgeneration appelliert, will man auf eine „alte“ Arbeitsmoral zurückgreifen, die man für jüngere Arbeitsgenerationen schon aufgegeben hat. Das ist eine Auslagerung aus der Jetztzeit und im Grunde ein Offenbarungseid. 

Man sieht, wie hier um jeden Preis ein Bogen um die Lösung gemacht wird, die doch eigentlich naheliegt und die größte Wirkung hätte: Man muss den Irrsinn beenden, dass mehr als die Hälfte der deutschen Gesellschaft auf eine gehobene Laufbahn orientiert wird. Das ist das große Tabu im Lande – die heilige Kuh, die nicht angetastet werden darf. Diese Lösung soll nicht mal als mögliche Alternative erörtert werden. Natürlich wird das Problem im privaten Kreis und in Nebensätzen tausendfach angesprochen. Aber wenn zum Beispiel in einem Immobilien-Report der dramatische Fachkräftemangel im Bausektor beklagt wird, und es dort ausdrücklich heißt, ein Grund dafür sei „die zunehmende Akademisierung, die Handwerksbetriebe finden nicht genug Nachwuchs“ (zitiert in der FAZ vom 8.10.2021), dann führt das keineswegs zu näheren Untersuchungen und klaren Forderungen zum Akademisierungs-Problem. Die Aussage wird behandelt, als wäre sie gar nicht gemacht worden.     

Aber diese Krise lässt sich nicht verdrängen 

Noch also glaubt man, sich dies Tabu leisten zu können. Doch in diesem Punkt täuscht man sich. Und das ist die eigentliche Pointe der Arbeitskrise: Sie wird einfach nicht mehr aufhören. Der Rückzug aus der Arbeit wird weitergehen und immer weiter um sich greifen. So wird sichtbar, was es wirklich bedeutet, wenn die in einem Land die elementare Arbeit entwertet wird: Die tätige Auseinandersetzung mit den Knappheiten und Widrigkeiten dieser Welt wird entwertet. 

Man nehme einmal die Schlangen von Wohnungssuchenden, die sich gegenwärtig in Großstädten bilden, wenn irgendwo ein Besichtigungstermin für eine freie Wohnung angesetzt ist. Solche Warteschlangen muss man sich für viele Dinge vorstellen, die bald knapp werden: Plätze in Pflegeheimen, Notaufnahmen der Krankenhäuser, bei Behörden für die Verlängerung von Ausweisen, Hochzeitstermine, Anmeldung von Autos, überfüllte Wartezimmer beim Arzt, überfüllte Bahnsteige. Warteschlangen beim Bäcker, beim Restaurant, beim Postamt, an der Kasse beim Supermarkt, nicht zu vergessen die Warteschlangen bei irgendeiner Auskunfts- oder Beratungs-Hotline. Und überall wird es immer häufiger heißen: „Gibt´s nicht“, „“Keine Termine frei“, „Kommen Sie in einem halben Jahr wieder“. 

So wird sich immer deutlicher zeigen, dass die Tätigkeiten, die man jetzt mit Geringschätzung behandelt, nicht in irgendeinem Nebengebäude dieses Landes wohnen, sondern zum Haupthaus gehören. Ohne sie gibt es keine lebendigen Städte und keine aktiven ländlichen Räume. Ohne sie finden Dienstleistungen, Wissenschaften und Künste weder Stoff noch Inspiration. Ja, diesem Land stehen bedrückende Jahre bevor. Gewiss hätten sich diejenigen, die sich jetzt ihren Arbeits-Einsatz herunterfahren, eine Lösung ohne diese bedrückenden Jahre gewünscht. Aber die gesellschaftliche Schieflage hat sich zu sehr verfestigt, um einfach durch gute Argumente korrigiert werden zu können. Es wird ja alles dafür getan, dass Krisen wie die Arbeitskrise gar nicht ruhig erörtert werden können. Diese Krisen werden gewissermaßen „überschrien“ – indem man extreme Katastrophen- und Feind-Kampagnen inszeniert. Diese Kampagnen sind im Grunde Alibi-Veranstaltungen, um nicht die näherliegenden, mühevolleren Aufgaben im Land anpacken zu müssen. Demgegenüber ist der Rückzug aus der Arbeit eine sehr passende und wirkungsvolle Antwort. Er macht ganz handfest spürbar, dass die Entwertung der elementaren Arbeit drastische und weitreichende Folgen hat. Und dieser Rückzug aus der Arbeit wirkt auch befreiend: Man spürt die eigene Kraft und ist nicht mehr der brave Depp im täglichen Besserwisser-Theater. 

Die historische Dimension dieser Auseinandersetzung 

Wenn die Bedeutung der einfachen, elementaren Arbeit, die sich direkt mit den Knappheiten und Widrigkeiten dieser Welt auseinandersetzt, verteidigt wird, berührt das einen Sachverhalt von historischer Bedeutung. Die moderne Zivilisation unterscheidet sich von anderen Zivilisationen in einem Punkt: Sie räumt den praktischen Tätigkeiten und dem Erwerbsleben eine viel größere Aufmerksamkeit und Rolle ein als andere Zivilisationen, die solche Tätigkeiten als zweitrangig und sogar als unwürdig ansahen. Dies führte zu einem anderen Bau der Institutionen für Staat und Wirtschaft, auch zu anderen Orientierungen von Wissenschaften und Künsten. Das wird von Historikern als ein wesentlicher Grund dafür angesehen, dass der Anbruch der Ära der Moderne in Europa (und nicht etwa im durchaus hochentwickelten China) stattfand. Die in diesem Text so stark betonte Unterscheidung zwischen „einfacher“ Arbeit und einem „abgehobenen“ Sektor knüpft an dies Grundverständnis der modernen Welt an, und sieht die Entwicklungskrise Deutschlands (und anderer Länder des Westens) in letzter Instanz als eine Auseinandersetzung um Abbruch oder Fortsetzung der Moderne. Darauf wird bei anderer Gelegenheit zurückzukommen sein. 

Neben der Entwertung der Arbeit gibt es auch eine Entwertung des Kapitals 

Die Betonung der „Arbeit“ in diesem Text könnte zu dem Schluss verleiten, die Krise unseres Landes beträfe nur die Arbeit. Daraus könnte eventuell sogar der Schluss gezogen werden, es müsse ein Klassenkampf „Lohnarbeit gegen Kapital“ geführt werden. Das wäre ein törichter Kurzschluss, denn wir haben ganz offensichtlich auch eine fundamentale Kapitalkrise. Wir erleben, wie die Produktivität der Unternehmen schwer beschädigt wird, indem grundlegende Technologien belastet oder verboten werden (exemplarisch in der Automobilindustrie) und wie der Fortbestand von Unternehmen nicht mehr von der eigenen Wertschöpfung abhängt, sondern von schuldenfinanzierten Subventionstöpfen. Mit anderen Worten: Die Kapitalbildung ist ihrem Kern entwertet. Die treibende Kraft ist dabei wiederum jener Sektor der gehobenen Mittelklasse, der mit seinen ökologischen, sozialen und organisatorischen „höheren Zielen“ alle Gesetze der Unternehmensproduktivität beiseite wischen kann. Dieser Sektor gefällt sich ja auch in einem naiven Anti-Kapitalismus. Die „Kapitalisten“ aber sind hier nicht mehr Treiber, sondern Getriebene. Es wäre also eine ganz törichte Spaltung, wenn man die einfache Arbeit verteidigen wollte, indem man sie gegen das Kapital in Stellung bringt. Hier hilft es, sich an die erste Phase der Bundesrepublik zu erinnern, als Facharbeit und angelernte Arbeit hoch in Kurs stand und zugleich die Kapitalseite eine starke Rolle hatte. Beide Seiten einte ein gegenseitiger Respekt und diese Sozialpartnerschaft war für beiden Seiten fruchtbar. 

Ein Deppenspiel: Staat gegen Wirtschaft, Wirtschaft gegen Staat

Und es gibt noch eine zweite törichte Spaltung. Wir erleben inzwischen ein tägliches Deppenspiel, bei dem einmal ein guter Staat gegen eine böse Wirtschaft gesetzt wird, und im nächsten Moment eine tüchtige Wirtschaft gegen einen versagenden Staat. Dabei ist es doch eigentlich naheliegender, dass Wirtschaft und Staat sehr verschiedene Dinge mit je eigenen Vorzügen und Schwächen sind. Und heute ist auf beiden Seiten bei den jeweiligen Kernaufgaben eine Schwächung festzustellen ist, und ein Wuchern von Schein-Aktivitäten. Die Geringschätzung der Arbeiten, die sich mit den Widrigkeiten dieser Welt auseinandersetzen müssen, ist ja nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch beim Staat zu beobachten. Man denke nur an die Polizisten und Soldaten, an Feuerwehrleute und Rettungskräfte, auch an Eisenbahner, Müllentsorger, Post- und Paketzusteller; und an die Arbeit in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Schulen, die man vielerorts schon in unhaltbare Zustände getrieben hat. Und auf beiden Seiten werden auch die rosigsten Zukunftsprojekte unter den gemütlichsten Umständen gepflegt. Bei diesen Vorgängen fällt es schwer, irgendeine oberste lenkende Hand zu finden, irgendeine verschworene „Elite“, die das alles nach einem großen Plan lenkt. Es ist ein zerstörerisches Treiben-Lassen und Wuchern-Lassen in allen Dingen, und dies ist vielleicht noch gefährlicher als ein finsterer Plan. 

Auf der Suche nach Verhältnismäßigkeit 

Das strukturelle Grundproblem des heutigen Deutschlands ist die Ersetzung des Gesellschaftsvertrages durch die Alleinherrschaft eines einzigen sozialen Sektors. Eines lässt sich schon jetzt vorhersagen: Solange die Alleinherrschaft einer besserwissenden, bessermoralischen und besserverdienenden Mittelklasse besteht, wird das Land nicht wieder richtig in Gang kommen. Zu den Bedingungen dieses gehobenen Sektors ist ein realitätstüchtiges Deutschland nicht zu haben. Es wird von Engpass zu Engpass stolpern. Aber ebenso gilt: Eine andere Alleinherrschaft ist auch keine Lösung. Ein modernes Land kann nicht von einem einzigen gesellschaftlichen Sektor geführt werden, der für sich beansprucht, die ganze Zukunft zu repräsentieren. Ein realitätstüchtiges Land muss auf mehreren unabhängigen Trägern gebaut sein. Lösungen müssen daher immer „verhältnismäßig“ sein. Nur so ist ein richtiges Maß zu finden. Das gilt auch für die Arbeitskrise. Die krasse Schieflage zwischen den verschiedenen Arbeitswelten verlangt nach einer neuen, angemessenen Verhältnismäßigkeit – bei Größe, Einfluss und Einkommen. 

Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit 

In Deutschland geht es insgesamt um eine Rehabilitierung – um die Rehabilitierung eines produktiven, wehrhaften und auch bescheidenen Deutschlands. Dafür ist der Begriff der „Wende“ untauglich. Er suggeriert einen abrupten Vorgang. Auch der Begriff der „geistig-moralischen“ Wende ist irreführend. Er suggeriert ein Nacheinander von einer Wende im Kopf und einer dann folgenden „Umsetzung“ in materielles Tun. Aber Zivilisationsveränderungen – und darum geht es hier – brauchen ihre Zeit. Sie sind tiefer gelagert. Sie leben von Erfahrungen. Es müssen Distanzen zur überwältigenden Macht der heutigen Wort- und Bilderfluten aufgebaut werden. Verschüttete und verachtete Dinge müssen wieder freigelegt werden; Verstreutes kann sich nur allmählich zusammenfügen. Deutschland braucht eine Zeit der Rehabilitierung, und eine solche „allmähliche“ Zeit fühlt sich ganz anders an als eine Gründerzeit mit ihren „Aufbrüchen“. Es wird weniger um große Auftritte und Sprünge gehen, sondern um ein Wiederanknüpfen und Weiterbauen auf bestehenden Entwicklungslinien. Aber angesichts der heutigen Dominanz von allen möglichen „Ausstiegen“ wäre das „Weiterbauen“ schon eine große Aufgabe. 

In diesem Text wurde die Entwicklung Deutschlands in Phasen von jeweils 30 Jahren geteilt. Das ist natürlich völlig schematisch. Die wirkliche Entwicklung wird sicher aus krummerem Holze sein. Und doch kann dieser 30-Jahr-Rhythmus eine Orientierung sein. Er kann allzu schnelle Erwartungen im Bösen wie im Guten mäßigen, aber er verliert sich auch nicht in einem allzu vagen Jahrhundert-Glauben. 30-Jahre dauern länger als eine Legislaturperiode, länger als ein Konjunkturzyklus. Sie sind aber weniger lang als große Trends bei der Bevölkerungsentwicklung, bei der Strukturentwicklung in Stadt und Land, bei den territorialen Grenzen und den Verfassungen von Nationalstaaten und natürlich auch bei Geologie, Klima, Flora und Fauna. Hingegen kann man im 30-Jahre-Rhythmus sehr wohl fundierte Bilanzen der Entwicklung eines Staatswesens und einer Volkswirtschaft ziehen. 

  • Die erste Phase der Bundesrepublik wurde von Ende der 1940er Jahre bis zum Ende der 1970er Jahre angesetzt. Es ist in Hinsicht auf Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit eine erfolgreiche Phase.  
  • Die zweite Phase (Ende der 1970er Jahre bis Ende der 2000er Jahre) wurde als Herauslösung eines parallelen „gehobenen“ Sektors neben noch fortbestehen Errungenschaften der ersten Phase beschrieben.
  • In der dritten Phase, die in diesem Schema vom Ende der 2000er Jahre bis Ende der 2030er Jahre angesetzt werden müsste, kommt dieser Sektor zur Alleinherrschaft und wird gegenüber Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit rein destruktiv. Wir befinden uns also erst in Mitte dieser Phase, und die Alleinherrschaft ist Grunde noch ungebrochen und selbstgewiss.      
  • Die vierte Phase würde dann erst Ende der 2030er Jahre anbrechen und bis zum Ende der 2060er Jahre dauern. Aber dann wäre es auch möglich, eine zusammenhängende Rehabilitierung von Produktivität, Wehrhaftigkeit und Bescheidenheit ins Werk zu setzen. Und zwar nicht nur als Wertesystem, sondern auch als materiellen „Wiederaufbau“ Deutschlands. Ja, dieser Begriff ist angemessen, weil diese vierte Phase in mancher Hinsicht an den Wiederaufbau in der ersten Phase der Bundesrepublik anknüpfen würde.  

Bei diesem Ausblick bis weit in zukünftige Jahrzehnte muss vieles offen bleiben. Und sicher kann man mit guten Gründen eine andere Ordnung des Wandels skizzieren. Wichtig ist die Einsicht, dass es diesmal mit einer politischen Reform-Agenda nicht getan sein wird. Es geht um eine Zivilisationsaufgabe.  

Übersicht und Beharrlichkeit

Es ist eine ziemlich lange Durststrecke, die hier ins Auge gefasst wird. Aber das ist etwas ganz anderes als eine Dekadenz-These. Das Raunen von einem Untergang des Landes ist eine unfruchtbare Übung. Aber der Begriff „Wiederaufbau“ ist durchaus angebracht, wenn man an die materiellen und moralischen Trümmer denkt, die jetzt schon sichtbar sind. Warum sollte es nicht gelingen, dies Land aus diesen Trümmern herauszuarbeiten? Dennoch sollte man nicht gleich auf eine „Wirtschaftswunder“ hoffen. Alles, was gegenwärtig an technologischen Sprüngen in Aussicht gestellt wird, ist nicht seriös. Insofern gehört der Baustein „Bescheidenheit“ wirklich zum Fundament einer Rehabilitierung Deutschlands in der hier skizzierten vierten Phase. 

Zur davor liegenden dritten Phase, in deren Mitte wir uns jetzt befinden, ist anzumerken, dass die Alleinherrschaft ihren Zenit schon erreicht haben könnte. Die Bemühungen, diese Herrschaft aufrechtzuhalten, werden schon deutlich krampfhafter. Vor allem wird diese Herrschaft in den kommenden Jahren von ihren Bilanzpflichten eingeholt werden: bei den Wirtschaftszahlen, bei den Staatsschulden, bei den Infrastrukturen von Verkehr und Energie, bei den Ergebnissen der schulischen Bildung, bei der Wirksamkeit ihrer „Klimarettung“. Da wird es spätestens im Laufe der 2030er Jahre zu manchem Offenbarungseid kommen. Auch kann man davon ausgehen, dass der Hype um die Digitalisierung und täglich neue weltstürzende „Innovationen“ sich allmählich totläuft. Ebenso kann man erwarten, dass die Werteordnung der gehobenen Mittelklasse und das Motiv des „sozialen Aufstiegs“ verblasst – und damit der Platz frei wird für eine neue Wertschätzung elementarerer Tätigkeiten und Fähigkeiten. 

Daraus aber folgt, dass man schon jetzt die Dinge, Fähigkeiten und Beziehungen hüten und pflegen sollte, die diesseits der Welt der Besserwisser und Besserverdiener liegen. Und noch etwas wird in dieser dritten Phase sehr wichtig sein: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die bröckelnde Alleinherrschaft das Land noch in einen großen Krieg schlittern lässt. Um das zu verhindern, sollte jede mäßigende Stimme willkommen sein.

Das Kräfteverhältnis ändert sich: Die Arbeitskrise

Die Beherrschung der Republik durch willkürlich herbeigeführte „Notstände“ scheint auf den ersten Blick übermächtig. Aber es gibt andere Krisen, die eine fundamentale Schwäche dieser Herrschaft offenbaren. (Wie Deutschland ein anderes Land wurde, Teil III)

Das Kräfteverhältnis ändert sich: Die Arbeitskrise

April 2024

In der bisherigen Darstellung wurde gezeigt, wie Deutschland mehr und mehr in den Bann eines hochdramatischen Krisenszenarios geraten ist. Und wie dies Szenario immer mehr auf eine negative, zerstörerische Lösung hinauslief: auf die Opferung fundamentaler Aufbauleistungen der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte. Dieser Wandel scheint übermächtig und ausweglos zu sein – nicht zuletzt deswegen, weil der größere Teil der Gesellschaft in diesem Drama nichts zu sagen hat, sondern nur die Opfer zu ertragen hat. Während ein anderer, durchaus beträchtlicher Sektor der Gesellschaft in diesem extremen Krisenszenario an Umfang, Macht und Einkommen gewinnt. Diese Konstellation kann zu einem Gefühl der Ohnmacht führen. Sie kann auch dazu verführen, alle Hoffnung auf einen Art Gesellschafts-Duell mit den Krisengewinnern zu setzen. Doch damit hat man noch keinen konstruktiven und tragfähigen Ausweg für das Land gewonnen. Man verkämpft sich in die Widerlegung des herrschenden Krisentheaters – und bleibt ihm doch noch verhaftet. 

Um einen konstruktiven Ausweg finden zu können, muss die Entwicklung Deutschlands noch etwas anders dargestellt werden. Die Darstellung in dieser Artikelfolge war noch unvollständig – sie muss um etwas Elementares ergänzt werden. Denn es gibt neben den lauthals ausgerufenen Krisendramen noch ganz andere Krisen – stillere, alltäglichere, zähere Krisen. Sie offenbaren eine fundamentale Schwäche. Aber es ist keine Schwäche des ganzen Landes, sondern eine Schwäche der Herrschaft durch Notstands-Mobilisierung. Diese Herrschaft erweist sich als unfähig, die elementaren Aufgaben einer modernen Zivilisation zu bewältigen. Zugleich werden in diesen Krisen die Kräfte sichtbar, die sich von den künstlich erzeugten Notständen nicht beeindrucken lassen, sondern sich mit den wirklichen Problemen dieses Landes befassen müssen und auch können. Mittelfristig werden sie die Träger eines deutschen Wiederaufbaus sein.        

„Wo sind sie geblieben?“ 

Dieser Alarmruf geht seit einiger Zeit in Deutschland um. Gemeint sind die Arbeitskräfte. Sie fehlen an allen Ecken und Enden. So erschien der „Spiegel“ vom 16.7.2022 mit einem Titelblatt, auf dem in großen Lettern stand: „Wo sind die nur alle hin?“ Und die Unterzeile lautete: „Wie der Mangel an Arbeitskräften das Land lahmlegt“. Dabei geht es vor allem um elementare Berufe, die keine höhere, akademische Bildung erfordern, sondern Fachkenntnisse und Erfahrungen aus der praktischen Berufsausübung – wie sie für Facharbeiter und angelernte Arbeiter typisch sind: Bauarbeiter, Feldarbeiter, Maschineneinrichter und Maschinenführer, Monteure, Schlosser, Klempner, LKW-Fahrer, Lagerarbeiter, Fachkräfte und Helfer im Einzelhandel, Brief- und Paketzusteller, Pflegekräfte, Fleischer, Bäcker, Klempner, Köche und Kellner, Busfahrer, Lokführer und Begleitpersonal bei der Bahn, Bühnenarbeiter, Texter, Zeichner und so weiter. Es geht um sogenannte „einfache“ Tätigkeiten – aber sie sind nicht einfach. Denn ihr gemeinsamer Nenner besteht darin, dass sie sich mit den Widrigkeiten der physischen Welt auseinandersetzen müssen, mit ihrer Muskelkraft, aber auch mit ihrer Aufmerksamkeit und Konzentration. Sie üben oft sehr kleinen Teilfunktionen aus, und tragen dabei doch eine hohe Verantwortung. Da sie „hart an der Realität“ gebaut sind, müssen sie oft unter schwierigen oder wechselhaften Bedingungen ausgeübt werden: Sie sind oft Wind und Wetter ausgesetzt, müssen Lärm, Schmutz, Staub, Rauch, Gestank aushalten. Sie müssen mit Menschen eng zusammenarbeiten oder sie als Kunden bedienen, und können sie sich nur in den seltensten Fällen aussuchen. Sie müssen früh aufstehen oder in Schichten rund um die Uhr arbeiten, und ihre Leistung immer auf einem bestimmten Niveau durchhalten. Und das über lange Jahre. 

Die neue Arbeitskrise 

Hier ist nun eine Krise da: Diese Krise hat die tonangebende „postindustrielle“ Gesellschafts-Vorstellung gewissermaßen auf dem falschen Fuß erwischt. Man hatte erwartet, dass sich die schweren Tätigkeiten und schwierigen Arbeitsplätze allmählich erledigen würden – entweder durch den technischen Fortschritt oder durch Auslagerungen aus den sogenannten „hochentwickelten“ Ländern in die „weniger entwickelten“ Länder. Für die Fälle, wo diese Rechnung nicht aufging, hatte man die Erwartung, dass es im Lande eine Unterschicht gäbe, die so dumm und brav wäre, dass sie die schlechten Arbeiten einfach weiter erledigen würde. Der andere Teil der Gesellschaft könnte als „Modernisierungsgewinner“ an ihnen vorbeiziehen und in ganz neuen, selbstbestimmten Arbeitsverhältnissen unterkommen, in denen man die Arbeit weitgehend für sich selbst definieren und als „wertvolle Leistung“ interpretieren kann. 

Doch nun gilt das alles offenbar nicht mehr. Jedenfalls nicht in einem Maße, dass es die Verhältnisse eines ganzen Landes bestimmen kann. Das gilt für das allmähliche Verschwinden der „einfachen“ Arbeitsplätze. Sie sind nicht verschwunden. Auch das Auslagern in andere Länder klappt nicht mehr zuverlässig, denn die internationale Arbeitsteilung läuft nicht mehr so, dass die einen sich mit den Widrigkeiten der physischen Welt auseinandersetzen müssen, und die anderen sich den freieren Tätigkeiten widmen können. Und nun fehlen „auf einmal“ auch in Deutschland massenweise Arbeitskräfte – und zwar gerade in den harten Realberufen, die man schon als erledigt abgehakt hatte. Diese neue Arbeitskrise liegt nicht an einer plötzlich ausgebrochenen allgemeinen Arbeitsscheu. Aber viele Menschen, die ihre Arbeit schätzen und über Jahre und Jahrzehnte das Land am Laufen gehalten haben, ziehen sich jetzt – ganz oder teilweise – zurück. 

Ein stiller, aber tiefgreifender Rückzug 

Es handelt sich nicht um einen bewussten, großen „Streik“, sondern um einen weitgehend stillen, aber tiefgreifenden Rückzug. Man verlässt Arbeitsplätze, geht vorzeitig in Rente, geht auf Teilzeit, nimmt häufiger einen Krankenschein oder verrichtet seine Arbeit ganz einfach mit weniger Einsatz. Und dieser Rückzug aus der Arbeit ist im Ergebnis so bedeutend, dass er „das Land lahmlegt“, wie der „Spiegel“ im Juli 2022 schrieb. Und diese Situation dauert an. Es handelt sich nicht um ein vorübergehendes, konjunkturelles Problem, das durch „mehr Geld“ (Lohnerhöhungen) zu beheben wäre. Es handelt sich um ein tieferes Problem. In Deutschland sind Verhältnisse eingetreten, bei denen es nicht mehr gelingt, Menschen zu motivieren, dauerhaft elementare Arbeiten zu verrichten. Dies Land hat etwas ganz Grundlegendes verloren, was es über lange Jahrzehnte besaß: Ihm ist der Wert der Arbeit abhandengekommen. Lange Zeit konnte dieser Wert, quer durch Branchen und soziale Schichten, einfach vorausgesetzt werden. Jetzt ist an dieser Stelle eine elementare Krise ausgebrochen. 

„Die demotivierte Gesellschaft“ 

Die Stimmungslage in Deutschland, die das Allensbacher Institut für Demoskopie monatlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht, trägt für Januar 2024 die Überschrift: „Die demotivierte Gesellschaft“ (FAZ 25.1.2024). Es geht um die Beobachtung, dass „die Einsatzbereitschaft im Beruf zurückgeht“. Auf die Frage „Ist in Deutschland der, der sich anstrengt und viel arbeitet, allmählich der Dumme?“ antworten von den Befragten mit niedrigem sozioökonomischen Status 67 Prozent mit „Ja“, mit mittlerem Status sind es 55 Prozent, während es mit hohem Status nur 38 Prozent sind. Eine Mehrheit der Befragten sagt, dass die Bereitschaft der Menschen, im Beruf großen Einsatz zu zeigen, in den letzten Jahren eher abgenommen als zugenommen hat. 

Nun bringen die Meinungsforscher das mit der Höhe der staatlichen Unterstützung bei Nicht-Arbeit („Bürgergeld“ etc.) in Verbindung, die kaum niedriger liegt als die Arbeits-Löhne in den unteren Lohngruppen. Man vermutet also eine Demotivierung „von unten“ und das ist seit längerer Zeit die vorherrschende Sichtweise. Sie hat durchaus ihre Berechtigung, aber sie verdeckt eine andere Demotivierung, die noch folgenreicher ist. Es gibt eine andere Form fehlender Leistungsbereitschaft, die gleichfalls durch einen riesigen und aufwendigen Apparat gefördert wird: die Schein-Arbeit durch eine aufgeblähte Akademisierung. Sie nimmt mittlerweile mehr als die Hälfte eines Bildungsjahrgangs in Anspruch. Hier geht es nicht um eine zu Untätigkeit verführte Unterschicht, sondern um die Verführung einer wuchernden „gehobenen“ Mittelschicht durch Schein-Beschäftigungen. Um eine „Demotivation von oben“, die alle anderen Arbeitsverhältnisse entwertet. Natürlich gibt es sehr anspruchsvolle wissenschaftliche Qualifikationen und akademische Berufe, ohne die ein modernes Land nicht denkbar ist – genauso, wie es in einem modernen Land unverzichtbare Sozial-Leistungen gibt. Aber all das muss in einem vernünftigen Verhältnis zur Produktivität eines Landes stehen. 

Die Inflation höherer Bildungsgänge 

In Deutschland ist viel von den Grenzen des Wachstums die Rede. Doch von einem völlig unverhältnismäßigen Wachstum ist erstaunlich wenig die Rede: vom Wachstum höherer Bildungsgänge. Die folgenden Zahlen zeigen, dass der Anteil der Studienanfänger pro Alters-Jahrgang von 1950 5,0 Prozent auf 2020 56,6 Prozent gestiegen ist. 

Die Entwicklung der Studienanfänger-Quote in Deutschland (1950 bis 2020):

JahrStudienanfänger pro Alters-Jahrgang
19505,0 Prozent
19606,0 Prozent
197012,0 Prozent
198019,5 Prozent
199030,4 Prozent
200033,5 Prozent
201046,0 Prozent
202056,6 Prozent

Die Bildungs-Ausgaben der öffentlichen Hand (Band, Länder, Gemeinden) sind von 1995 75,9 Milliarden Euro auf 2023 176,3 Milliarden Euro gestiegen. Man kann davon ausgehen, dass dies Wachstum ganz wesentlich auf das zunehmende Gewichte höherer Bildungsgänge zurückzuführen ist. Und dass dies Wachstum sich immer weiter von den Erfordernissen der Arbeitswelt gelöst hat. Ein Beleg dafür ist die Zahl der Studiengänge. Im Jahr 2008 gab es in Deutschland 13.000 verschiedene Studiengänge – was schon eine erstaunliche Zahl war. Aber im Jahr 2023 ist diese Zahl auf 21.000 Studiengänge gewachsen! Es liegt auf der Hand, dass hier ein Systemproblem liegt: Man kann im akademischen Bereich ständig zusätzliche Themen finden, die irgendeine feinere Unterscheidung oder neue Akzentuierung versprechen. Doch bedeutet „Thema“ nicht, dass daraus irgendwelche Produktivitätsgewinne folgen, die die Kosten solcher „höheren Bildung“ und „höheren Arbeitsplätze“ tragen könnten. Wenn Jahr für Jahr mehr als die Hälfte eines Jahrgangs auf diese Bahn geschickt wird, gerät das Gesamtgebäude einer Gesellschaft in eine unhaltbare Schieflage. 

Wenn „Bildung“ an die Stelle von „Leistung“ tritt 

Man kann diese Schieflage präzisieren: Es bildet sich in der Mitte der Gesellschaft ein beträchtlicher, vielfältig zusammengesetzter Sektor heraus, der über sogenanntes „höheres Wissen“ verfügt und entsprechend höhere Einkommen beansprucht. Aber die Arbeitswelt dieses Sektors unterliegt nicht den harten Zwängen und Maßstäben, denen die Arbeitswelt der „Realberufe“ unterliegt, der jetzt die Arbeitskräfte ausgehen. Die Arbeitswelt der so stark angeschwollenen höheren Mittelklasse, ist ganz überwiegend eine weiche Welt. Naturnähe bedeutet hier nicht Knappheit, Gefahr, Mühe, Anpassungszwang. Hier muss einer gegebenen Welt nichts abgerungen werden, sondern hier herrscht eine wunderbare Leichtigkeit, Erneuerbarkeit, Gratis-Produktivität. Man muss sich die Hände nicht schmutzig machen, sondern braucht eine großzügige Natur nur „selber machen“ lassen. Alles das, was anstrengend, monoton, widrig ist, wird jener bemitleidenswerten, bildungsfernen, aus der Zeit gefallenen „alten Mitte“ überlassen, die gar nicht mehr als Mitte der Gesellschaft anerkannt ist.So sind höhere Bildungsabschlüsse zu einer Art Adelstitel geworden, der ein Anrecht auf eine leichte Welt und auf „Renten“ mit sich bringt – „Renten“ verstanden als Positions-Einkünfte, die in keiner Relation zu einer erbrachten Leistung stehen. Je mehr dieser „gehobene“ Sektor wächst und um sich greift, sinken alle anderen Bildungsgänge und Arbeitswelten herab zu „Verliererwelten“, die man kaum noch eines Blickes würdigt. Der dortige Alltag ist zu „langweilig“, um wirklich einmal genau angeschaut zu werden. Und diese herablassende Behandlung gilt auch ganz brutal materiell: Da gibt es eine ständige wachsende gehobene Mittelklasse mit Haushalts-Einkommen von 5000, 10000 oder 15000 Euro pro Monat, die dann Güter und Dienste von anderen Menschen erwarten, die nur 1000, 1500 oder 2000 Euro erhalten. Und dabei viel härteren und engeren Arbeitsbedingungen unterworfen sind. 

Der Gesellschaftsvertrag ist zerbrochen 

Damit wird das, was man den modernen Gesellschaftsvertrag nennen kann, zerbrochen. Dieser Vertrag, der nicht auf Positionen und Rängen beruhte, sondern auf messbaren Leistungen, gilt nicht mehr. „Leistung“ gilt nun als falscher, primitiver Maßstab. An die Stelle der Arbeit tritt ein neuer Maßstab. Die Legitimität der gesellschaftlichen Verhältnisse, wird daran gemessen, ob sie „sozialen Aufstieg“ ermöglichen. Damit sind Arbeit und Arbeitsleistung aus dem normativen Zentrum der Gesellschaft entfernt. Normativer Maßstab sind jetzt die höheren Bildungsgänge und Berufe. Die Realberufe sind nun zu „niederen Berufen“ degradiert, die von Menschen ausgeübt werden, die „es nicht geschafft haben“. Sie werden offen oder insgeheim als Verlierer-Berufe angesehen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum in Deutschland nun der große Rückzug aus der Arbeit begonnen hat. Man hört besorgte Fragen, als hier irgendeine rätselhafte psychische Krankheit ausgebrochen: „Wo sind sie nur geblieben?“. „Wie können sie das nur tun?“. Dabei ist dieser Rückzug völlig logisch. Er ist die Antwort auf den Bruch des Gesellschaftsvertrags. Auf die Gleichgültigkeit und Arroganz, mit der die Zufriedenheit und Anerkennung zerstört wurde, die man zuvor als Facharbeiter oder angelernter Arbeiter finden konnte. Jetzt kommt die Quittung. Der Rückzug aus der Arbeit ist keine geplante Aktion und kein symbolischer Aktivismus, sondern eine tieferliegende, gesellschaftliche Reaktion: ein nachhaltig und auf breiter Front sinkender Einsatzwille. Die Bereitschaft, einer besserwissenden, besserverdienenden „Zivilgesellschaft“ die Lasten dieser Welt abzunehmen, ist drastisch gesunken. Diese Bereitschaft ist durch etwas mehr Geld nicht wiederherzustellen. 

Die Parallelwelt wird zur zerstörerischen Alleinherrschaft 

Von der „Großen Transformation“ ist nur noch eine Negativ-Agenda übriggeblieben, die Katastrophenszenarien und Feindbilder beschwört, um dann tragende Säulen von Marktwirtschaft und Republik zu opfern. (Wie Deutschland ein anderes Land wurde, Teil II)

Die Parallelwelt wird zur zerstörerischen Alleinherrschaft 

März 2024

Zu Beginn dieses Artikels wurde dargestellt, wie sich die Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg zunächst 30 Jahre industrieller Prosperität und krisenfester Demokratie erarbeitet hat (vom Ende der 1940er Jahre bis Ende zum 1970er Jahre). Deutschland wurde ein modernes Land, in dem Produktivität und freiheitliche Demokratie geachtet wurden. Gegenüber Heilsbotschaften herrschte eine gesunde Skepsis, und man war sich auch seiner begrenzten Möglichkeiten als mittelgroßes Land bewusst. Doch dann begann jener längere Prozess, an dessen Ende Deutschland ein fundamental anderes Land wurde. Die erste Phase dieses Prozesses wurde schon skizziert: In den dreißig Jahren vom Ende der 1970er Jahre bis zum Ende der 2000er Jahre bildete sich neben der bisherigen Bundesrepublik eine Parallelwelt aus. Noch kippte nicht das ganze Land, aber ein größerer Sektor der Gesellschaft – der sich vornehmlich aus den Bereichen der Dienstleistungen, der Wissenschaften und der Künste rekrutierte – verselbständigte sich. Er koppelte sich in seinem Wachstum von der industriellen Wertschöpfung ab, und er bildete auch eine eigene Öffentlichkeit aus, in der „weiche Faktoren“ („soft power“) die Hauptrolle spielten und die tätige Auseinandersetzung mit den harten Widrigkeiten dieser Welt immer weniger Wertschätzung fand. Doch damit war das Ende des Verwandlungsprozesses noch nicht erreicht. Deutschland trat in eine zweite Phase fundamentaler Veränderungen ein. Wenn man im Zeitrhythmus von 30 Jahren bleibt, hat diese Phase am Ende der 2000er Jahre begonnen und könnte bis zum Ende der 2030er Jahre dauern. Damit sind wir bei den heutigen deutschen Zuständen angelangt. 

Kapitel 3: Die Parallelwelt ergreift die Macht und wird zerstörerisch 

Im Vergleich zur vorhergehenden Phase treten zwei wesentliche Veränderungen hervor. Erstens wird das, was die moderne Zivilisation bisher ausmachte und was noch immer die Arbeit und das Leben der Mehrheit prägt, nun ausdrücklich als Fehlentwicklung und „ohne Zukunft“ dargestellt. Das, was bisher nur eine Parallelwelt war, drängt nun zur Alleinherrschaft. Zweitens hat diese „neue Welt“ gar kein positives Programm mehr zu bieten. Sie ist nun ganz und gar ein Negativprogramm. Das Eigene wird nicht mehr positiv entwickelt und der Beweis erbracht, dass es die Gesamtheit des Landes tragen kann. Nein, es geht nur noch darum, die modernen Grundlagen von Wirtschaft und Staat, die das Land sich nach dem 2. Weltkrieg erarbeitet hatte, zu entwerten und zu beseitigen. Man belastet die Betriebe und Infrastrukturen mit unbezahlbaren Abgaben oder unerfüllbaren Auflagen. Oder man setzt sie ganz direkt außer Betrieb. Die bisher noch verbliebene Kontinuität zu den ersten 30 Jahren der Bundesrepublik wird nun wirklich abgebrochen. So wird bewusst und aktiv eine Notlage hergestellt. Das soll die neue Normallage sein, an die die Bevölkerung gewöhnt werden soll. 

Die Politik der „Wenden“ 

Solange der oben beschriebene Sektor nur eine Parallelwelt darstellte, konnte man noch von einem Nebeneinander unterschiedlicher Daseinsformen und politischer Strömungen sprechen. Der Sektor dehnte sich aus, er eroberte Positionen in Staat und Wirtschaft, aber er konnte noch nicht andere politische, wirtschaftliche, technische, kulturelle Existenzen und Interessen verdrängen und vernichten. Doch in der Phase, die Ende 2000er Jahre anbricht, geht es um die politische und soziale Alleinherrschaft dieses Sektors. Dieser Anspruch auf Alleinherrschaft ist im Begriff der „Wende“ enthalten, der nun zum Oberbegriff für alle politischen, wirtschaftlichen und technischen Veränderungen wurde. Denn „Wende“ meint ja nicht eine graduelle Veränderung, die Kontinuitäten wahrt und durch neue Elemente ergänzt – dafür gibt es den Begriff „Reform“. Das Wort „Wende“ wird dort gebraucht, wo Kontinuitäten gebrochen werden sollen. Das muss man immer bedenken, wenn von „Agrarwende“, „Verkehrswende“, „Energiewende“, „Bildungswende“ oder gar „Zeitenwende“ die Rede ist.

Von der „Autowende“ ist nur eine Negativ-Agenda geblieben 

Das Beispiel der Autoindustrie zeigt, wie bei diesen Wenden dann mehr und mehr die Negativseite – das „Weg mit!“ – in den Vordergrund trat. Von dem Versprechen einer ganz neuen „elektrifizierten“ Automobilära ist nur das Ausstiegsprogramm geblieben: Das Ende des Automobils mit Verbrennungsmotor ist beschlossene Sache. Das große E-Mobil-Versprechen hat sich als unbezahlbar erwiesen. Und auch als umweltschädlich. Seit viele Subventionen, die die E-Mobilität versüßen sollten, gestrichen wurden, sind die Verkaufszahlen radikal rückläufig. Diese „Innovation“ ist also an technischen Realitäten gescheitert. Nun regiert das ersatzlose, kalte „Weg mit!“. Millionen von Menschen verlieren ihr Fahrzeug. Das Automobil als Massenverkehrsmittel wird abgeschafft. Und das schlägt auch auf die Siedlungsstruktur durch: Viele Wohn- und Arbeitsstandorte außerhalb der Städte sind nur noch mit extremem Aufwand erreichbar. Eine flächendeckende Voll-Versorgung mit öffentlichen Verkehrsmitteln wäre der blanke Wahnsinn – ein riesige Verschwendung von Material, Energie, Arbeit und Geld.   

Katastrophenszenarien und Feindbilder 

Eine Zeitlang sah es so aus, als würde der Wettstreit im Lande darum gehen, wie man das Gute durch etwas Besseres ersetzen kann. Aber in der Phase, die Ende der 2000er Jahre begann, bekam eine Negativ-Logik die Oberhand. Das zeigte sich nicht nur im Ausstieg aus bewährten Technologien, sondern auch in der Begründung dieses Abbruchs: Die sogenannte „CO2-Strategie“ wird nicht mehr damit begründet, dass die alternativen Energieträger so wunderbar funktionieren, sondern mit einer finsteren Drohung: Eine Überhitzung des Planeten wird unumkehrbar stattfinden, wenn nicht in kürzester Zeit die CO2-Emissionen ohne Rücksicht auf Verluste zurückgefahren werden. So ist auch die öffentliche Rede über die Energiewende immer mehr zur Drohrede geworden. Jedes ungewöhnliche Wetterereignis wird als Zeichen einer nahenden Klimakatastrophe gelesen. Und es gibt auch eine „ökonomische“ Rechnung ex negativo: Es lohnt sich, Sachwerte in Billionen-Höhe zu vernichten, weil ansonsten noch größere Opfer (durch Umwelt-Katastrophen) ins Haus stehen. Den positiven Beweis, dass die CO2-Strategie wirklich die Umwelt-Schäden in Deutschland senkt, hat allerdings noch niemand erbracht. Die positive Wirksamkeit dieser Strategie ist also hochspekulativ, während die Opfer dieses Programms sehr real sind. Sie schneiden tief in Arbeit und Leben von Millionen ein. Und diese Opfer müssen sofort erbracht werden. Man kann von einer aktiven Herbeiführung einer Notlage sprechen. Das ist im Laufe der Jahre 2022 und 2023 drastisch klargeworden. Seitdem gibt es eine spürbare Bedrückung und einen spürbaren Zorn im Land.  

Deutschland im Notstands-Modus? 

Am 24.3.2021 hat der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ein Urteil zum Klimaschutzgesetz gefällt. Dort wurde nicht nur ein bestimmtes Welt-Temperatur-Ziel für „verfassungsrechtlich maßgeblich“ erklärt, sondern auch die CO2-Stategie in den Rang eines Verfassungsgebots erhoben: der Ausstieg aus allen Produktionsverfahren, Kraftwerken, Heizungen, Verkehrsmitteln, bei denen es zur Verbrennung von fossilen Energieträgern kommt. Die Grundlogik des Urteils ist negativ: Der Zentralbegriff lautet „Freiheitsbeschränkungen“ – im Namen des „Klimaziels“ werden elementare Verfassungsrechte wie zum Beispiel die Gewerbe- und Berufsfreiheit eingeschränkt. Seltsame Verfassungsrichter: In ihrem Urteil geht es nur noch darum, wie Freiheitsbeschränkungen zeitlich zu verteilen sind. Die folgende Passage bringt das deutlich zum Ausdruck: „Die Freiheitsbeschränkungen fallen darum milder aus, je mehr Zeit für eine solche Umstellung auf CO2-freie Alternativen bleibt, je früher diese initiiert wird und je weiter das allgemeine CO2-Emissionsniveau bereits gesenkt ist. Muss sich eine von CO2-intensiver Lebensweise geprägte Gesellschaft hingegen in kürzester Zeit auf klimaneutrales Verhalten umstellen, dürften die Freiheitsbeschränkungen enorm sein.“ (zitiert aus der FAZ vom 5.5.2021) Das BVerfG erklärt also ein möglichst frühes Einsetzen der Freiheitsbeschränkungen zum Verfassungsgebot. Die Wortwahl ist beschönigend: Es ist von Beschränkungen die Rede, die „milder ausfallen“, wenn „die Initiierung der Umstellung“ möglichst früh erfolgt. Eine ernsthafte Überprüfung der Frage, ob der Stand der Technik so ist, dass eine Umstellung auf gleichwertigen Ersatz überhaupt möglich ist, gibt es nicht. Stattdessen ist von einer „CO2-intensiven Lebensweise“ der Gesellschaft die Rede, als handele es sich bloß um eine Lebensstil-Frage.  

Ein Ausnahmezustand auf unbestimmte Zeit

Das Karlsruher Klima-Urteil vom 24.3.2021 muss in sehr viel ernsteren Begriffen charakterisiert werden. Es legitimiert schwere Eingriffe in Verfassungsrechte, die man als Zwangsbewirtschaftung bezeichnen kann. Auch eine Zwangsverschuldung ist im Spiel, wenn man bedenkt, dass in Deutschland und EU-Europa dreistellige Milliarden-Beträge außerhalb der regulären staatlichen Haushaltsführung für die „Klimarettung“ eingesetzt werden. Zur Legitimierung dieses dem Lande auferlegten Zwanges wird im Grunde eine Art „Klima-Notstand“ behauptet. Und dieser Notstand ist eigentlich unbefristet, denn für die Wirksamkeit der Maßnahmen gibt es keinen eingrenzbaren Zeitrahmen. Die „Klimarettung“ läuft also auf einen endlosen Spannungszustand hinaus. Und für diesen neuen Dauerzustand stände Deutschland nur mit einem eingeschränkten Grundgesetz da. Es würde ständig im Ausnahmezustand regiert. Und dieser Notstand wurde nicht in einem ordentlichen rechtsstaatlichen Verfahren, unter maßgeblicher Beteiligung der Legislative (Bundestag und Bundesrat), festgestellt – sondern nur durch die Judikative, durch.ein Gerichtsurteil. 

Aus lösbaren Problemen sind endlose Krisen geworden 

Das Klimaurteil des BVerfG ist ein gefährlicher Präzedenzfall. Denn hier wird im Namen einer Einzel-Krise eine Negativlösung (CO2-Strategie) über die Gesamtheit von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verhängt. Und es gibt weitere, ähnlich absolute Notlagen, die absolute „Rettungsmaßnahmen“ erfordern, die nicht mehr mit anderen Rechtsgütern abzuwägen sind. Das ist das neue Charakteristikum der Entwicklungsphase, die seit dem Ende der 2000er Jahre begonnen hat und in deren Bann Deutschland immer mehr steht. Ein frühes Beispiel ist das Tsunami-Unglück im fernen Japan (Fukushima), dessen Bild-Gewalt hierzulande einen so starken Eindruck hinterließ, dass man sogleich den Ausstieg aus der Kernenergie beschloss. Heute erweist sich dieser Beschluss als törichter Kurzschluss. Ein zweites frühes Beispiel ist die Schuldenkrise, die in Deutschland als Aufgabe der „Eurorettung“ dargestellt wurde. Bis heute ist diese Schuldenkrise, die viele Länder erfasste, nicht durch eine realwirtschaftliche Verbesserung der Wertschöpfung gelöst, sondern nur durch eine Politik des billigen Geldes überdeckt. Diese Politik wurde vor allem durch die Europäische Zentralbank (EZB) mit der radikalen Devise „Whatever it takes“ (Mario Draghi 2012) betrieben. Nur vor dem Hintergrund dieser Politik des billigen Geldes sind dann die leichtinnigen Entscheidungen getroffen worden, die die Belastungen von Wirtschaft und Staat in Deutschland und anderen Ländern signifikant erhöhten.    

Massenmigration und „Weltschuld“ 

Die Migrationskrise fing mit einzelnen Grenzüberschreitungen an, die schon den Druck erahnen ließen, den Entwicklungskrisen erzeugen können, wenn sie sich in Migrationsbewegungen verwandeln. Die Entwicklungskrisen sind eigentlich innere Fehlentwicklungen von Ländern, in unserer Zeit besonders in Teilen Afrikas und des Nahen oder Mittleren Ostens. Sie können nur durch innere Veränderungen in diesen Ländern behoben werden. Die Entladung in Migrationsbewegungen, bedeutete eine Internationalisierung der Entwicklungskrisen – also keine Lösung, sondern nur eine Verschiebung. So geschah es 2015. Indem Europa und besonders Deutschland dem nachgab, trug es dazu bei, die eigentlichen Krisen unlösbar zu machen. Doch man schwor hoch und heilig, dass sich 2015 „nicht wiederholen“ würde. Und nun befindet sich Deutschland mitten in einer noch größeren Immigrationswelle – und schwimmt darin genauso hilflos wie 2015. Nichts ist geschehen, um die Entladung von Entwicklungskrisen in Migrationskrisen durch staatliche Souveränität und Wehrhaftigkeit zu verhindern. Es wurde eine entwurzelte Bevölkerung ins Land gelassen. Sie wurde den Bürgern in Städten und Landkreisen vor die Tür geschaufelt. Mehr noch: Auf diesem Boden ist inzwischen eine Schuld-Erzählung gewachsen. Diese Erzählung läuft darauf hinaus, dass Deutschland und andere weiter entwickelte Länder (bis hin zu Israel) an den Entwicklungskrisen in Afrika oder dem Nahen und Mittleren Osten „schuldig“ sein sollen. So versteht sich eine wachsende Zahl von Migranten nun als die gerechten Eintreiber dieser Schulden. Auch hier ist also eine Negativ-Agenda zur Herrschaft gekommen: Der in Deutschland aufgebaute Wohlstand wurde zur „Weltschuld“ umgewertet.   

Und nun ein großer Krieg? 

Die Entwicklung in der Ukraine mit ihren immensen Opfern und der ganz akuten Gefahr einer neuen Eskalation führt dazu, dass eine wachsende Zahl von Menschen sich fragt: Wie sollen wir aus diesem Kriegszustand je wieder herausfinden? Wie sind wir überhaupt in diese Situation hineingeraten? Als die Ukrainer Anfang der 1990er Jahre mit großer Mehrheit für die Unabhängigkeit ihres Landes stimmten, hatten sie keineswegs eine Ukraine zum Ziel, die das starke und wertvolle russische Element aus dem Land ausschloss und die gewachsenen Verbindungen mit Russland zerschnitt. Auch hätten viele der Menschen, die Anfang der 2010er Jahre auf dem Majdan demonstrierten, einer blutigen Unterwerfung der östlichen Landesteile damals wohl nicht zugestimmt. Man kann es auch prinzipieller sagen: Eigentlich ist doch klar, dass Kiew mit der Hypothek einer gewaltsamen Unterwerfung des Donbass nicht glücklich werden kann. Ebenso wenig kann Moskau mit der Hypothek einer Annektierung der Ukraine glücklich werden. Doch hat die Ukraine-Krise eine sehr merkwürdige und sehr gefährliche Eigendynamik bekommen. Sie wird inzwischen mit extremen Feindbildern und medialen Schreckens-Inszenierungen geführt. Und zugleich werden die luftigsten Illusionen über einen Krieg, der klinisch sauber mit Fernwaffen und künstlicher Intelligenz gewonnen werden könnte, in die Welt gesetzt. Auf dieser Basis scheint hier „der Westen“ noch einmal angetreten zu sein, um einen großen Krieg zu gewinnen. Eigentlich ist der Versuch, auf diese Weise die Führungsrolle in der Welt zurückzugewinnen, ein historischer Rückfall, ein Anachronismus. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich die Vorstellung, in der Ära der Moderne liefe alles immer wieder auf den Kampf um ein Monopol der Weltführung hinaus, stark relativiert. Die heutige Welt hat sich Schritt für Schritt in Richtung auf eine multipolare Weltordnung bewegt. Allerdings gibt es neben dieser Entwicklung auch verschiedene „große Erzählungen“, die globale Machtansprüche begründen sollen. Dazu gehört auch die Erzählung, dass mit den Ereignissen von 1989 „der Westen“ einen Sieg mit globaler Wirkung errungen habe. Mit dieser Deutung war es nur ein kleiner Schritt, um aus „1989“ die Ermächtigung abzuleiten, nun von außen in den verschiedensten Krisenländern zu intervenieren und einen „Regime change“ und ein „nation building“ ins Werk zu setzen. Die Ergebnisse dieser Politik sind ernüchternd. Für die betroffenen Länder waren sie oft verheerend. Mit dem (ersatzlosen) Sturz etablierter Mächte wurden Länder in ein unregierbares Chaos gestürzt. So ist die Außenpolitik westlicher Länder in einer schlechten Unentschiedenheit befangen: Man sagt einerseits, dass die Zeiten des ferngesteuerten „Regime change“ vorbei sind (nach dem Scheitern in Afghanistan). Und gleichzeitig scheint der Westen in der Ukraine noch einmal zu einem großen „Roll Back“ antreten zu wollen.   

Die zerstörerische Macht der „Erzählungen“ (1) 

Zur Eigenart der Ukraine-Krise gehört, dass hier eine sehr große Negativ-Erzählung im Spiel ist. In dieser Erzählung wird „Putins Russland“ nicht nur unterstellt, dass er die ganze Ukraine annektieren will, sondern auch, dass Russlands Soldaten nach der erfolgten Einverleibung der Ukraine gleich weiter nach Westen marschieren würden. „Russland führt einen Krieg in Europa“ lautet eine hierzulande häufig gebrauchte Formel. Diese Entgrenzung des Krieges hat mit dem tatsächlichen Frontverlauf nichts zu tun, aber Erzählungen bewegen sich in der sehr dehnbaren Sphäre der Zeichen und Bedeutungen. In dieser Sphäre kann „Putin“ zu dämonischer Größe wachsen. Und eine zweite Dämonisierung ist viel fundamentaler und gefährlicher: die Dämonisierung Russlands. In Deutschland ist es gängige Münze, Russland als „imperialistische Macht“ zu charakterisieren. Das aber würde bedeuten: Es gehört zum inneren Wesen Russlands, nach gewaltsamer Eroberung zu streben. Es kann gar nicht anders als sein Heil in einer gewaltsamen Expansion zu suchen. Ein so fundamentales Feindbild hat eine fatale Konsequenz: Europa kann nur Frieden finden, wenn es Russland zerstört. Wenn es sein Staat und seine Wirtschaft nachhaltig ruiniert. Dieses „nachhaltig zerstören“ geistert tatsächlich durch zahlreiche Statements, darunter des Wirtschaftsministers und des Finanzministers aus Deutschland. Solange diese Russland-Erzählung herrscht, wird der Westen aus diesem Krieg nicht herausfinden. 

Die zerstörerische Macht der „Erzählungen“ (2) 

Die Kiewer Regierung ist militärisch in eine schwierige Lage geraten. In der Bevölkerung wachsen die Zweifel. Das ist ein wichtiger Moment: Es gibt eine Chance, den Kriegseinsatz zurückzufahren und zu einem Waffenstillstand zu kommen. Dazu ist wichtig, dass jetzt von den Mächten, die Kiew unterstützen, Signale der Mäßigung kommen und eindeutige Grenzen der Unterstützung sichtbar gemacht werden. In den USA, in Frankreich und in Deutschland ist die Bevölkerung mehrheitlich für eine solche Begrenzung. Aber es gibt auch prominente Stimmen, die für das glatte Gegenteil eintreten und „weittragende“ Waffen in Aussicht stellen, mit denen ein „Sieg über Russland“ doch noch möglich sein soll. So hat Roderich Kiesewetter, ein führender CDU-Politiker in einem Interview mit der „Deutschen Welle“ folgendes gesagt: „Der Krieg muss nach Russland getragen werden. Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände.“ Hier werden militärische Ziele in Russland benannt und gefordert, dass Deutschland die dafür notwendigen Waffen liefert. Es gibt eine beträchtliche Zahl ähnlicher Stimmen, die eine Eskalation ins „Weittragende“ befürworten – sowohl in der Regierung als auch in der Opposition. Es muss befürchtet werden, dass ein Eskalations-Antrag im Deutschen Bundestag eine Mehrheit finden würde. Man könnte einwenden, dass das alles nicht so ernst gemeint sei. Den Krieg würden ja bloß die Ukrainer führen. Und wir wollen den Ukrainer eigentlich nur „Mut machen“.  Aber die Politik ist nicht nur für die guten Worte verantwortlich, in die sie ihre Entscheidungen kleidet, sondern auch für die realen Folgen dieser Entscheidungen. Und diese Folgen sind: Kriegserweiterung und Kriegsverlängerung. 

Die zerstörerische Macht der „Erzählungen“ (3) 

Man vergleiche einmal die Stellungnahmen führender deutscher Politiker zur jetzigen Konfrontation mit Russland mit den Stellungnahmen in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik. Was für ein Unterschied und was für ein Widersinn! Damals, in Zeiten der kommunistischen Herrschaft in Russland und Osteuropa, konnte man mit einigem Recht von einer Bedrohung sprechen. Es fehlte nicht an ernsten Konfrontationen wie der Berlin-Blockade, dem Bau der Berliner Mauer, der Militärintervention gegen den Prager Frühling. Aber welcher Kanzler oder Außenminister, ob von CDU/CSU, SPD oder FDP hätte sich zur Forderung nach „weittragenden Waffen“ verstiegen? Sie haben Vorsicht und Zurückhaltung walten lassen. Und man hat ihnen damals auch nicht vorgeworfen, deswegen „Moskaus Freunde“ zu sein. Die Eskalation der deutschen Tonlage kann nicht damit erklärt werden, dass Russland eine gefährlichere Macht als früher geworden ist. Nein, die Mischung von Zerstörungswillen und Leichtsinn zeugt von der Veränderung, die mit Deutschland geschehen ist. In diesem Land findet sich inzwischen eine gefährliche Bereitschaft, die eigenen Errungenschaften aufs Spiel zu setzen und reale Güter für spekulative Ideen zu opfern. Diese Bereitschaft hat keineswegs von der ganzen Gesellschaft Besitz ergriffen, und vieles ist sicher auch bloßes Schwadronieren. Aber so kann man in einen Krieg hineinschlittern. Einen Krieg, den man eigentlich „gar nicht gewollt hat“.  

Das Menetekel 1914 

In mancher Hinsicht erinnert die Situation an 1914 oder überhaupt an das Jahrzehnt, das in die „europäische Urkatastrophe“ von 1914 führte. Natürlich muss es so nicht ausgehen. Geschichte wiederholt sich nicht. Was für einen Rückblick auf die Konstellation zu Beginn des 20. Jahrhunderts spricht, ist die Tatsache, dass es damals nicht nur eine Verharmlosung des drohenden Krieges gab, sondern auch eine gewisse Zivilisationsmüdigkeit und die Sehnsucht nach einer „reinigenden“ Gewaltkur. Beim Lernen aus der Geschichte steht heute meistens „1933“ und überhaupt die totalitäre Gefahr von rechts und links im Vordergrund. Aber ein Blick auf „1914“ wäre heute mindestens ebenso wichtig.  

Eine Zwischenbilanz 

Eine Zwischenbilanz für das Deutschland unserer Gegenwart muss tatsächlich einen fundamentalen Wandel feststellen: Was als abgehobene und selbstbezogene Parallelgesellschaft (der „Sektor“) entstand, ist inzwischen zu einer tonangebenden Macht geworden. Und diese Macht ist immer stärker zu einer zerstörerischen Negativ-Macht geworden. Erst in der Gesamtschau der Jahrzehnte und der verschiedenen Handlungsfelder zeigt sich der gemeinsame Grundcharakter und die Grundrichtung der Entwicklung. So wird verständlich, warum die Bilanzen für Wirtschaft und Staat so schlecht ausfallen, und warum sich in der Gesellschaft ein Gefühl der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit ausbreitet. 

Aber ist das wirklich alles? Ist die heutige Negativspirale wirklich so mächtig, dass sie das ganze Land und die ganze Zukunft in Beschlag nehmen kann? Das hieße ja, dass der „Sektor“ alle anderen Fähigkeiten, Ressourcen, Erfahrungen und Interessen im Land völlig in Beschlag nehmen kann. Dass er sie sich einverleiben kann. Dass aus einer Parallelgesellschaft auf einmal „die Gesellschaft“ schlechthin wird. Und „die Wirtschaft“, „der Staat“, „die Arbeit“ und „die Demokratie“. Ja, so treten sie auf. Sie sind große Erzähler. Und starke Schauspieler. Doch es lohnt sich, einmal durch das so aufdringliche Krisentheater hindurchzuschauen. Und zu prüfen, ob es in diesem Land nicht etwas anderes gibt. Nein, ein bequemes Vor-Sich-Hin-Leben ist dann nicht in Sicht, sondern sehr elementare, hartnäckige Knappheiten und Widrigkeiten, aber mit greifbaren, im Rahmen unserer modernen Zivilisation schon bewährten Lösungen. Und eine Gesellschaft im Schatten, die sich darin bewährt hat. So könnte, diesseits der heute so aufdringlich herrschenden und sich allmählich erschöpfenden großen Erzählungen, eine Vorstellung von neuen Jahrzehnten entstehen, in denen Deutschland allmählich wieder auf einen anderen Kurs findet.