Der falsche Krieg

Im Ukraine-Konflikt ist ein „Siegfrieden“ unerreichbar. Aber ein Modus der Koexistenz kann gefunden werden, wenn die russischen Anliegen nicht von vornherein von jeder Erwägung ausgeschlossen werden.   

Der falsche Krieg

30. Mai 2025

Gewiss ist es ein wichtiges Anliegen, die Fähigkeit und Bereitschaft zur Selbstverteidigung in der europäischen Staatenwelt zu stärken. Aber das kann nicht bedeuten, dass nun jedes Feindbild und jeder Waffengang durch dies Anliegen gerechtfertigt wäre. Das Recht auf Selbstverteidigung entbindet nicht von der Pflicht, die Zuspitzung von Konflikten kritisch zu prüfen. Insbesondere sollte man vorher überlegen, zu welchem Zweck und Ende eine Zuspitzung führen soll. Der Gegensatz „Krieg oder Frieden“ ist dabei ein zu einfacher, zu absoluter, zu moralischer Gegensatz. Es gibt Situationen im Weltgeschehen, in denen ein wirklicher Frieden zwischen gegensätzlichen Mächten gar nicht zur Wahl steht – und dennoch ein Modus der Koexistenz solcher Mächte möglich ist. Dieser Modus kann stabil sein und eventuell sogar für eine längere geschichtliche Periode haltbar sein.

Dafür gibt es geschichtliche Beispiele, auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Man denke an die verschiedenen Berlin-Krisen, bei denen die Einheit der Stadt zerbrochen wurde und es durchaus Rufe nach einer militärischen Intervention der westlichen Alliierten gab. Diese Intervention erfolgte nicht, und es gibt heute wohl kaum jemand, der das nachträglich für einen Fehler hält und die Hinnahme der Spaltung für die Kapitulation eines „naiven“ Westens. Was folgte, war kein wirklicher Frieden, aber eine längere Zeit der Koexistenz.   

Diese Option ist aber schon längere Zeit in Vergessenheit geraten, und es scheint hier einen Zusammenhang mit dem globalen Trend zu immer engerer Kopplung, Regelung und Intervention zu geben – also mit der „Globalisierung“. Vor dem Hintergrund „Globalisierung“ erschien der Modus der Koexistenz als „zu wenig“. Man wollte nur noch die „eine Welt“ wahrhaben. Und man sprach davon, dass eine Ära der „Weltinnenpolitik“ angebrochen sei und dies eine moralisch höhere Stufe der Weltentwicklung sei. Ja, im Grunde gab es in dieser Zeit eine Außenpolitik, die wirklich ein „Außen“ von einem „Innen“ unterschied, gar nicht mehr.

Die ordnende Kraft der Globalisierung ist erschöpft

Doch nun scheint die Globalisierung ihre großen Versprechen nicht halten zu können. Ihre Kräfte scheinen sich zu erschöpfen. Sie erweist sich als unfähig, die unterschiedlichen und gegensätzlichen Kräfte der Welt zu ordnen. Das macht Koexistenz-Lösungen wieder interessant. Ist es dieser Modus, auf denen der Rückzug der USA aus ihrer Weltpolizisten-Rolle hinausläuft? Manche können in dieser Entwicklung nur Negatives entdecken. Sie wittern überall tödliche Gefahren und bedrohliche neue Machthaber. Sie sprechen von einer „Welt aus den Fugen“ oder einer „Welt in Aufruhr“ – weil sie immer noch allzu fest an die „Fugen“ der Globalisierung und deren universellen Regeln glauben. Sie können und wollen die Zeichen nicht sehen, die auf eine künftige losere Kopplung der Weltdinge hindeuten. Sie wollen die Spielräume und Möglichkeiten nicht prüfen, die sich ergeben, wenn die Welt nicht auf einen einzigen Maßstab für das Gute reduziert wird – und alles andere als „das Böse“ ausgeschlossen wird. Und wenn die Länder dieser Welt nach diesem Schema eingeteilt werden:

Tatsächlich gibt es prominente Stimmen, die die heutige Weltlage als eine große Auseinandersetzung beschreiben – als einen großen Kampf zwischen zwei Lagern: dem Lager „der Demokratien“ und dem Lager „der Autokratien“. Das ist eine verheerende Beschreibung: Wenn die Weltlage als „Kampf“ beschrieben wird, wird sie dramatisch eng. Denn dann geht es nur um Sieg oder Niederlage. Und nur eine Seite kann dann gewinnen. Aus dieser Enge kommt man nur heraus, wenn man ernsthaft prüft, ob die Welt nicht anders beschrieben und außenpolitisch geordnet werden kann: als Koexistenz von Gegensätzen. Also nicht als harmonisches Miteinander, als großes „Wir“, sondern als begrenztes Miteinander mit eingehegten Gegensätzen. Beim Ukraine-Konflikt stellt sich exemplarisch diese Aufgabe.        

Über die Formel „Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine“

Lange Zeit wurde der Ukraine-Konflikt in der Öffentlichkeit westlicher Länder unter der Formel „Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine“ präsentiert. Diese Formel wird gebetsmühlenartig wiederholt. Es scheint diejenigen, die das tun, gar nicht zu interessieren, dass sie mit einer solchen Sicht der Dinge jegliches legitime Interesse der russischen Seite und damit jegliche von beiden Seiten getragene Koexistenz ausschließen. Denn wer den Konflikt nur mit russischen Handlungen anfangen lässt, tut so, als seien sie gleichsam „aus heiterem Himmel“ erfolgt. Dann aber wird Russland als willkürlich angreifende Macht dargestellt, von der man annehmen muss, dass sie die ganze Ukraine erobern will, und danach ganz Europa…Die Radikalität des eigenen Feindbildes verhindert also, dass man auf die Anliegen der russischen Seite eingeht und ihnen ein Stück entgegenkommt. Man ist Gefangener der eigenen Worte und der eigenen Erzählung der Dinge.

Das ganze Bild des Ukraine-Konflikts sehen (I)

Die Ukraine, die in der Formel als willkürlich angegriffenes Land dargestellt wird, ist nicht die Ukraine, die Anfang der 1990er Jahre mit überwältigender Mehrheit für ihre Unabhängigkeit votierte. Damals votierten auch die russischen Bevölkerungsteile mehrheitlich für einen unabhängigen Staat, dessen politische, wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zu Russland (ebenso wie die Beziehungen zu Europa) fortgesetzt werden sollten. Die Ukraine war ein Land mit zwei Kulturen, zwei Sprachen, und mit großen im Verbund mit Russland aufgebauten Industrien und Infrastrukturen – insbesondere im Osten des Landes. Politisch regierten noch wechselnde Mehrheiten, von denen eine mehr Russland zuneigte und eine mehr Europa. Die Ukraine war also ein komplex zusammengesetztes Land, und das konnte auch als ein Vorzug angesehen werden. Der frühere US-Außenminister Kissinger hat seinerzeit davor gewarnt, die Ukraine vor ein Entweder-Oder zu stellen. Aber so ist es gekommen. Die Entwicklung drehte sich zunehmend gegen die russischen Elemente, ein diskriminierendes Sprachgesetz wurde erlassen, Wirtschaftsverträge wurden gekündigt, eine Verfassung, in der das Ziel der Integration in EU und NATO festgeschrieben wurde, trat an Stelle der alten Verfassung. Die „neue Ukraine“ war eine einseitig gebundene, monokulturelle Ukraine. In den östlichen Provinzen entstand eine separatistische Bewegung. Die Kiewer Regierung griff zu militärischer Gewalt. Russland unterstützte die „abtrünnigen Provinzen“. Dann kam es zum Großeinsatz der russischen Streitkräfte, der wiederum mit einer massiven Aufrüstung der Kiewer Regierung durch den Westen beantwortet wurde. Man kann diese Entwicklung von keiner Seite als notwendig und gut ansehen. Sie ist eigentlich eine Tragödie, eine Radikalisierung zu einer immer tieferen Freund-Feind-Spaltung. Dazu gehört auch, dass von russischer Seite die Kiewer Regierung als „faschistisch“ bezeichnet wurde. Das ist ebenso verfehlt wie die Geschichte vom „ewigen Aggressor Russland“.   

Das ganze Bild des Ukraine-Konflikts sehen (II)

Zu dem Gesamtbild dieser Eskalation gehört auch, dass die Lösung der Koexistenz auf einer größeren Weltebene verloren ging. Nach der Wende von 1989 setzte sich im Westen eine Interpretation der Geschichte durch, die diese Wende als „Sieg des Westens“ interpretierte, und die nun die USA als „einzige verbliebene Supermacht“ ansah. Das war mit der Erwartung verbunden, dass nun überall in der Welt ein allmähliches Vorrücken westlicher Positionen stattfinden würde, dass der Westen in der Lage sei, „Regimewechsel“ und „Nation Building“ von außen durchzusetzen. Die Vereinseitigung der Ukraine war auch ein Kind dieser vermeintlichen „neuer Epoche“ mit einer Verwestlichung der Welt. Wir wissen inzwischen, dass diese Erwartung trog. Und es gibt viele, die sie auch gar nicht für wünschenswert halten. Mit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten scheinen sich die USA deutlich aus einer Weltmission „Globalisierung“ zurückzuziehen. Wird der Großkampf „Demokratie gegen Autokratie“ abgesagt? Das könnte dazu führen, dass die Lösungen der Koexistenz wiederentdeckt werden. Das könnte auch den Ukraine-Konflikt lösbar machen. Immerhin kommt die US-Regierung bei ihrer Ukraine-Politik ganz ohne die Anklage-Formel „Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine“ aus. Wir wissen letztlich nicht, ob die Zeit schon reif ist, um eine Welt der Koexistenz von Gegensätzen auszuhalten. Setzt dieser Wandel nicht mehr voraus als nur einen Regierungswechsel in den USA? In anderen Teilen der Welt scheint man zu glauben, man müsse die Gründe für den Kurswechsel der USA nicht zum Anlass nehmen, die eigenen Ansprüche zu überprüfen und zu korrigieren. Mancherorts scheint man zu glauben, man könne die alte Rolle der USA übernehmen. Damit sind wir bei der Ukraine-Politik der Europäer in diesem Frühjahr 2025 – bei der sogenannten „Koalition der Willigen“.

Ein Blitzbesuch und ein Ultimatum

Am 11. Mai statteten vier europäische Regierungschefs – Merz, Macron, Starmer, Tusk – der ukrainischen Hauptstadt Kiew einen Blitzbesuch ab. Es war eine Art Statement: Die „Koalition der Willigen“, wie sich die vier nennen, wollten angesichts der Kriegsskepsis der neuen US-Regierung mit ihrem Besuch ein Zeichen für die Verstärkung der politischen und militärischen Unterstützung der Regierung in Kiew setzen. Also nicht kritische Überprüfung der eigenen Position, sondern ein verstärktes Weiter-So. Man glaubte, ohne in Ruhe die Gründe zu prüfen, die die neu gewählte US-Regierung zu ihrer Zurückhaltung bewegen, sich jetzt an die Spitze der Kriegsbefürworter stellen zu können. Dabei war die Initiative ein Schaustück. Es herrschte nicht jene Diskretion, die normalerweise das Markenzeichen von Außenpolitik und Diplomatie ist. Nein, der Auftritt der „Willigen“ war auf Sichtbarkeit angelegt. Das fand – unter anderem – in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 12. Mai 2025 dankbare Aufnahme. Auf der ersten Seite prangte ein Titelbild, das die vier Staatschefs mit ihrem Gastgeber Selenskyj auf dem Maidan-Platz zeigte. Neben dem Titelbild stand ein Leitartikel von Berthold Kohler, der den Titel „Geballtes Europa“ trug. Der Artikel macht sich gar nicht erst die Mühe, über Sinn und Unsinn der Kriegsziele neu nachzudenken. Für den Autor gibt es nur eine einzige mögliche Antwort auf die zunehmende Kriegs-Skepsis in den USA:

„Umso wichtiger war es, dass Merz, Macron, Starmer und Tusk gleich nach der Wahl des neuen Bundeskanzlers nach Kiew gefahren sind und dort als geballtes Europa auch noch Trump mit ins Boot geholt haben. Der bleibt weiter ein unsicherer Kantonist; aber solange er nicht nur die Moskauer Propaganda glaubt und nachplappert, ist das schon ein Erfolg.“

Das „geballte Europa“ ist also eine Durchhalte-Parole. Wenn es nach Kohler geht, der Mitherausgeber der FAZ ist, dann ist jede andere Position nur ein gläubiges „Nachplappern“ der Moskauer Propaganda. Man beachtete den despektierlichen Ton, mit dem der Autor den gewählten Präsidenten der USA behandeln zu können glaubt. So weit ist das Freund-Feind-Schema inzwischen vorgedrungen, dass man die eigene Position immunisiert, indem alles andere als Feind-Propaganda abtut.

„Fünf Mann, ein Sofa und ein Handy“

Auf Seite 3 der gleichen FAZ-Ausgabe findet sich unter der Überschrift „Fünf Mann, ein Sofa und ein Handy“ eine Art Insider-Bericht vom Kiewer Auftritt der „Fünf Willigen“. Zu sehen ist ein Foto, dass die vier Regierungschefs plus Selenskyj auf einem Sofa darstellt. Der Autor, Konrad Schuller, weiß zu berichten, dass die Koalition der Willigen „per Videoschalte“ zu einer Gruppe von mehr als zwanzig Staaten und den Spitzen von NATO und EU erweitert wurde. Die Verbindung sei „mehrfach zusammengebrochen“, aber „am Ende erging die Botschaft: Alle sind im Boot“. Dabei ging es nicht einfach um eine diplomatische Initiative, sondern um ein Ultimatum an Russland. Man forderte von Russland die Zustimmung zu einem dreißigtägigen Waffenstillstand, ohne dass irgendein Eingehen auf die Anliegen Russlands in Aussicht gestellt wurde. Und man stellte Russland eine Frist, um die Forderung nach einem Waffenstillstand zu erfüllen. Falls dies nicht geschehen würde, drohte die „Koalition der Willigen“ mit einer „Erhöhung des Drucks auf die russische Kriegsmaschine“. Und dies Ultimatum sollte sich nun auch der US-Präsident zu eigen machen. Im FAZ-Artikel findet sich der Satz „Trump ging darauf ein“. Haben die Journalisten das mitgehört? Oder bezieht sich der Artikel auf eine Aussage, die der Bundeskanzler Merz später auf einer Pressekonferenz machte: „Man habe Trump noch einmal `persönlich informiert´ und sei jetzt dankbar, dass er `voll und ganz unsere Initiative unterstützt´.“ Demnach hätte sich Donald Trump dem Ultimatum gegen Russland angeschlossen. Inzwischen wissen wir, dass davon nicht die Rede sein kann. Die US-Regierung hat es abgelehnt, in die Koalition der Willigen einzutreten und sich dem Ultimatum anzuschließen.

„Europa“ als kriegsverlängernde Macht?

Man könnte sich, angesichts der Großsprecherei der „diplomatischen Initiative“, nun in Spott und Häme ergehen. Aber dazu ist die Ukraine-Krise viel ernst, viel zu zertörerisch. Sie geht viel zu leichtsinnig mit der Gefahr um, dass durch irgendeine „kleine“ Entscheidung – auf einmal ein europäisch-russischer Waffengang ausgelöst wird. Wo ist das Gegengewicht der Sorge um verheerende Verluste, die in Zeiten der Koexistenz vor Eskalationen bewahrt hat? Heute werden mit verblüffender Leichtigkeit die größten Gefahren und grundlegensten Transformationen beschworen. Selten stand das Bestehende, das über lange Jahre aufgebaut wurde, so niedrig im Kurs.  Wächst da nicht die Neigung, es leichtfertig aufs Spiel zu setzen? Und eventuell sogar einen „reinigenden Krieg“ zu begrüßen? Am Ende des hier bereits zitierten FAZ-Leitartikels schreibt Berthold Kohler die Sätze:

„Ob Merz den Stier bei den Hörnern packt?

In Kiew wich er der Frage nach dem Taurus noch aus.“

Der Taurus ist jene Waffe, die es erlaubt „den Krieg nach Russland zu tragen“, wie es mancherorts schon gefordert wird. Auch wenn es – vor allem durch die Rückzugsneigung der US-Regierung – nicht zu einer großen Eskalation kommt, gibt es bereits ein Faktum: In diesem Frühjahr 2025 haben wichtige europäische Regierungen eine kriegsverlängernde Rolle gespielt.  

Diesseits von Krieg und Frieden

In dieser Lage reicht es nicht, nur negativ die leichtfertigen und gefährlichen Handlungen mancher Regierungen zu kritisieren. Viel wichtiger ist es, positiv den Modus der Koexistenz näher zu klären und besser zu erklären. Also nicht eine täuschende Friedenslösung zu versprechen, sondern eine bescheidenere Lösung diesseits von Krieg und Frieden.

Substanz und Grenzen des Staates

Wer in Deutschland das Vertrauen wiederherstellen will, muss nicht Subventionen verteilen, sondern zu den tragenden Elementen und festen Maßstäben der staatspolitischen Vernunft zurückkehren.

Substanz und Grenzen des Staates

09. April 2025

Nach dem der Bundestag am 18. März mit einer Zweidrittel-Mehrheit eine Grundgesetz-Änderung beschlossen hatte, die Verbindlichkeit der Schuldenbremse aufzuheben und damit die Bedingung für Kreditermächtigungen außerhalb der regulären Haushaltsführung zu schaffen, erschien auf der Titelseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Leitartikel, in dem man folgenden Satz lesen konnte:

„Deutschland mobilisiert nun endlich all seine Kräfte und Möglichkeiten, um den schon lange bekannten, zuletzt aber rapide gewachsenen Gefahren für seine Sicherheit und seinen Wohlstand die Stirn zu bieten.“

Die Lyrik des „die Stirn bieten“   über Charakter und Wirkung eines zusätzlichen Schuldenpakets von mindestens 1000 Milliarden Euro hinweg. Die Schulden mobilisieren keineswegs die eigenen Kräfte dieses Landes. Vielmehr werden diese eigenen Kräfte ersetzt durch das Geld auf Pump. Denn das frische Geld, das nun zum Start der neuen Regierung und zu Beginn der parlamentarischen Legislaturperiode so schnell und leicht zur Verfügung steht, erspart die Setzung von Prioritäten und die damit verbundenen Einschnitte, die in Deutschland notwendig sind. Es ist ja offensichtlich, dass im Laufe der vergangenen Jahre die Spielräume und Möglichkeiten Deutschlands nicht größer geworden sind. Ziele und Ansprüche, die unter günstigeren Bedingungen entstanden sind, müssten jetzt eigentlich kritisch überprüft zu werden. Doch die Wende in eine expansive Schuldenpolitik ersetzt diese bittere, aber notwendige Revision. Sie ermöglich zunächst ein Weiter-So. Die Rechnung kommt später und wird um ein Vielfaches höher. Am Ende stellt sich heraus, dass man sich mit der Schulden-Wende nur Zeit gekauft hat – und nicht neue, reale Möglichkeiten eröffnet hat. Das in der FAZ gezeichnete Bild eines Landes, dass mit dem Sprung in eine ganz neue Dimension der Verschuldung „nun endlich all seine Kräfte und Möglichkeiten mobilisiert“, ist abenteuerlich falsch und irreführend.

Die ungeklärte Grundrichtung

Noch liegt der Koalitionsvertrag nicht vor, aber seine Entstehung im Schatten einer Geldschwemme auf Pump und eines extensiven Suchverfahrens in den Koalitionsverhandlungen ist die Grundrichtung der kommenden Regierung nicht geklärt. In 16 Arbeitsgruppen mit jeweils 16 Mitgliedern sollte ein Fahrplan für die Zukunft des Landes entworfen werden. Dazu eine Fünfer-Gruppe zur Frage, wie man in der Koalition zusammenarbeiten will. Als könnte man so die Aufgabe lösen, einen „Politikwechsel“, der doch zweifellos im Sinn des Wählervotums vom 23.Februar war, sicherzustellen. Doch wie sollte das zwischen 256 + 5 Männern und Frauen, die sich nach „Themen“ aufgeteilt haben, gelingen? Der Titel „politische Mitte“ bietet keine Garantie dafür, dass man fähig ist, sich von der liebgewordenen Verteilungspolitik immer neuer Zugewinne zu verabschieden. Niemand scheint fähig zu sein, offen auszusprechen, dass sich in Deutschland die Spielräume in Wirtschaft und Staat drastisch verringert haben. Und dass sie sich weiter verringern werden. In dieser Lage kann ein Koalitionsvertrag des Politikwechsels nur darin bestehen, die Notwendigkeit von harten Begrenzungen und Einschnitten in einige klare Maßnahmen umzusetzen. Und zugleich der Verführung durch scheinbar leichte Auswege eindeutig auszuschließen.     

Doch hier zeigt sich eine prinzipielle Leerstelle: Es fehlt der Politik die staatspolitische Dimension. Sie ist nicht auf die materiellen und geistigen Bestände des Staates ausgerichtet. Wir leben in Schicksalsjahren dieses Landes, und dies Land gibt es ohne ein stabiles Staatswesen gar nicht. Wer Politik nur als „Dienst am Kunden“ versteht, kann die substanziellen Bestände des Staates gar nicht als eigenständiger Gegenstand der Politik begreifen. Und damit werden dann auch die Grenzen der Politik nicht begriffen, die sich ja aus dem Wert dieser Bestände ergeben. Der Staat ist kein Warenkorb voller Gaben, sondern ein Gebäude, dessen dauerhafte Statik und Tragfähigkeit für alle Bürger unverzichtbar ist, und die das Kriterium für jede politische Verantwortung ist. Die nicht zu leugnende Krise des politischen Handelns muss als Staatskrise begriffen werden. .   

Politik am Zahlungsstrom

In früheren Zeiten gehörte es zur politischen Vernunft in Deutschland, vor der verführerischen Leichtigkeit und lähmenden Wirkung des Schulden-Auswegs zu warnen. Es war diese begrenzende Vernunft, die in Finanzkrisen neue Schulden an erbrachte Reformen knüpfte. So wurden hierzulande früher Sparmaßnahmen und härtere Bedingungen für die Gewährung staatlicher Leistungen begründet. Und so trat Deutschland auch gegenüber den „Schuldenländern“ in Europa auf. Nun aber will man von dieser Vernunft nichts mehr wissen. Sie scheint irgendwie „überholt“ zu sein. Es scheint keine festen Maßstäbe mehr zu geben, an denen gemessen werden kann, ob eine Schuldenaufnahme verhältnismäßig oder unverhältnismäßig ist. Nun soll alles irgendwie „dynamisiert“ werden. Alles Feste wird aufgelöst, der neue Leitbegriff ist „Mobilisierung“. Das bedeutet eine grundlegende Änderung der Sphäre des Politischen: Sie positioniert sich jetzt nicht auf festem Grund, sondern an einem Zahlungsstrom. Von seinem Geld-Zufluss ist alle Politik nun abhängig. Es ist eine absolute, fundamentale Abhängigkeit. Die Politik lebt von der Hand in den Mund. Alles muss „auf Sicht gesteuert“ werden. Sie wird zum Spielball der Ereignisse. Und sie muss die Bedrohlichkeit der Ereignisse ständig steigern und zugleich immer neue „Projekte“ als Vorzeichen einer besseren Welt ausrufen – damit das Geld weiter fließt. So wird die Politik am Zahlungsstrom immer mehr zur Politik der „großen Erzählungen“, der sogenannten „Narrative“. Und da diese Politik allen festen Grund und alle Haltepunkte verloren hat, wohnt diesem Treiben eine Logik der Steigerung inne. Es bedarf immer größerer Reizmittel, um zu verhindern, dass der Zahlungsstrom versiegt. Die Politiker sind mehr denn je „Getriebene“. Nichts anderes ist jetzt beim designierten deutschen Bundeskanzler zu beobachten, der – um seine Regierung überhaupt bilden zu können – sein Heil in der Losung „Whatever it takes“ sucht.

Offene Schuldengrenzen sind wie offene Staatsgrenzen

Es ist in diesen Tagen oft vom „Betrug“ die Rede, und das durchaus mit Recht. Die CDU/CSU hat vor den Wahlen den Eindruck erweckt, sie würde die Schuldenbremse verteidigen. Sie hat also den Eindruck erweckt, sie würde ernsthafte Reformschritte unternehmen, um die Verschuldung des Staates zu begrenzen. Doch dann, nach den Wahlen, wurde auf einmal der Weg in eine beispiellose Neuverschuldung, die eine Grundgesetzänderung erforderte, eingeschlagen. Da ist es sicher gerechtfertigt, von einem „Wahlbetrug“ zu reden. Und auch von einer schweren Beschädigung des neugewählten Parlaments: Man ließ die Grundgesetzänderung noch vom alten Parlament beschließen – mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit, die es im neugewählten Parlament nicht mehr gibt.

Doch gibt es, in Meinungsumfragen nach den Schuldenbeschlüssen, einen bemerkenswerten Zwiespalt: Eine Mehrheit der befragten Bürger verurteilt die Wählertäuschung, aber zugleich gibt es eine Mehrheit, die die zusätzliche Schuldenaufnahme befürwortet. Man verurteilt das Vorgehen, aber man befürwortet das Ergebnis. In der Sache gibt es also alles andere als eine klare Verurteilung der Schuldenerhöhung. Hier kann man die Macht sehen, die der unmittelbare Eindruck, dass an vielen Stellen Geld fehlt und dass sich „frisches Geld“ besorgen lässt, ausübt. Das Bild von einem „empörten Volk“, das „selbstherrlichen Machthabern“ gegenübersteht, ist daher ein Trugbild.

Es gibt offenbar eine allgemeinere Schwäche dieser Zeit, die die Bedeutung solider Staatsfinanzen nicht sieht. Anders gesagt: Heutzutage wird unter „soliden Staatsfinanzen“ etwas verstanden, dass nichts mit den eigenen Kräften eines Landes und dem damit aufgebauten Vermögen zu tun hat. Wenn jetzt von „Sondervermögen“ die Rede ist, wird ein trügerisches Wort in Umlauf gesetzt. Es handelt sich ja zunächst um ein rein fiktives „Vermögen“. Es ist völlig offen, aus welchen Erträgen dieser Schuldensprung je zurückgezahlt werden kann. Das „Steuern auf Sicht“, bei dem alles eine Frage von geschicktem „Kredit-Management“ ist, ist keine Antwort. Denn bei einem solchen Management bleiben die Fundamentaldaten des Landes ganz unberührt. Die Kreditwürdigkeit eines Landes wird ja nicht dadurch erhöht, dass man geschickt Mittel aus dem globalen Geldstrom abzuzweigen weiß. Solide Staatsfinanzen sind eine Frage richtiger Verhältnisse im Lande. 

Schuldenpolitik ohne klaren Gegenstand

Das Problem ist nicht allein die Größe der Geldbeträge, die nun als Kredite aufgenommen werden sollen. Die ist schon gefährlich genug. Aber noch gefährlicher ist, dass die Gegenstrände und Zwecke der Neuverschuldung gar nicht präzise definiert und damit begrenzt sind. Was will man für den Haufen Geld, aus dem die „Sondervermögen“ erstmal bestehen, kaufen? Bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass die beiden Großbereiche „Infrastruktur“ und „Rüstungsausgaben“ sehr dehnbare Felder sind. Es gibt gar kein Leistungskriterium, das ein Sanierungsziel bei den Infrastrukturen fassbar und überprüfbar machen könnte. Und noch weniger gibt es einen solchen Zielzustand bei den Rüstungsausgaben, wo man ja nicht mal eine Obergrenze der Schuldenaufnahme gesetzt hat.

Die Verachtung der Autobahnen

In Berlin ist gerade eine „plötzliche Krise“ an einem neuralgischen Punkt der Stadtautobahnen („Funkturm-Dreieck“) ausgebrochen. Eine Brücke war auf einmal akut einsturzgefährdet. Und sofort zeigte sich, wie elementar eine an sich unauffällige und scheinbar selbstverständlich daliegende Infrastruktur ist: Der Westen der Stadt wird nun vom Ausweichverkehr überschwemmt und dieser Zustand wird wohl, mindestens, zwei Jahre andauern. In so einem Moment wird deutlich, welch immense Leistung der Verkehrsbewältigung eine Stadtautobahn täglich erbringt – und wie leicht sie übersehen wird. Das liegt an einer Eigenschaft, die Autobahnen mit anderen Straßen, Bahnstrecken, Kanälen, Kanalisationen, Stromleitungen, Pipelines und anderen materiellen Infrastrukturen teilen: Sie sind „menschenfreundlich“ oder „naturfreundlich“, sie eignen sich nicht direkt zur Erholung oder zum Verzehr, sie sind oft unansehnlich oder liegen sogar unsichtbar unter der Erde. Aber ohne sie wäre Arbeit und Leben nicht möglich. Sie sind eine „Bedingung der Möglichkeit“. Ihre Bedeutung wird erst deutlich, wenn sie plötzlich nicht mehr funktionieren und fehlen. Und da liegt das Problem des „Sondervermögens Infrastruktur“. Man kann ja mit Fug und Recht fragen, warum angesichts des voraussehbaren Verfalls der wichtigsten Berliner Autobahnbrücke nicht viel früher Sanierungen begonnen wurden oder zumindest Ausweichpläne und Ersatzstrukturen erarbeitet wurden. Das liegt offenbar daran, dass diesen Dingen nicht die notwendige Priorität eingeräumt wurden. Stattdessen wurden Unsummen an Geld und Arbeitstagen für Dinge ausgegeben, mit denen die Politik „Bürgerfreundlichkeit“ demonstrieren konnte. Stadtautobahnen, Schienentrassen oder Kanalisationen sind nicht so sexy wie „verkehrsberuhigte“ Zonen, Fahrradwege, Grünflächen und tägliche „Events“ aller Art. In früheren Zeiten, besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen die Infrastrukturen viel stärker im Vordergrund der Politik. Der Staat war Infrastrukturstaat, und Ingenieure hat in den Stadtverwaltungen eine Schlüsselrolle. Das hat sich fundamental geändert. Doch jetzt bekommen wir die Folgen dieser Geringschätzung der Infrastrukturen zu spüren. Das bedeutet aber: Ohne eine Korrektur dieser langen Fehlentwicklung und ohne eine Rückkehr zum Infrastrukturstaat wird es keine nachhaltige Lösung geben. Das bedeutet aber, dass den Infrastrukturen der notwendige Platz im regulären Haushalt von Bund, Ländern und Gemeinden eingeräumt werden muss. Die Lösung durch „Sondervermögen“ umgeht diese Korrektur. Und mehr noch: Wir erleben, wie auf einmal alle möglichen Bildungs-, Sozial-, Grün- und Kultur-Anliegen auf das Geld aus dem Sondervermögen Infrastruktur schielen.           

Der falsche Krieg

Bei dem Sondervermögen „Aufrüstung“ wird der Eindruck erweckt, hier würde tatsächlich eine notwendige Korrektur an der jahrzehntelangen Vernachlässigung militärischer Aufgaben des Staates vorgenommen. Da ist sicher etwas dran, aber es fällt auf, dass diese Korrektur im Namen der „Kriegstüchtigkeit“ erfolgt und dabei eine grenzenlose Vorstellung vom Feind und von den Kriegszielen in Umlauf ist. Die plötzliche Betonung des Militärischen hat etwas Undurchdachtes. Sie folgt einer gefährlich naiven Logik der „Stärke“, die im Grunde staatsfern ist. Wenn man sagt, die Stärke eines Staatswesens misst sich an seiner „Kriegstüchtigkeit“, dann enthält diese Aussage kein Gegengewicht, dass die Destruktivkräfte des Militärischen in Grenzen hält. Es fehlt das Zögern und Abwägen, das ein modern-bürgerliches Staatswesen gegenüber dem Krieg hat. Die Annahme, dass jede Grenzverschiebung im Osten der Ukraine einen russischen Vormarsch nach Westen auslösen würde, ist grenzenlos. Sie beschwört ein absolutes Feindbild. Sie muss auf einen vernichtenden Sieg über Russland setzen – eine Koexistenz mit Russland wird durch dies Feindbild von vornherein ausgeschlossen. Faktisch läuft das darauf hinaus, einen dauernden Kriegszustand an der Ostgrenze der EU herzustellen. Das ist eine verheerende Situation, die jede staatspolitische Vernunft eigentlich unbedingt zu vermeiden sucht. Stattdessen wurde in Deutschland eine Verfassungsänderung beschlossen, um neben dem ordentlichen Haushalt Rüstungskredite ohne Obergrenze aufnehmen zu können. Das ist eine grob fahrlässige und im Ergebnis verheerende Entscheidung.

Gilt das Schulden-Urteil des Bundesverfassungsgerichts noch?

Es ist erstaunlich, dass die Verfassungsänderung bei der Schuldenbremse erfolgte, ohne dass noch einmal das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) vom 15.11.2023 zum Nachtragshaushalt der Ampel-Bundesregierung herangezogen wurde. Das Urteil hatte den Nachtragshaushalt für verfassungswidrig erklärt, weil dorthin 50 Mrd. Euro nicht beanspruchter Sonderkredite (Corona) übertragen worden waren. Das Urteil hatte nicht nur die Übertragung zurückgewiesen, sondern auch die Anforderungen klargestellt, die für die Legalität von Sonderkrediten gelten. Das BVerfG präzisierte, was eine Ausnahmesituation im verfassungsrechtlichen Sinn ist. In einem Artikel des Wirtschaftsprofessor Lars Feld („Finanzpolitik nach dem Verfassungsurteil“, in der FAZ vom 21.11.2023) heißt es dazu in Anlehnung an den Wortlaut des Urteils: „In einer Ausnahmesituation, im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, darf sich der Bund höher verschulden, als es die zuvor skizierte Normallage erlaubt.“ Demnach lässt sich nicht jede Beeinträchtigung der Wirtschaftsabläufe als außergewöhnliche Notsituation im Sinne des Artikels 115, Absatz 2 interpretieren. Die Folgen von Krisen, die „lange absehbar waren oder gar von der öffentlichen Hand verursacht worden sind“, dürfen nicht mit Notkrediten gemildert oder behoben werden. Der Autor zog (mit Ausrufezeichen) die Schlussfolgerung:

„Die Klimakrise ist somit keine Krise im Sinne des Art.115 Abs.2 Satz 6 GG!“

Bei den Anforderungen der Karlsruher Richter ging es auch um die „fortdauernde Geeignetheit“ der Krisen-Maßnahmen, die mit den Sonderkrediten finanziert werden sollen. Ich zitiere hier aus der Kurzfassung des Urteils: 

„Je länger die diagnostizierte Krise anhält und je umfangreicher der Gesetzgeber notlagenbedingte Kredite in Anspruch genommen hat, desto detaillierter hat er die Gründe für das Fortbestehen der Krise und die aus seiner Sicht fortdauernde Geeignetheit der von ihm geplanten Maßnahmen zur Krisenbewältigung aufzuführen. Er muss insbesondere darlegen, ob die von ihm in der Vergangenheit zur Überwindung der Notlage ergriffenen Maßnahmen tragfähig waren und ob er hieraus Schlüsse für die Geeignetheit künftiger Maßnahmen gezogen hat.“

Bei der Klimapolitik und dem Ziel der Klimaneutralität, das jetzt in den Sonderschulden „Infrastruktur“ wieder auftaucht, geht es demnach nicht nur darum, wie groß das Klimaproblem eingeschätzt wird. Selbst wenn man von einer größeren Klimakrise ausgeht, erledigt sich dadurch nicht die Frage, ob die Strategie und die daraus folgenden Maßnahmen, die mit dem zusätzlichen Geld auf Pump finanziert werden sollen, einen zielführenden (oder überhaupt nennenswerten) Effekt haben. Wenn das BVerfG-Urteil das Kriterium der „Geeignetheit“ hervorhebt, betrifft das also die sogenannte „CO2-Strategie“, das Kernstück der deutschen Klimapolitik.

Ebenso geht es natürlich auch um die Sonderschulden „Aufrüstung“ und die fortdauernde Geeignetheit angesichts der Entwicklung in der Ukraine und der Veränderungen in der weltpolitischen Konstellation.

Wer Vertrauen wiedergewinnen will, muss die Statik des Staates wiederherstellen

An diesem Punkt wird die Leerstelle deutlich, die sich jetzt in Deutschland – und nicht nur hierzulande – bemerkbar macht. Dem Land fehlt es nicht an irgendeiner neuen „Mobilisierung“. Es fehlt an festen – materiellen und geistigen – Vermögensbeständen, die der Allgemeinheit der Bürger gehören und die dies Land zum festen Halt für sie machen. In der Politik fehlt es an einer dauerhaften, tragfähigen Grundlage, die im ständigen Wechsel der Ereignisse aufrechterhalten werden kann. Ist auf sie Verlass, kann Vertrauen entstehen. Denn Vertrauen hängt nicht nur von der subjektiven Einstellung ab, sondern braucht die Festigkeit einer objektiven Struktur. Da ist die Leerstelle, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten in Deutschland immer größer geworden ist. Die Statik unseres Staatswesens muss wiederhergestellt werden.

Jenseits jeder Staatsräson 

Die gigantische Neuverschuldung bedeutet eine schwere Hypothek für die nun beginnende Legislaturperiode. Die neue Regierungsdevise „Whatever it takes“ ist so grenzenlos, dass sie die Grundlagen eines souveränen Landes angreift.    

Jenseits jeder Staatsräson 

18. März 2025

Vor den Februarwahlen gab es in Deutschland ein verbreitetes Gefühl, dass „etwas nicht stimmt“ im Land, und dass es kein „Weiter-So“ geben könne. Das war gewiss kein ganz klares und sicheres Urteil, aber es reichte, damit sich viele Politiker im Wahlkampf genötigt sahen, einen „Politikwechsel“ zu versprechen. Sie erweckten den Eindruck, dass nun Fehlentscheidungen korrigiert würden und sich mehr Realismus in der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik durchsetzen würde. Doch dann geschah etwas ganz Anderes. Etwas genau Entgegengesetztes: Eine künftige Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD will die kommende Legislaturperiode von 2025 bis 2029 auf der Grundlage einer gigantischen Neuverschuldung des Staates bewältigen. Konnte man gerade noch hoffen, dass die kritische Lage des Landes zu einer begrenzenden Vernunft führen würde, wurden nun alle Grenzen staatlichen Handelns „geldpolitisch“ noch weiter aufgeweicht. Für diesen Mechanismus der Aufweichung steht die Devise „Whatever it takes“, die der italienische Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Draghi, ausgab, um die Schuldenkrise vieler Länder zu überwinden. Die Devise des „Koste es, was es wolle – wir tun es“ bedeutete, dass die EZB gigantische Garantiesummen aufbot, um die Schuldenstaaten zu „retten“. Und so geschah es. Allerdings hat diese „Rettung“ bis heute nicht dazu geführt, dass diese Länder ihre strukturellen Defizite überwunden haben. Und ausgerechnet diese großtönende Devise, die die tieferen Probleme eines Landes nur mit Geld zuschüttet, soll nun über den kommenden fünf Jahren die Führung der Staatsdinge in Deutschland bestimmen.

Das kann man – mit Fug und Recht – als eine der größten Wählertäuschungen in der Geschichte der Bundesrepublik bezeichnen. Aber die Betrugs-Anklage bringt noch keine Klarheit über das, was Deutschland in der gegenwärtigen Situation fehlt. Es geht um die Aufgaben, die ein Staatswesen in einem modernen Land lösen muss, und die nur ein Staatswesen lösen kann. Um die Aufgaben, die nicht „dem Markt“ und auch nicht „der Gesellschaft“ überlassen werden können. Da liegt die wahre Dimension der jetzigen politischen Krise: Sie ist eine Krise des Staates. Es fehlt die Vernunft, die sich aus der Eigenart und den Beständen des Staates ergibt – die Staatsräson.    

Über die Vernunft des Staates

Wenn von „Staatsräson“ die Rede ist, wird das häufig mit blindem Gehorsam (im Sinne von „jemanden zur Räson bringen“) verbunden. Aber es geht nicht um eine Herrschaft von Menschen über Menschen. Die Autorität, die der moderne Staat geltend macht, liegt in der Sache, dem Land und dem damit verbundenen Amt. Es geht um eine Allgemeinheit von Rechten und Pflichten. Eine solche Allgemeinheit kann nicht den ganzen Wohlstand oder das „ganze Leben“ bestimmen, sondern nur die sachlichen und geistigen Gemeingüter. Mit der Differenzierung der individuellen Güter haben die Gemeingüter nicht an Bedeutung eingebüßt, sondern haben sich in modernen Zeiten ihrerseits weiterentwickelt. Sie haben tragende „Infrastrukturen“ gebildet, deren ständige Erhaltung und Weiterentwicklung ein prägendes Merkmal und ein kritischer Maßstab für das politische Handeln ist. Der moderne Staat ist „stehender“ Staat und „Bestände“-Staat. Er verfügt nicht nur im personalen Sinn über einen millionenstarken „öffentlichen Dienst“, sondern auch im sachlichen Sinn über immense materielle und geistige Bestände. Darin ähnelt der Staat den modernen Unternehmen, aber er unterscheidet sich von ihnen dadurch, dass er nicht auf Wertschöpfung, sondern auf die Bedingung der Möglichkeit von Wertschöpfung gerichtet ist. Seine Leistung liegt weniger eine Produktionsleistung als eine Tragleistung. Von daher bekommt der Begriff „Infrastrukturen“ seinen Sinn. Nur in diesem spezifischen Sinn kann man dann davon sprechen, dass der Staat ein „ganzheitliches“ Interesse vertritt. Aber es ist eine gegliederte Ganzheitlichkeit, wenn man die unterschiedlichen Ebenen Staates – Bund, Länder, Gemeinden – mit ihren unterschiedlichen Größenordnungen und Zuständigkeiten berücksichtigt. Auf dem Feld des „Ganzen“ steht nicht alles von vornherein fest. Auch hier gibt es Versuch und Irrtum („try and error“). Der politische Prozess ist – wie der Markt-Prozess – ein Suchverfahren. Die staatliche Vernunft ist also ein durchaus komplexes Gebilde. Wie die unternehmerische Vernunft in der Marktsphäre vieles zu erwägen hat – hat in der politischen Sphäre die Staatsräson viel zu tun: Sie muss die Gegebenheiten und Möglichkeiten in ihrem ständigen Wandel beobachten, sie muss das richtige Maß für ihr Handeln finden und die Aufstellung des Staates immer wieder anpassen.

Über die Vernunft des Staates (II)

Dabei regiert ein wichtiges Prinzip: Ein Staatswesen muss die Gemeingüter und Infrastrukturen aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln erhalten und weiterentwickeln. Diese Mittel gewinnt es aus den Steuern und Entgelten der Bürger, die aber nicht Zwangstribute an „die Mächtigen“ sind, sondern auf dem eigenen Beitrag beruht, den der Staat zur Leistungsfähigkeit des Landes einbringt. Ein Staatswesen muss nicht die unternehmerische Produktivität haben, aber es muss etwas leisten, das zur Produktivität der Unternehmen und zur Lebensführung der Haushalte etwas Grundlegendes und Dauerhaftes beiträgt. Deshalb ist ein Grundgebot der Staatsräson, dass die Finanzierung der Staatsausgaben nicht dauerhaft außerhalb des regulären Staatshaushalts erfolgen darf. Eine Finanzierung durch Sonderschulden ist keine Lösung, sondern führt nur zu einer späteren erhöhten Rechnung. Sie führt also zu einer Notlage, in der die Bürger zu Zwangstributen herangezogen werden. Sonderschulden dürfen daher nur eingegangen werden, wenn nachweislich und greifbar eine so starke Prosperität in Aussicht steht, dass aus ihr die Sonderschulden beglichen werden können. Mit „gutem Willen“ und „Zuversicht“ sind die Anforderungen der Staatsräson nicht zu erfüllen. An dieser Stelle wird sichtbar, warum es so wichtig ist, die substanziellen Bestände, aus denen der moderne Staat besteht, zu erkennen und zu schützen. Mit diesen Beständen steht und fällt die Staatsräson eines modernen Staates. Und damit steht und fällt auch die Souveränität eines modernen Landes. An dieser Front muss sie verteidigt werden.

Über die Vernunft des Staates (III)

An diesem Punkt zeigt sich auch, wie grundlegend die Beachtung von Grenzen für die Staatsräson ist. Das sind zum einen die inneren Grenzen. Der Staat kann und darf sich nicht mit allen Angelegenheiten der Bürger befassen. Er muss die Lösung vieler Probleme der Eigenverantwortung der Unternehmen und der Bürgerhaushalte überlassen. Zugleich muss die Staatsräson auch deutlich zwischen den inneren und den äußeren Angelegenheiten eines Landes unterscheiden. Das gilt sowohl für militärische oder zivile Interventionen im Ausland als auch für die Aufnahme von Migranten oder die Übertragung von Gemeingütern in fremde Hände. Was aus weltbürgerlicher Perspektive berechtigt erscheinen kann, muss aus Gründen der Staatsräson begrenzt und oft sogar ausgeschlossen werden. An dieser Stelle wird deutlich: Wer nicht von Grenzen sprechen will, gibt verlässt den festen Boden der Staatsräson. Er verwickelt das Land in alle möglichen – inneren und äußeren – Abhängigkeiten. Er macht es zum Spielball der Ereignisse. Und er macht die politisch Verantwortlichen zu „Getriebenen“ von wuchernden Ansprüchen und Einflüssen.    

Wohin das „Whatever it takes“ führt

So sind wir nun an den Punkt des „Koste es, was es wolle“ gekommen. Aber die Konsequenzen werden noch unterschätzt. Für den beschlossenen gigantischen Schuldensprung müssen ab sofort und dann Jahr für Jahr Kreditgeber gefunden werden (zum Beispiel als Käufer von Bundesanleihen). Diese Schulden müssen bedient werden: Jedes Jahr muss (beim gegenwärtigen Zinsniveau) ein Zins von fast 3 Prozent an die Käufer überwiesen werden. Und diese Zahlung muss aus dem Staatshaushalt bestritten werden. Am Ende der Laufzeit ist dann die Rückzahlung des Gesamtkredits fällig, und sie muss ebenfalls aus dem Bundeshaushalt bestritten werden. Wird das erst problematisch „für unsere Kinder“, wie man hier und da lesen kann? Oh, nein, es wird schon für unsere Ersparnisse kritisch. Denn wo sollen die zusätzlichen Erträge und Einkommen herkommen, aus denen die Kredite in Höhe von knapp 1000 Milliarden erst bedient und dann zurückgezahlt werden? Sollen sie aus der Ukraine oder aus russischen Reparationen kommen? Sollen sie aus den erneuerten normalen Brücken und Bahngleisen kommen? Aus der teuren „erneuerbaren“ Energie? Oder gar aus den Elektroautos und Wärmepumpen? Das ist ja das hässliche Geheimnis hinter der so mächtig klingenden Ankündigung von „Zukunftsinvestitionen“ und dem „Europa muss es selber stemmen“ im Ukraine-Krieg: Dort warten gar keine zusätzlichen Ertragsquellen und sprunghafte Effizienzsteigerungen, aus denen die gigantische Neuverschuldung gegenfinanziert werden könnte. Wie kann man sich auf der einen Seite ständig auf extreme „Notlagen“ berufen – mit einem angeblich drohenden russischen Angriff auf Europa und mit einer angeblich drohenden Überhitzung des Planeten – und auf der anderen Seite die Lösung einfach mit Geld auf Pump kaufen wollen? Die Abwehr von Notlagen zahlt keine Zinsen. Bei diesem sogenannten „Befreiungsschlag“ handelt es sich weder um wirkliche Investitionen noch um eine Vermögensbildung, sondern um eine zusätzliche Belastung der jetzt noch bestehenden Vermögen. Das „Whatever it takes“ steht über dem Tor zu einer großen Vermögensvernichtung in Deutschland.

Nur die Rückkehr zur Staatsräson führt da heraus

Das Prinzip „Whatever it takes” ist das direkte Gegenteil jeglicher Staatsräson. Das „Koste es, was es wolle“ besteht ja darin, von absoluten „Aufgaben“ auszugehen, bei denen man keinen Gedanken darauf verwenden darf, ob diese Aufgaben eventuell sinnlos und ruinös sind. Genau an diesem Punkt kann und muss eine Wende ansetzen – indem dies Land endlich damit beginnt, die Aufgaben kritisch zu betrachten und sich aus ihnen zurückzuziehen. Das aber kann nur geschehen, wenn man sich positiv auf die Sichtweisen und Anforderungen bezieht, die die Substanz und die Vernunft eines modernen Staatswesens ausmachen. Es reicht ganz offensichtlich nicht, hier nur subjektive „Werthaltungen“ oder „Identitäten“ ins Feld zu führen. Deutschland braucht die objektive Autorität einer Staatsräson.

VW – Die Rekonstruktionsaufgabe

Die Überdehnungskrise des größten deutschen Autobauers kann nur mit einer eindeutig defensiveren Grundaufstellung überwunden werden.
(Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft, Teil III)

VW – Die Rekonstruktionsaufgabe

09. Februar 2025

Die Aufgabe, vor der das Unternehmen Volkswagen steht – und vor der im Grund auch die deutsche Wirtschaft steht – ist anders und schwieriger als die Aufgabe, die sich in einer Strukturwandels-Krise stellt. Bei so einer Krise weiß man, dass nach schmerzhaften Eingriffen ein sicheres neues Ufer schon da ist. Doch im Fall der Autoindustrie gibt es kein sicheres Ufer namens „Elektro-Automobilität“. Und auch das Ufer „Globalisierung“ bietet heute nicht mehr einen konkurrenzlosen Vorsprung und hohe Erträge für die etablierten Automobilhersteller. Die Grundaufstellung, die bisher diese beiden Positionen setzte, erweist sich nun als nicht mehr haltbar. So steht eine schwierige Entscheidung an: Es muss ein strategischer Rückzug angetreten werden.
Allzu sorglose Grundentscheidungen müssen ausdrücklich als Fehlentscheidungen revidiert werden. Ein Teil der Investitionen – in Technologien und in Auslandsstandorte – muss abgeschrieben werden. Das ist auch moralisch schwierig, da der bisherige Kurs ja als kühne Vorwärtsbewegung verstanden und legitimiert wurde. Da erscheint ein Rückzug erstmal als Niederlage und schmähliche Schwäche. Deshalb ist die Neigung groß, einen solchen Rückzug weit von sich zu weisen. Oder ihn immer wieder hinauszuzögern. Und doch gibt es auch die Erfahrung, dass die Unfähigkeit zu einem rechtzeitigen Rückzug zu unvergleichlich größeren Opfern führt. Zu größeren materiellen Opfern und zu größeren moralischen Opfern wegen der Entscheidungsschwäche. So ist es oft doch von Vorteil, wenn man rechtzeitig eine defensivere Aufstellung gewählt hat. um wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.

Der Mut zum Rückzug

Wenn eine Überdehnungskrise vorliegt, ist der Vorwurf an die Führung eines Unternehmens, sie habe „den Wandel verschlafen“, fehl am Platze. Er übt Druck in die falsche Richtung aus. Er treibt die Dinge nur weiter in die falsche Richtung und führt dazu, dass weitere Anstrengungen und Investitionen auf einem Kurs versenkt werden, der zu keinem tragfähigen Neuland führt. Man zeichnet das falsche Bild einer Automobilindustrie, die sich in einer „Übergangsituation“ befinde, die es nur zu „überbrücken“ gelte, damit dann wieder goldene Zeiten anbrechen. Aber die „Brücke“, für die jetzt eine letzte siegbringende „Anstrengung“ gefordert wird, führt ins Leere. Und irgendwann werden diejenigen, die jetzt gegen die „Schwarzmalerei“ zu Felde ziehen, dem Publikum verkünden müssen, dass der große Transformations-Feldzug doch verloren ist. Ja, manches in Deutschland erinnert, wie der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe richtig schreibt, an die letzten Jahre der DDR. Und manches sollte vielleicht sogar an das jähe Ende von 1918 erinnern, dem bekanntlich auch eine große, angeblich „siegbringende“ Offensive vorausging. Die deutsche Geschichte bietet gute Gründe, frühzeitiger als in der Vergangenheit auf Krisenzeichen zu reagieren, die einen eingeschlagenen Kurs fragwürdig machen.
Aber es geht natürlich nicht um einen absoluten „totalen“ Rückzug – etwa in dem Sinn, sich von positiven Erträgen und großer Industrie zu verabschieden, wie es jetzt die Vertreter eines „negativen Wachstums“ predigen. Es geht darum, das richtige Maß des Rückzugs zu finden. Wenn man aus einer Sackgasse herauskommen will, muss man zurückfahren. Und man muss den Punkt finden, wo man gewissermaßen falsch abgebogen ist. Mit Mut allein ist es nicht getan, sondern es ist auch die unternehmerische Vernunft gefragt. Eine defensivere, konservativere Aufstellung findet man nicht, wenn man hinter die industrielle Moderne zurückfährt. Auch nicht, wenn man sich „Industrie“ mit den Bildern des 19. Jahrhunderts vorstellt. Die Automobilindustrie kann anknüpfen an die unternehmerische Vernunft, wie sie in den ersten 30 Jahren der Bundesrepublik erfolgreich war. Und wie sie ihre Erfolge auf vielen Gebieten noch bis in die 2000er Jahre verlängert hat.
Allerdings gab es damals auch schon Tendenzen, in denen sich die heutige Misere andeutete und die als Vorgeschichte der Überdehnung angesehen werden können. Man denke an das „Upgrading“ der Modelle. Der „Golf“ wurde schon zu Verbrenner-Zeiten immer aufwendiger konzipiert und ausgestattet. Er wurde auch immer teurer. Schon in den 90er Jahren wurde er mehr und mehr Fahrzeug der gehobenen Mittelklasse. Jener Klasse, die in dieser Zeit als „Neue Mitte“ durch Politik und Medien geisterte. Es ging um die Bildungsaufsteiger, mit Abitur und Hochschulabschlüssen. Die Facharbeiter als „Ecklohngruppen“ in der Industrie waren damit nicht gemeint.
Eine andere Aufstellung müsste die Verteidigung des Massenverkehrsmittels „Automobil“ zu ihrem strategischen Hauptziel machen. Die Herstellung dieses Massenverkehrsmittels hat VW groß gemacht. Solange dies Ziel galt, war VW in der Lage, seine Investitionen aus eigenen Mitteln zu investieren, wie der Vorstandvorsitzende Blume richtigerweise als unternehmerischen Grundsatz festhält. Wenn man Fahrzeuge bauen will, die für eine breite Mehrheit erschwinglich sind, muss man also wieder zurückkehren zur erprobten, hochentwickelten und massentauglichen Technologie der Verbrenner-Antriebe. Das müsste eindeutig als das Standbein festgelegt sein, was andere Antriebe und Fahrzeugtypen – als Spielbein – nicht ausschließt.
Und auch die „Chinastrategie“, die davon ausging, dass VW durch die globale Verlagerung von Produktions-Standorten in starke Wachstums-Länder eine neue Existenz als Weltkonzern aufbauen kann, war bei Eintritt in die 2000er Jahre schon in Ansätzen da. Die neueren Verschiebungen auf dem Weltmarkt zeigen nun, dass für einen so großen Außenbeitrag zum Unternehmensertrag die Zeiten vorbei sind. VW hat in starken Wachstumsländern wie China keinen großen Vorsprung mehr. Das muss dazu führen, das Verhältnis von Binnenmarkt und Weltmarkt defensiver zu bestimmen: Die Binnenstandorte in Deutschland und Europa müssen das Standbein sein.

Die Rekonstruktionsaufgabe

Das bedeutet, dass man sich eine Wende der Lage nicht einfach als großen „Ruck“ vorstellen sollte, sondern als einen längeren Prozess der Rückverschiebung. Es geht um die Rehabilitierung einfacherer, erschwinglicherer Fahrzeuge. Und um die Rehabilitierung der Fertigung in Deutschland. Notwendig ist dabei nicht ein vollständiger Abschied von E-Mobilität und Auslandsfertigung, sondern ein Wechsel zwischen Standbein und Spielbein. Es geht also um eine Rückverschiebung des Unternehmens zu den Standbeinen, die über viele Jahrzehnte immer wieder fähig waren, sich an Veränderungen maßvoll anzupassen. Nur durch eine Rückverschiebung auf das Standbein des herkömmlichen Fahrzeugbaus mit Verbrennungsmotor und auf das Standbein der Inlands-Fertigung kann man das Maß der Änderungen finden, die für eine „Bodenbildung“ in der aktuellen VW-Krise notwendig sind.
Und es geht noch um eine dritte Rückverschiebung: Die Überdehnung von VW war mit einer Verschiebung der sozialen Verhältnisse und Beziehungen im Unternehmen verbunden: eine neue „gehobene Mitte“, die weder den Unternehmerstandpunkt, noch den Belegschaftsstandpunkt einnahm, wuchs überproportional und schob sich in eine Schlüsselposition. Hingegen wurde der Aufstieg von VW und etliche Jahrzehnte mit hohem Leistungsstandard und gelungener Weiterentwicklung des Fahrzeug-Angebots in der Dualität von Unternehmer-Seite und Belegschafts-Seite vollbracht. Die Grundlage für diese Erfolgsgeschichte war die Tatsache, dass beide Seiten – trotz ihrer Gegensätzlichkeit – eine starke Bindung zum Unternehmen hatten. Das Milieu der „neuen Mitte“ hat diese Bindung nicht, und ist so eine ständige Quelle von Überdehnungen der Unternehmensaufstellung. Hier muss eine Rückverschiebung auf den Dualismus zwischen Unternehmerseite und Belegschaftsseite stattfinden.

Diese drei Rückverschiebungen sind die Grundlage für die Lösung der Rekonstruktionsaufgabe, die sich angesichts Misere der deutschen Wirtschaft stellt. „Rekonstruktion“ ist ein Aufbau, der an älteren Entwicklungswegen und Errungenschaften anknüpft, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte abgebrochen wurden. Dabei geht es wohl um eine moderne Dynamik, aber um eine kontinuierliche Dynamik. „Rekonstruktion“ ist keine Nostalgie für mythische „alten Zustände“. Aber sie wendet sich auch gegen einen anderen Mythos: den Mythos, wir wären in ein ganz neues Zeitalter eingetreten. Der Mythos, dass wir alle Brücken hinter uns verbrennen könnten. Das ist die Vorstellung, die mit dem Wortvorsatz „post“ („nach“) transportiert wird: „postindustriell“, „postkolonial“. „postmodern“… Es ist viel zutreffender, wenn wir die Vorstellung einer großen, vor einigen Jahrhunderten gerade erst angebrochenen „Neuzeit“ oder „Moderne“ beibehalten. Die Misere unserer Gegenwart könnte und sollte dann als eine vorübergehende Verirrung in einigen Ländern und Weltregionen verstanden werden. Es ist dann auch keine Verirrung auf Grund irgendeiner „Rückständigkeit“, sondern eine Verirrung, die in fortgeschrittenen Ländern stattfindet, die sich aufgrund ihrer Erfolge in einer täuschenden Machbarkeit der Welt und Leichtigkeit des Daseins besteht. Eine Machbarkeit und Leichtigkeit, die weder der Industrie noch der Moderne insgesamt zu eigen ist. Die Krise ist keine Krise der Moderne, sondern eine Krise des Versuchs, die Moderne durch eine „große Transformation“ zu überwinden und einfach mal eben eine ganze neue Ära aus der Taufe zu heben. Welch naiver Glaube hier am Werk ist, zeigt sich darin, dass nun schon nach relativ kurzer Zeit die Rechnungen der „ganz neuen Ära“ nicht aufgehen.

Die Rekonstruktionsaufgabe können wir nur verstehen, wenn wir uns im Denken und Handeln von der Vorstellung immer neuer „Zeitenwenden“ verabschieden. Und
wenn wir stattdessen die Stetigkeit des (komplexeren und langsameren) Fortschreitens der klassischen Moderne wieder aufnehmen und weiterführen. In diesem Sinn geht es um eine Rehabilitierung der unternehmerischen Vernunft.
Das Bild, das den Unternehmer als eine moderne Heldenfigur zeichnet, führt leicht in die Irre. Seine Bewährung besteht nicht nur in besonders kühnen Projekten und bahnbrechenden Erfindungen. Es gibt auch kein höheres Gesetz, das jedes Unternehmen zur Orientierung auf „Hightech“ zwingt. Ebenso wenig bestehen die „modernen Zeiten“ in einem monotonen „Vorwärts, Vorwärts!“. Eher geht es um Tempowechsel. Längere Perioden des langsamen Fortschreitens in kleinen Schritten gehören auch dazu, sogar Perioden der Stagnation. Technologische Sprünge, die ganze neue Basis-Technologien hervorbringen, sind eher die Ausnahme als die Regel. Solche Sprünge können auch nicht durch „Forschungspolitik“ künstlich erzeugt werden. Die gegenständliche Welt gibt Entdeckungen und Entwicklungen nicht dann frei, wenn die Menschen es wollen. Deshalb besteht die unternehmerische Vernunft darin, dass sie diese objektive Sperrigkeit der Welt akzeptiert. Daraus folgt die Aufgabe, den Stand der technischen Entwicklung ständig sorgfältig und ergebnisoffen zu prüfen.
In dieser Hinsicht ist die Diagnose, die der österreichische Ökonom Joseph A. Schumpeter zur Krise von 1929 gestellt hat, interessant. Schumpeter, dessen Beitrag eigentlich vor allem mit der „produktiven Zerstörung“ in Verbindung gebracht wird, sah die Krise von 1929 als Resultat einer „Überschätzung“: Es sprach von „übertriebenen Gewinnerwartungen“ während der zweiten industriellen Revolution in den 1920er Jahren. Diese Gewinnerwartungen hätten die allgemeine Risikobereitschaft so gesteigert, dass viele Investments auf großen Schulden basierten. Schumpeter weist also auf die Bedeutung einer realistischen Einschätzung von technologischen Entwicklungen hin.
Doch eine solche realistische Einschätzung liegt für die Antriebstechnologie im Fahrzeugbau nicht vor – nicht von VW oder anderen Automobilunternehmen, nicht von Deutschland, Europa oder anderen Weltregionen. Es gibt nicht einmal eine fundierte Debatte zwischen unterschiedlichen Einschätzungen. Sie wird ersetzt durch Begriffe wie „Zuversicht“, die das Fehlen einer belastbaren Einschätzung überspielen. Es ist daher falsch, auf einer so schwachen Grundlage für die E-Mobilität pauschal das Zertifikat „Zukunftsinvestitionen“ auszustellen, und in ihrem Namen die gesamte herkömmliche Technologie zum alten Eisen zu werfen.

Der VW-Sanierungsplan verfehlt die Rekonstruktionsaufgabe

In dem bereits zitierten FAZ-Interview mit dem VW-Chef Oliver Blume fragen die Journalisten nach den Veränderungen, die Blume vom Wirtschaftsstandort Deutschland erwartet:
„Zunächst einmal müssen wir unsere eigenen Hausaufgaben machen. Gleichzeitig muss das Wirtschaftsmodell Deutschland adjustiert werden. Unsere Industrie hat lange davon gelebt, dass wir hier hervorragende Produkte entwickeln und produzieren, um sie in die ganze Welt zu liefern. Jetzt sehen wir geopolitische Verschiebungen und Protektionismus. Und technische Regulierungen, die sich global stark auseinanderentwickeln.“
Das berührt sehr wohl die kritischen Punkte, aber es bleibt merkwürdig vage. Es herrscht eine merkwürdige Zweiteilung: auf der einen Seite „die Hausaufgaben“ (die Blume erledigen will) und auf der anderen Seite eine „Adjustierung“ des deutschen Wirtschaftsmodells (die nicht präzisiert wird). Hat der Chef des größten deutschen Autobauers nicht ein gewichtiges und vor allem konkretes Wort zu den notwendigen Veränderungen dieses Wirtschaftsmodells zu sagen? Kann er seine Aufgaben bei VW überhaupt erfüllen, solange sie ganz wesentlich von einem Wirtschaftsmodell vorgegeben werden, das gar keinen Raum für die unternehmerische Vernunft lässt? Und kurz darauf gleitet er in eine platte „Aufbruchs“-Rhetorik ab, auf die er als Unternehmer gerade nicht ausweichen darf:
„Deutschland braucht einen Aufbruch – weg vom Standstreifen zurück auf die Überholspur. Wichtig sind zum Beispiel: geringere Abgaben, Abbau bürokratischer Hürden, bezahlbare Energie, Sicherheit bei Förderzusagen. Das wäre im Sinne von Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätzen und künftigem Wohlstand.“
Das ist keine Liste präziser Maßnahmen, die jetzt in diesem Land für das Weiterbestehen der Automobilindustrie unabdingbar sind. Sie werden kaum in der Lage sein, verlorenes Vertrauen wiederherzustellen.
Auch die Neuaufstellungen, die Blume vom Sanierungsprogramm bei VW berichtet, wirken merkwürdig unentschlossen. Man will kein Ziel streichen, und auf dieser Basis das beseitigen, was Kunden bisher vom E-Mobil-Kauf abhielt. VW will preisgünstigere E-Automobile anbieten. Es sollen wieder stärker hybride Fahrzeuge (Mischformen von E-Motoren und Verbrenner-Motoren) angeboten, um den Reichweiten-Problemen entgegenzuwirken. Die Probleme bei der Batterie-Produktion sieht Blume als kurzfristig lösbar an. Zu den Problemen in China macht der VW-Chef eine sehr forsche Aussage: „In China liegen noch ein zwei schwierige Jahre vor uns. Es wird zu Kapazitätsanpassungen kommen.“ Aber dann: „Wir haben alle Möglichkeiten, um in China auch in Zukunft erfolgreich zu sein – mit lokaler Entwicklungskompetenz, mit auf die lokalen Kundenwünsche angepassten Fahrzeugen und mit wettbewerbsfähigen Kosten.“ Aber ist es nicht gerade China, das all die „lokalen“ Produktionen, die es selber meistert, auch in die eigenen Hände zu überführen? Und was die technologische Zukunft des Automobilbaus betrifft, erneuert der VW-Chef seine einseitige Festlegung: „Die grundsätzliche strategische Richtung hin zur E-Mobilität ist klar.“ Eine forsche Ansage machte auch der Markenchef der Volkswagen AG, Thomas Schäfer, in der Bild am Sonntag: „Wir wollen auch im Elektrozeitalter die Nummer eins in Europa sein – mit mindestens drei VWs im Top-zehn-Ranking der EU.“
Man kann schon jetzt prognostizieren, dass diese forschen Zukunftserklärungen als bloße Stimmungsmache und grobe Verletzung der unternehmerischen Vantwortungt scheitern werden. Auf jeden Fall wird auf dieser Grundlage kein großes Automobilunternehmen mit hohen Absatzzahlen für ein breites Publikum wiederhergestellt werden. Vertrauen von Kunden, Belegschaft und Investoren wird durch diese Unentschiedenheit und Unübersichtlichkeit nicht zu gewinnen sein. VW hat sich nur etwas Zeit gekauft. Aber diese Zeit könnte bald schon abgelaufen sein.

Eine EU-Verordnung, die sich nun als ruinös erweist

Am 11.10.2024 berichtet die FAZ von einem gemeinsamen Positionspapier der Wirtschaftsminister der Bundesländer Niedersachsen, Hessen, Sachsen, Berlin (alle SPD), in dem sie die Bundesregierung und die EU-Kommission auffordern, „die geltende abrupte Absenkung der CO2-Flottengrenzwerte durch eine flexible Absenkung zu ersetzen“. Ein Überschreiten der Grenzwerte, deren Verschärfung für das Jahr 2025 festgelegt ist, werde milliardenschwere Strafen nach sich ziehen, die nötige Investitionen erschwere. Der europäische Automobilverband ACEA hatte schon im September kurzfristige Erleichterungen gefordert, weil ansonsten Strafzahlungen von bis zu 15 Milliarden Euro drohen. Eine Überprüfung der Flottengrenzwerte durch eine Expertenkommission, die die EU-Kommission für 2025 in Aussicht gestellt hatte, komme zu spät. Das Positionspapier der SPD-Wirtschaftsminister (es ist in der FAZ vom 14.10.2024 abgedruckt) weist darauf hin, dass die Berechnung auf Basis der Gesamtflotte eines Herstellers die traditionellen Automobil-Hersteller gravierend benachteilige, die bisher die Kunden mit Verbrenner-Automobilen versorgen und dafür große Belegschaften haben. Neugegründete, reine E-Mobil-Hersteller, mit viele weniger Beschäftigten seien nicht betroffen.
Der FAZ-Artikel berichtete von mehreren Treffen zwischen der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und den Chefs verschiedener Automobilkonzerne. Und er berichtete, dass die Kommission an den Flotten-Grenzwerten und Strafen für 2025 festhielt. Begründet wurde dies damit, dass die CO2-Ziele für 2025 schon 2019 vom Europaparlament und vom EU-Ministerrat verabschiedet wurden. Die Branche hätte mithin genügend Zeit gehabt, sich auf die gesetzten Ziele vorzubereiten. Damit wurde behauptet, dass alles erfüllbar sei, wenn man sich nur rechtzeitig anstrengt. Das war eine dreiste Schuld-Zuweisung seitens der EU-Kommission. Denn inzwischen war längst klar, dass die damaligen EU-Grenzwert-Beschlüsse auf völlig illusorischen Einschätzungen beruhten: Man ging von einem boomenden Markt für E-Automobile aus. In Wirklichkeit war dieser Markt im Herbst 2024 schon seit längerer Zeit dramatisch rückläufig. Die Flotten-Grenzwert-Beschlüsse gingen auch davon aus, dass die europäischen Autobauer bei der E-Mobilität große Exporterfolge erzielen würden. In Wirklichkeit waren inzwischen längst chinesische Hersteller weltweit auf dem Vormarsch. Angesichts dieser Lage wäre die Reduktion der CO2-Flottenemission, die notwendig wäre, um die EU-Grenzwerte für das Jahr 2025 einzuhalten und Strafzahlungen zu vermeiden, unerreichbar – es sei denn, die Autounternehmen würden einen Großteil ihrer Verbrenner-Fahrzeuge aus ihrem Angebot entfernen. Damit hat sich die so unscheinbare EU-Verordnung de facto in ein radikales Stilllegungsprogramm verwandelt.

Das Verbrenner-Verbot hat schon begonnen

Aber gibt es eventuell ein Einlenken der EU-Kommission und eine Korrektur der Verordnung? Diesen Eindruck erweckt ein Artikel, der am 31.Januar 2025 in der FAZ unter der Überschrift „Keine CO2-Strafen für VW und Co?“ erschienen ist. Dort heißt es, die Kommission sei „offensichtlich umgeschwenkt“. Ein Aktionsplan, den der zuständige EU-Verkehrskommissar am 5.März 2025 vorlegen will, soll zwar die bekannten Transformationsziele „Förderung von Innovationen, Umstellung auf Elektromobilität, Bau von Ladeinfrastruktur, Batteriefertigung und Umschulung von Arbeitskräften“ wiederholen, aber der FAZ-Artikel fügt hinzu: „Hoffnung können die Autokonzerne aber aus der Zusicherung schöpfen, einen pragmatischen Regelungsrahmen schaffen zu wollen.“ Die Hoffnung soll also auf das Wörtchen „pragmatisch“ gebaut werden. Da hätte man doch gerne Näheres erfahren. Im FAZ-Artikel wird folgende Passage aus einem „Wettbewerbsfähigkeits-Kompass“ zitiert, der noch schnell dem EU-Aktionsplan hinzugefügt worden war:
„Im Rahmen des Dialogs werden wir sofortige Lösungen finden, um die Investitionsfähigkeit der Industrie zu sichern, indem wir mögliche Flexibilitäten prüfen, um sicherzustellen, dass unsere Industrie wettbewerbsfähig bleibt. Ohne die 2025-Ziele zu entschärfen.“
Die EU will also an den Grenzwerten festhalten, aber gleichzeitig „Flexibilitäten prüfen“. Wie soll man sich das vorstellen, was ja eigentlich ein Widerspruch in sich? Und da zitiert die FAZ nun den Europaabgeordneten Peter Liese (CDU):
„Unsere Fraktion will Unternehmen, die die Ziele 2025 nicht erreichen, ermöglichen, Strafzahlungen durch die Übererfüllung der Ziele in den Jahren 2026 und 2027 zu vermeiden.“
Das ist nun freilich eine echte Falle für die Automobilunternehmen. Sie sollen die Ziele hinnehmen, aber gewissermaßen „Erfüllungs-Schulden“ aufnehmen. Sie müssten dann in der Jahren 2026 und 2027 die Grenzwerte stärker unterschreiten, um ihre Erfüllung-Schulden von 2025 auszugleichen. Oder, wenn sie das nicht schaffen, müssten sie einen aufsummierten und daher viel größeren Straf-Betrag zahlen. Damit werden die CO2-Flottengrenzwerte ab dem 1.1.2025, von denen ja nicht der mindeste Abstrich gemacht worden ist, im Nachhinein erst recht ruinös. Es wird also nur scheinbar Milde gewährt, um dann umso härter zuzuschlagen. Einen ähnlichen Vorschlag wie die CDU-Europaparlamentarier hat übrigens der deutsche Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) schon im Dezember 2024 gemacht.
Das Ganze erinnert an jenen alten Mechanismus, durch den arme Bauern nach schlechten Ernten durch billige Kredite in Abhängigkeit von einem reichen Geldgeber gerieten. Diese Bauern konnten in der Regel gar nicht die Erträge erwirtschaften, um aus den Schulden wieder herauszukommen. Sie versanken in einer immer drückenderen Schuldknechtschaft. In eine ähnliche Falle führt eine zeitlichen „Verrechnung“ von Emissions-Strafzahlungen. Ein finsteres Kapitel der Wirtschafts- und Sozialgeschichte lässt grüßen.

Die Überdehnung wird zur Enteignung

Die Affäre um die Flottengrenzwerte zeigt, dass sich die Überdehnungskrise, in der das Unternehmen VW und ein Großteil der europäischen Autoindustrie steckt, mit dem Jahr 2025 zuspitzen könnte. Denn die beiden großen Überdehnungen kommen hier und jetzt zusammen: Die Märkte für die E-Mobilität brechen zusammen, weil eine Technologie, die unter ökologischen Vorzeichen den Unternehmen auferlegt wurde, sich als zu teuer und unpraktisch erweist. Und zugleich findet auch an der Globalisierungsfront eine Verschlechterung statt. Die großen Automobilkonzerne müssen hohe Kosten für Investitionen vor Ort aufbringen, um in einem viel stärker geteilten Weltmarkt nach dem Prinzip „local to local“ weiter präsent zu sein. Die Unternehmen könnten sich genötigt sehen, ihre Produktion von Verbrenner-Fahrzeugen in andere Teile der Welt, deren Märkte kein technologisches Zwangskorsett haben, auszulagern. Und in Europa bliebe dann nichts mehr übrig als eine E-Mobil-Produktion ohne breite Käuferschichten. Und wer glaubt im Ernst, dass man die Leute mit einer vorgezogenen Zwangsreduzierung der Verbrenner-Produktion und mit immer höheren Zwangsabgaben für Benzin und Diesel zur E-Mobilität prügeln kann?
Wir stehen vor der Zuspitzung einer Krise, in der ein ganzer Industriezweig auf verlorenem Posten steht. Eigentlich könnte er hervorragende und bewährte Produkte liefern, für die es auch einen Bedarf gibt. Eigentlich verfügt er über leistungsfähige, zuverlässige Produktionsanlagen und Belegschaften, die das Resultat einer langen Entwicklungsgeschichte sind. All das ist noch da. Es steht noch bereit. Aber jetzt wird es nicht mehr irgendwie in eine große Epoche der E-Mobilität „übergeleitet“. Nein, es wird stillgelegt. Es wird den Kunden, den Belegschaften, den Unternehmern weggenommen. Die erheblichen Kürzungen und Stilllegungen an den verschiedenen VW-Standorten sind Einschnitte, die viel zu tief gehen, um bloße „Anpassungen“ zu sein. Es wird jetzt immer deutlicher, dass hier eine Enteignung stattfindet. Eine technologische Enteignung, die sich Produktionsmitteln und Arbeitsplätzen materialisiert.
So wird die Überdehnungskrise – weil es keine Rückverschiebung gibt – zu einer Enteignungskrise. Bisher konnten die Begründungen, die zur „unvermeidlichen Verkehrswende“, zur „unaufhaltsamen Globalisierung“ und zur „großen Transformation“ vorgetragen wurden, als gedankliche Irrfahrten angesehen werden. Doch jetzt wird die Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit, die diese Begründungen schon enthielten, zur materiellen Zwangsgewalt. Die Affäre um die EU-CO2-Flottengrenzwerte zeigt eine eiskalte Bereitschaft, jetzt vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Enteignung marschiert.
Auch Sätze wie „Das ist mit den EU-Regeln unvereinbar“ oder „Das ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts unvereinbar“ bekommen nun einen anderen Klang. Sie bedeuten nun, dass diejenigen, die diese Regeln und Urteile beschlossen haben, bereit sind, dafür fundamentale Rechte, Güter und Fähigkeiten zu opfern. Und mehr noch: Dass sie die Auflösung tragender Strukturen von Wirtschaft und Staat eines modernen Landes billigend in Kauf nehmen. In einer der größten deutschen und europäischen Industriezweige ist die Zerstörung der Unternehmens-Landschaft eine unmittelbare Gefahr. Sie wird ihrer Fähigkeit beraubt, aus eigenen Mitteln positive Erträge zu erwirtschaften, und so aus eigener Kraft die eigene Existenz zu behaupten.

Die Unternehmen sind der Schlüssel

Durch diese neue Situation bekommt die Rekonstruktionsaufgabe eine zusätzliche Dringlichkeit. Es ist hier noch nichts wirklich gelöst, aber es ist doch schon etwas Gutes geschehen im Land: Die Unternehmen sind stärker in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Die Einschätzungen der Unternehmer zu ihrer Lage und zu ihren Zukunftsaussichten werden mit größerer Aufmerksamkeit verfolgt. Der Glaube, dass es ein Naturgesetz der Marktwirtschaft gibt, nach dem die Dinge bei irgendwelchen Abstürzen wie von selbst wieder auf die Füße kommen, ist brüchig geworden.
Das bietet die Chance einer Rehabilitierung der unternehmerischen Vernunft. Diese Vernunft ist nicht nur etwas, das „die Unternehmer“ haben sollten, sondern das die ganze Wirtschaft eines modernen Landes bestimmen sollte. Es geht um die Erkenntnis und Erfahrung, dass eine moderne Wirtschaft produktive Grundeinheiten braucht, die aus eigenen Mitteln stetig eine Mehrprodukt schaffen können und tatsächlich schaffen. Also Grundeinheiten, die eigenständige Einheiten sind, die nicht von fremder Hand eingesetzt sind, und nicht von ihren Regelungen und Subventionen existenziell abhängig sind. Die nicht bloße Diener und Handlanger zur Umsetzung von höheren Vorgaben, Regeln oder Werten sind. Die Unternehmen sind die Souveräne des Marktes, die Festungen der Freiheit. In ihnen entscheidet sich die Produktivität einer Marktwirtschaft. Sie müssen die verschiedenen Faktoren und Ressourcen zusammenbringen. Sie sind der entscheidende Bilanzort der Wirtschaft. Die Marktwirtschaft eines modernen Landes müsste deshalb eigentlich „unternehmerische Marktwirtschaft“ heißen. Denn das ist das wichtigste Spezifikum, dass die moderne Marktwirtschaft von der Marktwirtschaft früherer Geschichtsepochen unterscheidet. Das Spezifikum, das die Wirtschaft als eine eigenständige Sphäre von der politischen Sphäre unterscheidet. Deshalb ist es im Grunde eine Entmündigung der unternehmerischen Marktwirtschaft, wenn man sie in „soziale Marktwirtschaft“ umtauft, oder – in unseren Tagen – in „ökologische Marktwirtschaft“. Ist hier nicht ein großer Opfergang vorprogrammiert, wenn man „die Gesellschaft“ oder „die Natur“ zum Leitmotiv der Marktwirtschaft erklärt? Man stellt die Marktwirtschaft unter tendenziell unendliche Größen und macht sie anfällig für alle möglichen Übergriffe. Die Unternehmen, die mit ihrem Produktivitäts-Gesetz solche unendlichen Größen konterkarieren könnten, waren lange Zeit zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Jetzt führt kein Weg an ihrer Rehabilitierung vorbei.

Das könnte auch zur Überwindung eines falschen Gegensatzes führen: zur Überwindung der Vorstellung, dass die Unterschiede, die zwischen der Unternehmerseite und der Belegschaftsseite bestehen, antagonistische Widersprüche sind. Also zur Überwindung der Vorstellung einer unüberwindlichen Feindschaft zwischen beiden Seiten. Es gibt ja eine vielfach unterschätzte und allzu schnell wieder verdrängte Erfahrung der Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik gewesen: dass Unternehmerseite und Belegschaftsseite auf Grund ihrer Zugehörigkeit zum Unternehmen miteinander verbunden sind. Und dass sie deshalb Sozialpartner werden können. Das wurde schließlich auch vom Godesberger Programm der SPD reflektiert, aber es war in den Betrieben gewachsen, bevor es politisch aufgegriffen werden konnte. Die Sozialpartnerschaft ist also eine genuin unternehmerisch-marktwirtschaftliche Partnerschaft. Sie ist nicht etwa eine Frucht der „sozialen Marktwirtschaft“. Eher sind unter Berufung auf neue „gesellschaftliche“ Ansprüche neue Widersprüche in die Sozialpartnerschaft hineingetragen worden. Dazu gehört zum Beispiel der Anspruch, dass die ganze Gesellschaft einen Anspruch auf Bildungsaufstieg und entsprechende Arbeitsplätze hat. Ein noch größerer Zwiespalt wurde in die Sozialpartnerschaft hineingetragen, als zusätzlich zu den sozialen noch „ökologische“ Ansprüche in die Unternehmen hineingetragen wurden. Durch sie wurde die produktive Vernunft der Unternehmen massiv in Frage gestellt. So kann man sich vorstellen, wie die Delegitimierung der unternehmerischen Vernunft und die Entwertung der betrieblichen Bindungen sich Jahr für Jahr tiefer ins Land und seine Unternehmens-Landschaft gefressen hat. Und wie es soweit kommen konnte, dass wir jetzt, im Jahr 2025, tatsächlich eine veritable Unternehmenskrise in Deutschland haben.

Allerdings sollte man einer Tatsache, die gegenüber der Situation der Anfangsjahrzehnte der Bundesrepublik neu ist, ins Auge sehen. Man könnte ja annehmen, dass die Unternehmensbindungen der damaligen Zeit dadurch begründet waren, dass es Aufbau-Jahre waren und deshalb Zugewinne sowohl für die Unternehmerseite als auch für die Belegschaftsseite ermöglichte. Dass es also eine sogenannte Win-Win-Situation war. In der heutigen Zeit liegen die Tatsachen anders. Es stehen keine zusätzlichen großen Gewinne in Aussicht. Die Rückverschiebungen, die die Rekonstruktions-Aufgabe prägen, können solche Gewinne redlicherweise nicht versprechen. Sie können nur die Wiederherstellung einer tragfähigen Unternehmens-Grundlage versprechen. Das schließt positive Erträge ein, aber sie werden weder die Gewinne der Zeiten des „Wirtschaftswunders“ noch die Zeiten des „Exportweltmeisters“ erreichen.
Das bedeutet, dass die Schlüsselrolle der Unternehmen nicht zu vordergründig auf das Versprechen einer neuen Win-win-Situation gebaut werden sollte. Die Begründung dieser Schlüsselrolle muss defensiver und elementarer ausfallen: Es geht in dieser Zeit um eine Selbstbehauptung der deutschen Wirtschaft. Exemplarisch dafür geht es um die Selbstbehauptung von VW als einem Großunternehmen der Automobilindustrie – einem Unternehmen, das für die Verfügbarkeit des Automobils als Massenverkehrsmittel für breite Bevölkerungsschichten unabdingbar ist.

Der längere Hebel

Es gibt hierzulande durchaus einen beträchtlichen sozialen Sektor, der bereit ist, die Automobilindustrie und das Auto als Massenverkehrsmittel zu opfern. VW ist ihm egal. Es ist ein Sektor, der bereit ist, seine Ziele mit allen Mitteln zu verfolgen – mit rücksichtsloser, kalter Abwicklung; mit arglistiger Täuschung; mit dem Bluff des „geht rechtlich nicht“, mit der Berufung auf „die“ Wissenschaft. Auch der Hebel der massenmedialen Aufblähung gehört dazu. Dagegen nur die besseren Argumente zu haben, reicht nicht. Der Sektor wird noch manchen „Sieg“ auf seinem Spielfeld davontragen: beim täglichen Beschwören und Beschreien finsterer Katastrophen. Manche Stilllegung ist da schnell durchgesetzt. Manches „innovative Projekt“ lässt sich toll in Szene setzen. Aber davon wird das Land nicht satt, sicher und sauber.
An dieser Stelle hat die große Transformation ihren wunderbaren Haken: Diejenigen, die da die Unternehmen und ihre produktiven Fähigkeiten enteignen, sind keineswegs in der Lage diese Fähigkeiten irgendwie zu übernehmen und im Ertrag zu ersetzen. Man sehe sich die Leute, die die großen „Wenden“ ausrufen, nur einmal näher an: Sie haben von Tuten und Blasen keine Ahnung. Sie haben weder Kraft noch Ausdauer zu täglicher, handfester Arbeit. Da liegt ihr süßes Geheimnis: Die Anhänger der großen Transformation. Sie erwarten insgeheim, dass andere diese Arbeit für sie erledigen. Man höre sich nur an, was sie heute zur Überwindung der Arbeitskräfte-Knappheit vorschlagen. Alles kommt vor, nur nicht eine drastische Reduzierung des heutigen Akademiker-Anteils von über 50 Prozent eines Jahrgangs.
So kann man in den kommenden Jahren mit folgendem Szenario rechnen: Es wird im Lande an immer mehr Stellen eine bedrückende Knappheit ausbrechen. Und diejenigen, die reale Betriebe führen können, und diejenigen, für die reale Arbeit kein Problem ist, werden in dieser Knappheit eher Wege zu ihrem Auskommen finden als die Prediger der „Zuversicht“.
Mit diesem Wechsel des Spielfelds eröffnen sich viele Möglichkeiten, Druck auszuüben. Auf diesem Feld liegt der längere Hebel, mit dem die Überdehnung ausgehebelt werden kann. Und mit dem dann auch, auf sicheren Boden, der konstruktive Wiederaufbau geschafft werden kann.

VW – Eine Überdehnungskrise

Die Volkswagen-AG ist nicht in eine unhaltbare Position geraten, weil sie zu sehr einem unternehmerischen „Egoismus“ gefolgt ist, sondern weil unternehmensfremde Sichtweisen und Ziele dominant geworden sind.
(Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft, Teil II)

VW – Eine Überdehnungskrise

02. Februar 2025

Wenn man genau hinsieht, was VW in die Krise gestürzt hat und was das Unternehmen weiterhin in einer unhaltbaren Situation hält, dann sind es nicht Fehlentscheidungen, die aus der inneren unternehmerischen Logik erwachsen sind. Die also auf ein „zu viel“ an unternehmerischem Denken zurückzuführen sind. Nein, es sind äußere, unternehmensfremde Sichtweisen und Ziele, die ins Unternehmen eindringen konnten. Der Autobauer wurde dadurch überlastet und in seinem Handeln überdehnt. Das Modewort „Herausforderungen“ spiegelt das wider – und verharmlost es zugleich, denn „Herausforderung“ ist mit der Vorstellung verbunden, dass es um etwas im Prinzip Erfüllbares geht. Es ist dann nur eine subjektive Frage, ob man die Herausforderung „annimmt“ oder nicht. In dem bereits zitierten Interview mit dem VW-Chef Oliver Blume (FAZ, 23.12.2024) wird er gefragt: „Nächstes Jahr drohen in Europa Strafzahlungen, weil die Autobranche strengere CO2-Regeln nicht einhalten kann. Wie teuer wird es für Volkswagen?“ Blume antwortet: „Die Ziele sind tatsächlich extrem anspruchsvoll.“ Das ist genau jene „leichte Sprache“, die den Eindruck erweckt, hier würde ein Anspruch an das Unternehmen gestellt, der zwar groß, aber doch irgendwie erfüllbar sei. In Wirklichkeit werden die Strafzahlungen, wenn sie nicht noch abgeschafft werden, ruinös für große Autounternehmen, die sowieso schon in großen Ertragsschwierigkeiten stecken. Es geht bei VW jetzt nicht um subjektive Bereitschaft und Moral, sondern um die objektiven Bedingungen der Wertschöpfung. Man kann 100mal den Klimawandel beschwören, aber wenn die Maßnahmen, die ihn (angeblich) eines Tages aufhalten sollen, jetzt die Produktivität der Unternehmen zerstören und sie nichts und niemand mehr bezahlen können, wird die „Klimarettung“ zu einer absurden Veranstaltung. Es ist daher ein richtiger Impuls, dass inzwischen eine Mehrheit im Lande die Krise der Wirtschaft mit größerer Sorge betrachtet als die Veränderungen beim Klima.
Man muss also insgesamt die Verschiebungen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten bei VW durch neue Ansprüche, die von außen an das Unternehmen herangetragen und in das Unternehmen hineingetragen wurden, neu betrachten und neu bewerten.

Zwei unhaltbare Positionen der Grundaufstellung von VW

Eine große Verschiebung, die sich jetzt als unhaltbar erweist und ganz wesentlich zur VW-Krise geführt hat, ist eine technologische Verschiebung. Sie erfolgte im Namen der Klimarettung: Die CO2-Emmissionen der Verbrenner-Motoren galten als Verursacher der Klimakrise. Über die Einstufung der CO2-Emissionen und aller ihrer angeblichen Folgen als externe Kosten, die es unbedingt zu internalisieren gelte, sollte eine fundamental andere Technologie, die Elektro-Motoren, als kostengünstiger erscheinen. Gegenüber den gigantischen Kosten der Klimakrise, sollten sich die zusätzlichen Kosten der E-Mobilität ökonomisch rechnen. Die fundamentale technologische Verschiebung sollte als „Gewinn“ verbucht werden können. Doch es ist etwas anderes geschehen. Der Wechsel von der Verbrenner-Technologie zur Elektro-Technologie hat sich in der Fahrzeug-Herstellung und in der Versorgungs-Infrastruktur als so teuer und unsicher erwiesen, dass der Fahrzeug-Absatz zusammengebrochen ist. Der Wechsel, der als Internalisierung externer Kosten begründet wurde (und nach wie vor so begründet wird), hat sich als Schritt ins Leere erwiesen. Als Massenverkehrsmittel für ein breites Publikum hat sich das E-Automobil als untauglich und unerreichbar erwiesen. Eine überzogene Internalisierung externer Kosten ist hier exemplarisch gescheitert: Sie führt hier nicht zu einer Erweiterung einer Volkswirtschaft, sondern zu einer Unerreichbarkeit von Gütern, die bisher erreichbar waren. Sie führt zur Verkleinerung von volkswirtschaftlicher Aktivität. Der Massenmarkt für Automobile schrumpft zu einem Sondermarkt für gehobene Schichten. Die Internalisierung ökologischer Kosten wurde einerseits durch politische Setzungen (zum Beispiel CO2-Preisaufschläge auf die fossilen Kraftstoffe) durchzusetzen versucht. Diese Internalisierung wurde andererseits aber auch von zahlreichen Automobil-Unternehmen als strategisches Ziel beschlossen.
Diese Internalisierung ist jetzt in der Krise, und das Unternehmen VW steht – als Großserienhersteller des Massenverkehrsmittels Automobil – mitten in dieser Krise.
Diese Internalisierung ökologischer Kosten kann man in einer größeren historischen Perspektive betrachten. Sie ist nicht die erste Großkrise durch eine überzogene Internalisierung, mit der sich die Moderne auseinandersetzen musste. Im 19. Jahrhundert war die Moderne mit der „sozialen Frage“ konfrontiert. Sie musste tatsächlich elende Zustände der Industriearbeiterschaft überwinden und diese Internalisierung gelang auch, soweit sie im Rahmen einer wachsenden Produktivität geschah. Das richtige Maß war durchaus nicht konfliktfrei zu finden, sondern war mit erheblich sozialen Auseinandersetzungen verbunden. Aber es musste verhindert werden, dass die soziale Frage sich zu einem grenzenlosen Konflikt steigerte. Diese Radikalisierungsgefahr war im 19. Jahrhundert real: Eine starke Strömung wollte die unternehmerische Vernunft (den Kapitalismus) als „Ursache“ für eine unaufhaltsame Verelendung der Mehrheit der Gesellschaft abschaffen. Aber die Moderne überstand diese Drucksituation. Sie marschierte nicht in eine wirtschaftliche Selbstzerstörung im Namen der „sozialen Kosten“. Jetzt aber sehen sich die Länder, die die Radikalisierung der sozialen Frage vermieden haben und sich über längere Zeit erfolgreich entwickelt haben, mit einer neuen Radikalisierung konfrontiert. Sie erfolgt von der Seite der Umweltbedingungen, im Namen der „ökologischen Frage“. Und wieder geht es darum, die Gefahr einer grenzenlosen Internalisierung – einer Internalisierung um jeden Preis – abzuwenden. Die Internalisierung muss im Rahmen der produktiven Möglichkeiten gehalten werden. Vor allem auch im Rahmen der realen technologischen Möglichkeiten. Und wiederum geht es darum, die Beschwörung terminaler Krisen zurückzuweisen: Diesmal muss die unternehmerische Vernunft gegen die finstere Mär von der Überhitzung des Planeten verteidigt werden.

Ein anderer Teil der Krise betrifft das Verhältnis zwischen Inlands- und Auslandsstandorten von VW. VW ist traditionell ein Hersteller mit großen Inlandsstandorten, der aber in den vergangenen Jahrzehnten einen erheblichen Anteil der Fertigung und der Zulieferer ins nähere und fernere Ausland verlagert hat. Das ging so weit, dass am Ende der Hauptteil der Überschüsse von VW in China erwirtschaftet wurde. Diese Auslagerung ist Folge des Versuchs, die Aufstellung von VW auf dynamischere Märkte auszurichten. Man versuchte also, die Globalisierung in eine erweiterte Aufstellung des Konzerns „einzubauen“. Diese Internalisierung ging eine Zeit lang gut, aber inzwischen ist diese Ausdehnung des Unternehmens fragwürdig geworden. Es geht dabei nicht nur darum, dass bei der Ausdehnung einzelne Fehler gemacht wurden, sondern darum, dass solche Weltkonzerne des Automobilbaus aus tieferen, guten Gründen überholt sind. Der Umkreis der Weltregionen und Länder, die eigene Großunternehmen der Automobilherstellung aufbauen konnten und die in fast allen Fahrzeugklassen inzwischen konkurrenzfähig sind, ist gewachsen. Der alte Vorsprung, der VW zu einem führenden Weltlieferanten machte, ist dahin, und es kann auch nicht erwartet werden, dass das Unternehmen einen solchen Vorsprung wieder erringen kann. Hier hat ein Umschlagen in der Problemstellung stattgefunden: Nicht ein zu enger Binnenmarkt ist in der Krise und die Globalisierung von Autounternehmen ist der Ausweg. Vielmehr ist jetzt ist dieser Ausweg in der Krise – wegen der Pluralisierung der Unternehmenswelt in der Automobilherstellung.
Diese Ausdehnung des Unternehmens Volkswagen im Namen der „Globalisierung“, die sich nun großenteils als Überdehnung herausstellt, lässt sich – wie der Internalisierung ökologischer Kosten – in einem größeren historischen Zusammenhang verstehen. Es ist hier ein geheimer Glaube am Werk, der im Grunde ein sehr naiver Glaube ist: Man glaubt an ein höheres Gesetz, das zu immer größeren Einheiten von Wirtschaft und Staat führt. Dass alles immer mehr „weltweit“ wird, soll ein Zeichen von „Fortschritt“ und „Gang der Geschichte“ sein. Bei näherem Hinsehen werden als Beleg aber nur die Ströme von Verkehr und Kommunikation angeführt. Das sind raumüberwindende Bewegungen. Es geht um Aktivitäten, Erfahrungen, Berufe in der Zirkulationssphäre. Im Laufe der neuzeitlichen Geschichte gab es in der Tat eine Zeit, in der der Kapitalismus sich vornehmlich in der Zirkulationssphäre bewegte – die Epoche des Handelskapitals und die Eröffnung weltweiter Verkehrswege und Nachrichtensysteme. Aber das Industriezeitalter eröffnete eine ganz anderes, viel weiteres Feld der Moderne: die Produktionssphäre. Hier war die Logik nicht Raumüberwindung, sondern Entdeckung und Nutzung bisher verschlossener Ressourcen – die Länder wurden tiefer durchgearbeitet und die Standorte der Unternehmen beschränkten sich nicht auf wenige Städte oder Rohstoff-Fundorte. Der Kapitalismus entfaltete sich, indem er sich räumlich fixierte und verdichtete – es begann die Ära der Territorialstaaten und der Nationalökonomie. Darin war schon eine Pluralisierung der Staatenwelt und der Unternehmenswelt angelegt, die im 18., 19. und 20. Jahrhundert immer weitere Kreise zog. Gewiss gab es immer auch Vorsprünge und Hegemonien, aber der Haupttrend war ihre Relativierung. Die Globalisierung von VW (und vielen anderen Unternehmen aus klassischen Industrieländern), die auf die Erzielung von Vorsprungs-Erträgen setzte, ist im Grunde eine alte Strategie, die auf die Dauer nicht haltbar sein kann. Diese Unhaltbarkeit ist jetzt akut geworden. Sie ist das zweite fundamentale Problem, das sich mit der VW-Krise stellt und die Grundaufstellung des Unternehmens betrifft.
VW stößt jetzt nicht nur auf neue Konkurrenten, sondern auch auf einen ganzen historischen Trend: Der Pluralisierungs-Trend in der Staatenwelt und Unternehmenswelt erfährt in diesem 21. Jahrhundert einen neuen Schub. Die Eckwerte des Weltmarkts für Automobile werden nicht mehr von den Unternehmen der klassischen Industrienationen gesetzt, sondern immer mehr von neuen Automobilnationen. Diese Nationen, die sich das Recht erkämpft haben, ihren Weg selbst zu bestimmen, müssen ihre Bedingungen und Prioritäten zur Geltung bringen und tun das auch.

So wird an zwei fundamentalen Positionen – bei der technologischen Aufstellung und bei der Standort-Aufstellung – klar, wie weit sich das Großunternehmen VW auf unsicheres Terrain begeben hat. Und wie es dort nun in einer Entwicklungssackgasse steckt. Wie aber konnte es dazu kommen? Was war das Einfallstor für diese Überdehnung des Unternehmens?

Die täuschende Leichtigkeit der Überdehnung (I):
Eine freundliche Natur und eine luftige Globalität

Die Ausgangslage von VW war eigentlich gut: Das Unternehmen hatte sich in den ersten drei Jahrzehnten der Bundesrepublik einen guten Ruf und große Marktanteile erarbeitet. Solide technische Weiterentwicklungen waren gelungen, und das Hauptgewicht der Fertigung lag in Deutschland. Auch der Zusammenhalt des Unternehmens war gut. Die Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmensführung und Belegschaft funktionierte, weil hier beide Seiten – bei aller Unterschiedlichkeit – starke Bindungen an das Unternehmen hatten, die auf Leistungen und Gegenleistungen beruhten. Wie konnte es zu Verschiebungen kommen, die das Unternehmen auf unsicheres Gelände führten? „Falsche Entscheidungen“ wären eine zu einfache Erklärung. Auch politisch-ideologische Verirrungen können nicht erklären, warum ein solides Großunternehmen den bisherigen Pfad verlässt. Es muss eine Entwertung dieses Pfads stattgefunden haben. Und mit ihm eine Zerstörung der unternehmerischen Vernunft.

Es muss einerseits einen Großtrend in der Gesellschaft gegeben haben, der die bisherige Grundlage dieser Vernunft entwertet hat. Jede Entwertung setzt andere Sachverhalte und Maßstäbe voraus, die als „größer“ und „besser“ gelten können. Das kann man tatsächlich an den beiden Verschiebungen, die bei VW im Lauf der vergangenen Jahre und Jahrzehnte stattfanden zeigen: Hier ist einerseits eine „Ökologisierung“ der Ökonomie am Werk, die den Eindruck erweckt, einen umfassenderen Maßstab in die Ökonomie einzuführen. Und es ist andererseits eine „Globalisierung“ der Ökonomie am Werk, die auch den Eindruck erweckt, einen umfassenderen Maßstab – den planetaren Maßstab – in die Ökonomie einzuführen. Merkwürdigerweise führen diese Maßstäbe aber nicht zu der Konsequenz, dass nun härter gearbeitet und gewirtschaftet werden muss, sondern dass sich damit das Tor zu einer leichteren Welt öffnet.
Im Fall der Ökologisierung ist ja immer von einer freundlichen, freigiebigen Rousseau-Natur die Rede, die mit ihren Geschenken nur darauf wartet, dass wir endlich „naturnäher“ produzieren. Das Beispiel der Energien, die scheinbar fix und fertig aus Wind und Sonne abgeleitet werden können und die euphemistisch „erneuerbare“ Energie genannt werden, zeigt diese betonte Leichtigkeit sehr deutlich. Es ist eine täuschende Leichtigkeit, denn sie blendet aus, dass solche „erneuerbaren“ Energien vor allem sehr unregelmäßig anfallende, volatile Energien sind, die mal zu wenig und mal zu viel liefern, um ein Stromnetz, dass flächendeckend und kontinuierlich ein hohes Niveau sicherstellen muss, zu speisen.
Im Fall der Globalisierung ist immer von der relativ leichten Tätigkeit des Austauschs und der Kommunikation die Rede (und von der Digitalisierung, die alles mühsame Arbeiten am Gegenstand durch Tastendruck zu erledigen verspricht). Und die auch verspricht, dass man ein Großteil der globalisierten „Neuen Arbeit“ nicht in den Zwängen einer großen Fabrik, eines großen Büros, eines großen Krankenhauses oder einer großen Bildungsstätte verrichten muss, sondern im „Home Office“. Das ist das süße Geheimnis der „größeren Maßstäbe“, die nun in die unternehmerische Vernunft eingeführt werden sollen: Sie sollen angeblich mit einer neuen Leichtigkeit einhergehen. Mit Arbeitszeitverkürzung, abwechslungsreicher Arbeit, höherer Bildung für alle und Sonderurlaub für lebenslanges Lernen.

Was hier ausgeblendet wird, wird sofort klar, wenn wir uns die klassische Definition von ökonomischem Wert noch einmal vor Augen führen: Es ist die Knappheit von Gütern, die ihnen erst einen Preis verleiht. Und es gibt die Möglichkeit, diese Knappheit unternehmerische Vernunft und die Arbeit einer Belegschaft zu mildern (nicht: abzuschaffen). Das wiederum verleiht dem Tun von Unternehmern und Belegschaften ihren Wert verleiht. Dazu muss sie sich aber auf die Knappheit und Widerständigkeit eines Gegenstandes einlassen – also auf die Realität einer knappen und widrigen Natur.
Wie nett ist das Naturbild, und wie wohlfeil die Pflicht, von der Herbert Grönemeyer uns singt (Herbert Grönemeyer, Stück vom Himmel):
„Die Erde ist unsere Pflicht. Sie ist freundlich, freundlich. Wir eher nicht.“
Diese „freundliche Erde“ ist ein kitschiges Wunschbild ist, das von den Widrigkeiten, Knappheiten, Ungewissheiten der realen Natur nichts wissen will. Doch jetzt, nach einem starken Ausbau der „freundlichen“ erneuerbaren Energien werden die unfreundlichen Realitäten sichtbar – zum Beispiel in den Dunkelflauten, wenn weder der Wind bläst noch die Sonne scheint. Da behält doch das „Gesetz der Knappheit“ Recht, das in jedem guten Volkswirtschafts-Lehrbuch ganz vorne steht. Bei Paul A. Samuelson lesen wir in seiner „Volkswirtschaftslehre Band 1“ (S.35), was ein Ignorieren des Knappheits-Gesetzes bedeuten würde,
„…es gäbe keine wirtschaftlichen Güter, das heißt keine Güter, die relativ knapp sind, und man bräuchte sich kaum mit Fragen der Wirtschaft oder des `Wirtschaftens´ zu beschäftigen.“
Eine „Ökologisierung der Ökonomie“, die auf die Annahme gebaut ist, dass die Natur per se eine gute Natur ist, läuft auf eine Abschaffung jeglicher Ökonomie hinaus. Genauso sieht das Einfallstor aus, durch das die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft in die Wirtschaft eindringt. Ein ähnliches Einfallstor ließe sich bei einer näheren Betrachtung der „Globalisierung der Ökonomie“ zeigen.

Die täuschende Leichtigkeit der Überdehnung (II):
Fortschreitendes „Upgraden“ des Automobil-Angebots

Die Verbindung von ausufernden Maßstäben und einer täuschenden Leichtigkeit spiegelt sich auch in der Entwicklung der Modellpalette von VW wieder. Das Automobil wurde immer stärker mit Dingen aufgeladen, die mit der Fahrleistung, mit der Fahrsicherheit, mit der Funktionalität der Ausstattung und der Qualität der Verarbeitung wenig oder gar nichts zu tun hatten. Aber die Fahrzeuge sollten nun „Geschichten erzählen“ und der Selbstdarstellung der Fahrenden dienen – und zugleich das Umweltbewusstsein der Fahrenden bedienen. Dieser Weg führte bis zur „Alternativlosigkeit“ des E-Automobils mit immer mehr Automatisierungs- und Unterhaltungsfunktionen. Aber diese Entwicklung setzte schon vorher ein, mit dem ständigen „Upgrading“ der Modelle. Ein Golf am Ende der 1980er Jahre wies schon große Unterschiede zu dem Golf auf, der 1974 zum ersten Mal auf den Markt kam. Er war auch erheblich teurer. Er wurde immer mehr zu einem gehobenen Mittelklasse-Wagen, während der Golf vorher noch eher der Klasse des VW „Käfer“ zuzurechnen war. Er war damals, wie der vor ihm der Käfer, noch das Auto des Facharbeiters.

So lassen sich vielleicht vier Phasen der Fahrzeug-Entwicklung bei VW unterscheiden:
1.) Die Dominanz des „Käfers“ und der Etablierung des „Golf“, der einen bedeutenden technologischen Fortschritt darstellte, aber noch auf einem Niveau angesiedelt war, das den Präferenzen und dem Geldbeutel qualifizierter Arbeiter entsprach (bis Ende der 1980er Jahre).
2.) Das „Upgrading“ der verschiedenen Fahrzeuge der VW-Flotte beginnt. Die Antriebe sind noch Verbrennermotoren, aber die Fahrzeuge werden größer, aufwendiger und werden mehr auf „Stil“ getrimmt. Zugleich ist es eine Phase verstärkter Ausgliederung von Produktions- und Zuliefer-Standorten (bis Ende der 2000er Jahre).
3.) In der dritten Phase wird China zum zweiten Standbein des Gesamtunternehmens. Und der strategische Umstieg auf das Elektro-Auto wird beschlossen und schrittweise umgesetzt. Damit ist eine Kosten- und Preissteigerung für die gesamte Fahrzeug-Flotte verbunden, die sich in der ersten Upgrading-Phase schon ankündigte. Der Golf erscheint nun definitiv ein Fahrzeug für den gehobenen Mittelstand. Diese Phase könnte man bis in die jüngere Vergangenheit ansetzen.
4.) Nun aber hat eine vierte Phase begonnen: Sie ist gekennzeichnet von einem Markteinbruch bei den E-Automobilen und einem Markteinbruch im China-Geschäft. Aber die Einsicht, dass hier wirklich eine Phase am Ende ist, und eine Klarheit über die dann tragfähige Neuaufstellung ist noch nicht da. VW ist gegenwärtig an einem toten Punkt angekommen.


Es ist wichtig festzuhalten, dass der Weg in die jetzige Krise nicht in der ersten Phase begann, sondern erst in der zweiten Phase. In der dritten Phase wurde der Trend zum „Upgrading“ mit dem einseitigen Umstieg auf die E-Automobile dann wirklich exklusiv. In dieser Entwicklung ist auch ein fundamentaler gesellschaftlicher Wandel enthalten. Es herrscht nicht mehr die Sachlogik der automobilen Leistung, die der Orientierung des Facharbeiters entspricht, sondern die Distinktions-Logik des sozialen Aufstiegs und des „feineren Geschmacks“, der sich von der Massenware der „gewöhnlichen Leute“ abzuheben versucht.

Um das zu verdeutlichen, kann ein Blick in ein kleines Buch, das im Jahr 2000 publiziert wurde und einen beträchtlichen Erfolg hatte, hilfreich sein. Der Autor ist Florian Illies, und der Titel lautete: „Generation Golf“. Der Titel ist vielversprechend. Wird mit dem VW Golf nicht eine Errungenschaft aus der Ära zelebriert, als Deutschland noch ein vorbildliches Industrieland war? Doch Illies (Jahrgang 1971) hat eine merkwürdige Sicht auf den Golf, der da zum Symbol einer ganzen Generation erklärt wird. Er schreibt (Seite 54):
„Als der Golf 1974 erstmals vom Band lief, sollte er vor allem an die Erfolge des Käfers anknüpfen. Die Philosophie klang recht lapidar: Motor vorn, Klappe hinten, dazwischen fünf Sitzplätze. Das erste Modell hatte 50 PS und fuhr 140 Stundenkilometer Spitze. Zwei Jahre später gab es den Golf dann auch als GTI…Erst drei Jahre später wurde das erste Golfmodell zum Kultauto: und zwar in Form des Cabrios, das ab 1979 produziert wurde und offenbar, von einigen roten und weißen Ausrutschern abgesehen, ausschließlich in den Farben Dunkelblau und Schwarz. Der dunkelblaue Golf als Cabrio ist das Gründungsautomobil der Generation Golf.“
Diese Darstellung passt nicht recht zu den Tatsachen. Denn der Golf, der 1974 auf den Markt kam (Florian Illies war damals drei Jahre alt) war keineswegs ein „lapidarer“ Nachfolger des VW „Käfers“. Um ihn nach diesem großen Erfolgsmodell auf den Markt zu bringen, und das mit sehr großen technischen Änderungen, bedurfte einigen Mutes (und mehrere zu kurz geratener, erfolgloser Anläufe). Der „Motor vorne“ war mit einem Antrieb vorne und einem stark verbesserten Fahrverhalten verbunden. Dazu kamen eine verbesserte Sitzposition und verbesserte Sitze. Der Motor war wassergekühlt, seine Leistung ließ sich steigern und wurde bald gesteigert. Schon kurz nach dem 50 PS-Modell brachte VW den „Golf S“ mit 70 PS und 170 km/h Spitze heraus, der wirklich eine ganz neue Agilität auf die Straße brachte. Der Autor dieser Zeilen kann das beurteilen: Ich habe 1979 ein Golf S als Jahreswagen von einem VW-Werkangehörigen gekauft, und war wirklich begeistert, ohne dass ich den Wagen als „Kultauto“ empfand. Es genügte einfach der Vergleich mit den Leistungen meiner vorherigen Fahrzeuge – einem Fiat 600, einem Renault R 4 und einem VW Käfer. Hingegen ist der Golf, den Florian Illies zum Inbegriff einer ganzen Generation stilisiert, ein Golf Cabrio von 1990. Das mag ein Auto für starke Auftritte gewesen sein, aber unter dem Gesichtspunkt der Fahrzeug-Leistung war er eigentlich nichts Neues gegenüber den Golfs der ersten Generation. Das Golf-Cabrio gehörte schon in die Phase des „Upgrading“. Nebenbei bemerkt hatte das Cabrio des alten VW-Käfers eine sehr viel passendere sportliche Eleganz als das Golf-Cabrio, das eher wie ein Kasten daherkam.
Die Lektüre von Illies Buch „Generation Golf“ ist insofern interessant, als hier ein Wechsel des Bewertungsmaßstabs ins Spiel kommt, der der Konzeption und Konstruktion von Automobilen nicht unbedingt guttut. Das Auto wird hier zu einem Zeichen, zu einer Sprache. Wir sollen das Auto nicht fahren und ihm in seiner Materialität als Fahrzeug etwas abgewinnen, sondern wir sollen mit seinem Gebrauch eine Geschichte von uns selbst erzählen, von unserer Generation. Es ist interessant, woher Illies diese Sichtweise entlehnt. Auf S.56 ist von einer Werbeagentur die Rede, die den Begriff „Generation Golf“ offenbar erfunden hat:
„Das als erste erkannt zu haben, ist der große Verdienst der Düsselsdorfer Werbeagentur DDB, die Mitte der neunziger Jahre ihre Werbekampagne folgendermaßen auf den Punkt brachte: Der Grundgedanke war, die Verwenderschaft des Golf alsGeneration Golf´ zu codieren´.“
Aus heutiger Sicht mutet diese Hochstilisierung eines VW-Fahrzeugs merkwürdig schief und aus der Zeit gefallen an. Die Suche nach einem „Kultauto“ erscheint uns in einer Zeit, in der das Auto als Massenverkehrsmittel unbrauchbar und unerschwinglich zu werden droht, als blinde Eitelkeit. Ein großer Autobauer wie VW müsste vom Teufel geritten sein, wenn es das Schicksal des Unternehmens solchen „Codierern“ überlässt. Es geht jetzt um eine Rückkehr zum harten Kern des Autofahrens.

Die täuschende Leichtigkeit der Überdehnung (III)
Statt Sozialpartnerschaft eine allwissende „neue Mitte“

Ende Dezember 2024 gab es in der „Süddeutsche Zeitung“ und im „Spiegel“ im Zusammenhang mit dem VW-Kürzungsprogramm Meldungen, dass auch das Management des Unternehmens dazu beitragen soll. Dort konnte man lesen, dass die im Mai ausgezahlten Boni so stark sinken sollten, „dass das Jahreseinkommen von rund 4000 Managern 2025 und 2026 um zehn Prozent sinke“. Das erstaunliche an diesem Satz sind eigentlich nicht die Kürzungen, sondern die Zahl „4000 Manager“. Wie kommt es zu dieser gewaltigen Zahl? Was zählt da alles zum Management der Volkswagen-AG? Offenbar handelt es sich um eine eigene Schicht, die nicht zum engeren Führungskreis zählt, weil ja nicht wirklich mit 4000 Managern der Kurs von VW bestimmt werden kann. Aber die 4000 zählen auch nicht zur Belegschaft, denn sie stehen ja in einem gesonderten, gehobenen Vertragsverhältnis.
In diesem Zusammenhang wird eine Bemerkung bedeutsam, die eine Teilnehmerin auf einer Warnstreik-Kundgebung im Dezember am VW-Standort Emden vor laufender Fernsehkamera machte. Die Kollegin wies darauf hin, dass VW noch vor zwei, drei Jahren zahlreiche Neueinstellungen für die Umstellung auf die E-Mobilität vorgenommen habe. Da würde man gerne Näheres erfahren. Für welche Aufgaben geschahen die Einstellungen? Hat das eventuell auch etwas mit den sogenannten ESG-Kriterien zu tun, die nach einer EU-Verordnung große und mittlere Unternehmen erfüllen müssen? „ESG“ bedeutet „Ecological“, „Social“ und „Governance“. Es also um „höhere“ Ziele, die zusätzlich zu den herkömmlichen Unternehmenszielen erfüllt sein müssen. Darunter fällt zum Beispiel das (soziale) „Diversity Management“ oder eine detaillierte Dokumentation über die verwendeten Rohstoffe und Vorprodukte, und deren ökologische und sozialen Herstellungsbedingungen. Da wäre es natürlich wichtig zu wissen, was für Tätigkeiten da entstehen, woher sich das Personal rekrutiert und welche Bildungsgänge (höhere Bildungsgänge?) absolviert wurden. Offenbar ist da bei VW (und überhaupt in Industrieunternehmen) in den letzten Jahren ein ganz neues „gehobenes“ Milieu entstanden, das mit der Fertigung der Fahrzeuge wenig zu tun hat. Die Frage ist: Fühlt sich dies Milieu mit der klassischen VW-Belegschaft noch verbunden? Und wie loyal ist es gegenüber dem Unternehmen VW?

An diesem Punkt ist eventuell ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der schon vor einiger Zeit erschienen ist (am 23.8.2019) hilfreich. Er berichtet davon, dass in der Führung und Zielfindung von namhaften Unternehmen größere Umwälzungen stattfinden. „Vor dem G-7-Treffen versprechen große Unternehmen mehr soziales und ökologisches Engagement“, heißt es da. Und es wird der Vorstandsvorsitzende des Lebensmittelkonzerns Danone mit den Worten zitiert: „Wir müssen die die Führungskräfte von morgen anziehen. Das ist schwieriger als früher.“ Immer häufiger würden Mitarbeiter, Kunden und Investoren von den Unternehmen ein soziales oder ökologisches Engagement erwarten, heißt es in dem Artikel. Natürlich sind es nicht „die Mitarbeiter“, „die Kunden“ und „die Investoren“, sondern es geht um „Führungskräfte von morgen“, die sich nicht aus dem Unternehmen heranbilden lassen, sondern die von außen, aus der gehobenen Mittelschicht der Gesamtgesellschaft in die Unternehmen Eingang finden. Aus Anlass des damaligen G-7-Gipfels in Biarritz setzte der französische Präsident Macron „Konzernchefs, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisation“ zusammen in Szene. Der FAZ-Artikel berichtet von einer Koalition von 34 internationalen Unternehmen von Danone über BASF bis zu Goldmann Sachs, die sich den Titel „Business for Inclusive Growth“ nennt.
Es liegt nahe, hier einen Zusammenhang mit dem Gebot der „Internalisierung externer Kosten“ zu sehen. Hier scheint sich eine ganz neue Schicht in den Unternehmen anzusammeln zu haben, für die die unternehmerische Vernunft „zu eng“ ist, und die sich nicht so sehr für die Erträge des Unternehmens interessieren, sondern vielmehr ganz bestimmte ökologisch oder soziale Ziele verwirklicht sehen wollen. Das Unternehmen wird von ihnen in den Dienst solcher „konkreten“ Ziele gestellt. Dazu wird gerne der Begriff „purpose driven“ verwendet, der etwas besonders Gutes und Smartes ausdrücken soll. Aber dies auf einzelne besondere Zwecke gerichtete Denken und Handeln ist – verglichen mit der unternehmerischen Vernunft – im Grunde eine Verengung und Vereinseitigung. Denn die „Abstraktheit“ der unternehmerischen Vernunft, die zunächst einmal darauf abzielt, überhaupt Überschüsse zu erwirtschaften, um sie dann auszuschütten und es den Empfängern zu überlassen, für welche Zwecke sie sie einsetzen, ist offener und flexibler. Der Versuch, ein Unternehmen gleich für einen bestimmten Zweck in Dienst zu stellen, glaubt zu sehr an die Güte der eigenen Zwecke, und will sie nicht einer offenen Wahl zwischen Alternativen überlassen.

Offenbar gibt es inzwischen einen ganzen „Purpose Drive Sektor“, der seiner guten Zwecke gewiss ist. Und der nur dann bereit ist, in Unternehmen Verantwortung zu unternehmen, wenn das Unternehmen seinem guten Zweck zu Diensten ist. Und der Hinweis auf die „Nachwuchssorgen“ der Unternehmen kann als Indiz gewertet werden, dass es offenbar schwierig ist, aus dem gewaltig angewachsenen akademischen Nachwuchs Menschen für normale Unternehmensziele zu gewinnen. So kann es dazu kommen, dass sich Unternehmen dazu genötigt sehen, in ihren Betrieben ein Milieu zuzulassen, das eigentlich ein Fremdkörper im Betrieb ist. Auf diesem Weg finden die Externalitäten auch personell Eingang in die Unternehmen. So erklären sich manche erstaunlichen Zahlen, und man kann sich vorstellen, wie es bei VW zu der Zahl von „4000 Managern“ gekommen ist.
Hier hat offenbar eine gewichtige strukturelle Veränderung stattgefunden. Eine „neue Mitte“ hat sich gebildet, die sich deutlich von den beiden Lagern unterscheidet, die wir aus der Geschichte von Industrieunternehmen als „Sozialpartner“ kennen. Diese Partnerschaft konnte sich zusammenfinden, weil beide Seiten – trotz aller Unterschiede – ein vitales Interesse am Gedeihen des Unternehmens hatten. Die „neue Mitte“ ist anders: Sie braucht keine Partnerschaft. Sie beansprucht für sich allein das Wissen und die Macht, um die „einzig richtigen“ und „einzig guten“ Ziele des Unternehmens zu bestimmen. Diese „neue Mitte“ gelangt auf dem Ticket der „Offenheit“ ins Unternehmen, um dann sogleich die Unternehmensgrenzen zu „erweitern“. Und diese Dehnung des Unternehmens geschieht ohne Rücksicht auf die Stetigkeit wirtschaftlicher Erträge und positiver Bilanzen. Die Dehnung wird ja von Leuten getragen, die sich nicht im Unternehmen hocharbeiten mussten, sondern unternehmensfern zwischen Studien und Aktivismus – selbstverständlich global – unterwegs waren. So ist das Unternehmen für sie eigentlich gar kein fester Rahmen, gar kein „Haus“, dem sie sich zugehörig fühlen. Oder, um es einmal ganz einfach zu sagen: Sie lieben VW nicht.
Doch jetzt ist bei VW und vielen anderen Unternehmen in den verschiedensten Branchen eine Krise ausgebrochen. Nein, es ist keine Krise der unternehmerischen Vernunft, ganz im Gegenteil. Es ist eine Krise der Erweiterungen und Zusatzbelastungen, die auf Kosten und zu Lasten dieser Vernunft geschehen sind. Die ihre Grenzen eingerissen haben. Jetzt haben sich die Ausdehnungen als Überdehnungen erwiesen. In dieser Richtung kann es nicht weitergehen.

Die VW-Krise ist eine Überdehnungskrise

Aus den hier skizzierten Verschiebungen in der Grundaufstellung von VW ergibt sich ein dramatisches Gesamtbild. Die Verschiebungen waren Überdehnungen. Sie haben das Unternehmen jetzt an einen Abgrund geführt. Es steckt in einer historischen Sackgasse, in der es nicht einfach Abwarten kann, und erst recht keine Flucht nach vorn nach dem Motto „Jetzt erst recht“ versuchen kann. Es muss sich – je eher, desto besser – aus diesen zu weit vorgeschobenen Positionen zurückziehen, um wieder sicheren Boden unter die Füße zu bekommen und auch seinen inneren Zusammenhalt wiederzufinden.
Das Einfallstor war der Versuch, externe Kosten ohne Rücksicht auf die Unternehmens-Produktivität zu internalisieren. Zu diesem Versuch kam es, weil das Unternehmen von der scheinbaren Größe der externen Aufgaben verführen ließ. Und weil sich das Unternehmen auch von einer täuschenden Leichtigkeit dieser Aufgaben verführen ließ. Die technischen und geoökonomischen Probleme wurden kleingeredet und beschönigt. Diese Maßlosigkeit und Realitätsferne hatte sich über einen längeren Zeitraum im Unternehmen eingenistet. Aber sie ist keine Erfindung von VW, sondern eine allgemeine Erscheinung der sogenannten „postindustriellen“ Gesellschaft. Sie hat sich in Deutschland und anderen klassischen Industrieländern entwickelt. Nun aber sind es die Unternehmen, die die Folgen dieses Trends existenziell zu spüren bekommen. Es stellt sich heraus, dass die Ausdehnungen tatsächlich Überdehnungen waren. Die Externalitäten zeigen zunehmend ihre Sperrigkeit, Widrigkeit, Knappheit. Als Kräfte, die von außen kommen, zerren sie am Unternehmen und reißen es gewissermaßen auseinander. Sie lösen den technischen, wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Zusammenhang vieler Unternehmen – großer, mittlerer und kleiner Unternehmen – auf. Der Fall des großen und erfolgreichen deutschen Unternehmens Volkswagen ist hier exemplarisch.

Die Versuche, externe Kosten zu internalisieren, haben das Unternehmen zu Vorleistungen gezwungen, von denen gar nicht sicher war und weiterhin ist, ob sie eines Tages so hohe Erträge erbringen, dass die Vorleistungen sich wirklich rechnen. Sie können eigentlich nicht als Investitionen verbucht werden. Aber die Sprache ist an diesem Punkt unscharf. Es ist vom „Potentialwachstum“ die Rede, aber da Technologien und Standorte verbucht, deren wertschöpfender Charakter gar nicht nachweisbar und bilanzfähig ist. Im Teil I dieser Textreihe wurde schon gezeigt, dass die Externalitäten eine im Prinzip unendliche Größe sind, und dass es eine Grundvoraussetzung für die unternehmerische Vernunft ist, eine Grenze zwischen „unternehmens-intern“ und „unternehmens-extern“ zu ziehen. Wenn den Unternehmen dieses Landes auferlegt würde, alle möglichen Kosten präventiv auf sich zu nehmen und dann den Käufern ihrer Produkte in Rechnung zu stellen, gäbe es keine Unternehmen mehr. Es würde eine baldige Zahlungsunfähigkeit der Unternehmen eintreten, und – in der Folge – auch eine Zahlungsunfähigkeit des Staates.
Es wurde im Teil I auch eine besondere Tücke dargestellt, die im Sammelbegriff „Externalitäten“ verborgen ist. Bei den Externalitäten gibt es eine Gegenläufigkeit von sozial-humanen Anforderungen und ökologischen Anforderungen. Steigert man die sozial-humanen Anforderungen, geht das zu Lasten der ökologischen Anforderungen. Heute ist dieser Zwiespalt unübersehbar geworden, denn es gibt eine Steigerung der Anforderungen auf beiden Seiten und ein ständiges Hin und Her zwischen der Betonung der einen Externalität und der Betonung der anderen Externalität. Dies Hin und Her reißt die Unternehmen hin und her. Und es zerreißt sie über kurz oder lang.
Es ist in unserer Gegenwart, insbesondere in den klassischen Industrieländern, eine fundamentale Unredlichkeit am Werk – wie sie in der Geschichte beispiellos ist. Man steigert die ökologische Betroffenheit in extremste Größenordnungen (die tägliche Beschwörung einer terminalen, planetarischen Klimakatastrophe) und treibt man die sozial-humanen Ansprüche auf extremste Höhen: Sozialer Aufstieg für alle, Ausgleich aller Handikaps, Privilegien für immer neue Sondergruppen, endlose Selbstfindung statt Berufsausbildung, Zurückdrängung der Berufstätigkeit zu Gunsten aller möglichen Auszeiten zur „Work-Life-Balance“. Die Geschichte der Menschheit hat gewiss monströse Totalitarismen gesehen, mit beispiellosen Massenvernichtungen. Aber was heute an Weltuntergangs-Beschwörung bei gleichzeitiger eitelster Selbstverwirklichung veranstaltet wird, ist – auf eine andere Weise – auch monströs.

So steht VW vor einer sehr grundlegenden Aufgabe. Das Unternehmen Man muss aus der Überdehnungskrise herausfinden, und das geht nur durch eine Rehabilitierung der unternehmerischen Vernunft. Die Unternehmen müssen in ihrer Eigenart und ihrer spezifischen Leistung verstanden und geschützt werden. Sie brauchen keine „Förderung“ von außen, sondern einen defensiven Schutz vor Überlastungen. Das aber bedeutet heute: einen massiven Rückbau von bereits eingeführten Zusatzaufgaben, Normenverschärfungen, Kontroll- und Berichtspflichten, Rechtsunsicherheiten… Die Unternehmen haben aber auch eine große interne Aufgabe. Sie müssen ihre Unternehmen von den externen Lasten und Aufgaben befreien, die sich in ihnen schon festgesetzt haben und in das Unternehmen integriert wurden, obwohl es sich im Grund um Fremdkörper handelt.
Die Grundrichtung, um aus der Überdehnungskrise bei VW herauszufinden, muss also defensiv sein. Sie muss auf den Punkt zurückkommen, wo das Unternehmen die Gebote der unternehmerischen Vernunft verlassen hat und gewissermaßen „falsch abgebogen“ ist. Es geht um einen Rückgriff. Aber auch um ein tieferes, besser fundiertes Verständnis der unternehmerischen Vernunft – damit ihre Verteidigung in Zukunft besser gelingt. Es geht also um eine Rekonstruktionsaufgabe. Dazu mehr im dritten und letzten Teil dieser Text-Serie.

VW – Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft

Bei der Volkswagen AG geht es nicht um eine der gewohnten Strukturwandels-Krisen, sondern um die ganze Existenz als großer Automobilhersteller. Und auch die gegenwärtige Wirtschaftskrise ist eine Unternehmenskrise.

VW – Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft

02. Februar 2025

Die VW-Krise ist erstmal aus den Schlagzeilen. Aber sie ist durch die im Dezember vereinbarten Sanierungsmaßnahmen nicht gelöst. Es ist der Glaube an die Kräfte eines „Kompromisses“, eines „Zusammenhaltens“ in „Zuversicht“, der dazu führt, erstmal nicht tiefer in den Abgrund zu schauen, vor dem der größte deutsche Autobauer steht. Dabei kommt in der Krise von VW exemplarisch die Misere der deutschen Wirtschaft zum Ausdruck. Diese Misere liegt nicht daran, dass ein an sich wohlbegründeter Strukturwandel nur „verschlafen“ wurde. Die deutsche Wirtschaft befindet sich nicht nur in einer Übergangskrise, bei der eigentlich feststeht, dass tatkräftige Unternehmen sie meistern können. Nein, der ganze Übergang ist fragwürdig geworden. Es gibt berechtigte Zweifel, ob die gesetzten „obersten Ziele“ einer technologischen Neuerfindung des Automobils und einer weiteren Globalisierung der Unternehmens-Standorte überhaupt unternehmerisch vernünftig sind. Das aber würde bedeuten, dass die Krise der deutschen Wirtschaft in ihrem Kern eine existenzielle Unternehmenskrise ist, bei der es darum geht, ob in Zukunft überhaupt noch Unternehmen die tragenden Säulen der Volkswirtschaft sein werden.
Man könnte also erwarten, dass nun die Grundentscheidungen, die die Tätigkeit der Unternehmen belasten, überprüft und gegebenenfalls revidiert werden. Aber das passiert nicht. Die Krise ist an einem toten Punkt angelangt, wo einerseits noch ein Weiter-So praktiziert wird, und andererseits das Vertrauen in eine nachhaltige Überwindung der Krise Tag für Tag geringer wird. So herrscht eine merkwürdige Unentschiedenheit. Ist das eine persönliche Charakterschwäche der Verantwortlichen? Nein, eher ist es ein Fehlen klarer Kriterien, nach denen die Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit des eingeschlagenen Kurses beurteilt werden kann. Die Krise ist also letztlich eine Krise des unternehmerischen Urteilsvermögens. Die deutsche Wirtschaftskrise ist – ohne dass man sich dessen schon recht gewahr geworden wäre – eine Krise der unternehmerischen Vernunft. Um sie muss die Auseinandersetzung geführt werden. Und dieser Kampf findet innerhalb der Unternehmen statt, wo die Signale unübersehbar sind, dass die selbst gesetzten Ziele sich außerhalb der Grenzen unternehmerischer Vernunft bewegen. Und sie findet zwischen den Unternehmen und den von außen gesetzten politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen statt, die sichtlich die Anforderungen der unternehmerischen Vernunft missachten.
Deshalb ist die Krise von VW ein bedeutsames und schwerwiegendes Geschehen – sowohl für dies einmal so große und erfolgreiche Unternehmen, als auch für den Industriestandort Deutschland, dessen erfolgreiche Geschichte VW über Jahrzehnte mitgeschrieben hat.

Die VW-Krise ist nicht überwunden

Am 23. Dezember 2024 erschien im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein ganzseitiges Interview mit dem VW-Vorstandsvorsitzenden Oliver Blume. Zu diesem Zeitpunkt war ein Abkommen mit der IG Metall und dem Betriebsrat über einen Personalabbau und Einsparungen bei Löhnen und Gehältern schon beschlossene Sache. Blume bezifferte die „nachhaltigen Kostenentlastungen“ für die Volkswagen AG auf 15 Milliarden pro Jahr. Das bedeutet real eine Reduzierung der Produktionskapazitäten um rund 730000 Fahrzeuge, die dauerhaft sein soll. VW schrumpft also. Das entspricht nach Blume, „dem Produktionsumfang von zwei bis drei großen Werken“. Und er fügt in dem Interview hinzu: „Wichtig ist, dass wir unsere Kernmarke VW so aufstellen, dass sie ihre Investitionen selbst finanzieren kann.“ Man könne und wolle sich nicht mehr auf unterstützende Einnahmen aus dem Auslandsgeschäft verlassen, „beispielsweise aus China“. Und der VW-Chef spricht auch von den politisch gesetzten Rahmenbedingungen und davon, dass „das Wirtschaftsmodell Deutschland adjustiert werden“ müsse:
„Unsere Industrie hat lange davon gelebt, dass wir hier hervorragende Produkte entwickeln und produzieren, um sie in die ganze Welt zu liefern. Jetzt sehen wir geopolitische Verschiebungen und Protektionismus. Und technische Regulierungen, die sich global weit auseinanderentwickeln.“
Das ist erstmal sehr richtig und eine Portion Realismus. Der Markteinbruch bei den Elektro-Automobilen in Europa und die schweren Verluste von VW-Marktanteilen in der Welt, insbesondere in China, zeigen also Wirkung. VW ist existenziell gefährdet, und diese Situation ist durchaus exemplarisch für den Industriestandort Deutschland. Aber bedeutet das geschlossene Abkommen, dass VW über den Berg ist? Die Krise betrifft tragende Säulen des Geschäftsmodells, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten verfolgt wurde. Einsparungen und Reduzierungen der Produktionskapazitäten reichen da nicht.

Es geht um die Grundaufstellung des Unternehmens

Gemessen an der Tiefe der Krise sind die Aussagen, die der VW-Chef Blume in dem Interview macht, ziemlich schwach. Sie sind eine Mischung von Lösungen, aus denen nicht hervorgeht, mit welcher Grundaufstellung das Unternehmen aus der Krise herauskommen soll. Insbesondere sind die Kürzungen nicht mit einer Zurücknahme von Zielen verbunden, die zu der jetzigen Situation geführt haben. Der harte Kern der VW-Krise besteht ja darin, dass zwei große Auswege, auf die VW gesetzt hat, sich jetzt als ruinös erweisen. Zum einen ist der technologische Ausweg in die E-Mobilität keine Lösung für das Automobil als Massenverkehrsmittel. Setzt ein großer Autohersteller auf diese Zukunft, wird er seine Größe verlieren. Zum anderen ist auch der Ausweg in eine noch stärkere Globalisierung versperrt. Eine Exportoffensive, wie sie in vergangenen Jahrzehnten erfolgreich war, scheitert heute daran, dass andere Länder zu starken Hersteller-Ländern geworden sind. Also steht auf zwei zentralen Feldern bei nüchterner Betrachtung eine wirkliche Wende zum Besseren nicht in Aussicht. Die Einschnitte, die bei VW jetzt beschlossen wurden und die nicht bloß als kurzfristige Anpassung verstanden werden, sind im Grunde ein Eingeständnis, dass es hier kein Weiterkommen gibt.
Aber die Führung des Unternehmens und auch die Vertreter der Belegschaft scheinen nicht die Kraft aufzubringen, sich von diesen Grundentscheidungen wirklich zu verabschieden. Es wird noch nicht einmal in klaren Alternativen gedacht. Über dem Interview in der FAZ steht die Aussage des VW-Chefs „Es liegt noch viel Arbeit vor uns“. Das kann man als vorsichtigen Hinweis lesen, dass VW noch große, schwierige Entscheidungen vor sich hat. Aber das „viel Arbeit“ kann auch dahingehend verstanden werden, dass es nun nur noch um viele kleinere Details geht. Und dann liest man den Satz: „Die grundsätzliche strategische Richtung hin zur E-Mobilität ist klar“. Blume will also an der bisherigen technologischen Grundentscheidung weiter festhalten. Soll also „viel Arbeit“ in ein Fahrzeug-Angebot investiert werden, für das kein entsprechender Markt da ist?
Bei den gewaltigen betrieblichen und infrastrukturellen Investitionen für die E-Mobilität ist es höchst zweifelhaft, ob sie wirklich als reale Investitionen zu zählen sind. Das heißt, ob sie wirklich eines Tages Überschüsse erzeugen, aus denen das ausgegebene Geld wieder hereingeholt wird. Andernfalls hätte man da nur eine gigantische Investitionsruine errichtet. Soweit das durch eine zusätzliche Sonder-Verschuldung von Unternehmen und Staat finanziert wird, ist mehr als fragwürdig, aus welchen Erträgen die Schulden je abgetragen werden können. Die Energiewende könnte sich also als ein ewiger Zuschussbetrieb und als eine schwere Belastung für die ganze Volkswirtschaft erweisen. Und auch bei der Globalisierung sind die deutschen Autobauer und politisch Verantwortlichen im Land an einem toten Punkt angelangt. Sie mögen sich nicht vom Exportbasis-Dogma trennen, und müssen dann zusehen, wie andere Länder ihre Binnenmärkte selbst bedienen. Und wie sie – siehe China – auch ihrerseits auf den Weltmarkt vordringen.
Die Vorstellung, dass das Unternehmen VW eigentlich auf dem richtigen Kurs ist, und nur einzelne Anpassungen erforderlich sind, ist daher falsch. Es geht nicht um eine Übergangssituation, die nur irgendwie „überbrückt“ werden muss, um dann wieder in Fahrt zu kommen. Diese Vorstellungswelt bewegt sich in Stimmungen zwischen Angst haben und Mut machen. Damit kommt man in der Welt der Realwirtschaft nicht zurecht. Kein Unternehmen kann sich auf dieser Basis längere Zeit halten. Es muss auf gegebene Realitäten mit eigenen Realitäten antworten. Umso wichtiger ist es, sich das Wesen und die Gesetze dieser unternehmerischen Realität noch einmal in Erinnerung zu rufen.

Über die unternehmerische Vernunft

Um die Misere von VW zu begreifen, muss man zunächst die Fähigkeiten und Anforderungen kennen, die das Wesen eines modernen Wirtschaftsunternehmens ausmachen. In dieser Hinsicht ist der eingangs zitierte Satz von Oliver Blume ein sehr richtiger und wichtiger Satz: „Wichtig ist, dass wir unsere Kernmarke VW so aufstellen, dass sie ihre Investitionen selbst finanzieren kann.“ Dieser Satz handelt von einer auf Dauer angelegten Fähigkeit moderner Unternehmen: Dass sie sich aus ihren eigenen Überschüssen immer wieder reproduzieren können. Die Produktivität von Unternehmen misst sich nicht an einmaligen Überschüssen, sondern an Überschüssen, aus denen immer wieder von neuem Einkommen der Belegschaft und der Kapitaleigner bezahlt werden können. Und aus denen die Investitionen finanziert werden können, damit die Reproduktion der Unternehmen gewährleistet ist. Das kann die einfache Reproduktion sein, die den natürlichen Verfall und den Verschleiß in der Produktion ausgleicht. Oder die erweiterte Reproduktion, die die Maschinen und das Arbeitsvermögen des Unternehmens quantitativ oder qualitativ vergrößert.
Es geht also erstens um Eigenständigkeit, und zweitens um Dauerhaftigkeit. Beides ist im Profit enthalten, der an den Kapitaleinsatz gekoppelt ist. Von „Kapital“ im Unterschied zu bloßem „Reichtum“ kann erst die Rede sein, wenn es diese sich selbst reproduzierende Fähigkeit hat. Die unternehmerische Vernunft muss dieser Eigenschaft gerecht werden. Dass sie das tatsächlich kann, ist eine historische Errungenschaft. Die Zivilisation musste eine bestimmte Höhe der Produktivität erreicht haben. Und eine bestimmte institutionelle Ordnung musste gewährleisten, dass die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung der Reproduktionsaufgabe dem oder den beteiligten Akteuren zugerechnet wurde – die Eigentumsrechte.

Gegenwertig wird der Zustand und die Bedeutung von Unternehmen vor allem mit dem Gründungsgeschehen (den „Start Ups“) verbunden. Aber das geht an der Hauptsache vorbei und führt in die Irre. Das „Gründen“ ist ja noch das Leichteste und immer schnell getan. Obendrein wird hier das (Risiko-)Kapital größtenteils von fremder Hand zur Verfügung gestellt. Es wird gar nicht von den Gründern erarbeitet. Man kann eine große „Gründerszene“ haben, die zwar gewisse Umsätze macht, aber jahrelang keine Überschüsse erwirtschaftet.
Ist ein Unternehmen für die Einkommen und Investitionen immer mehr auf Schulden oder Subventionen angewiesen, ist es schon nicht mehr ein gesundes Unternehmen. Zu dessen Wesen gehört, eigenständig und dauerhaft Überschüsse erwirtschaften zu können. Wenn in der Unternehmens-Landschaft eines Landes ein immer größerer Teil der Unternehmen durch mehr Schulden oder Subventionen am Leben erhalten werden muss, kann von einer modernen, kapitalgetragenen Marktwirtschaft nicht mehr die Rede sein. Ohne eigenständige Unternehmen verliert auch das Land seine Eigenständigkeit. Und es verliert seine Motivation. Denn das ist ja der ökonomische Clou der Moderne: Dass sie zu Anstrengungen für positive Erträge motiviert, indem sie diese Erträge dort lässt, wo sie entstehen, und erst in einem zweiten Schritt einen Teil dieser Erträge für gemeinschaftliche Aufgaben und Infrastrukturen einzieht.

Diese Reproduktivität aus eigenen Überschüssen (Profiten) ist der gute harte Kern des Kapitalismus. Diese Reproduktivität beruht nicht auf einer Moral, die von außen den Unternehmern auferlegt werden muss und in die Unternehmen hineingetragen werden muss. Sondern sie ist Teil der Logik des Kapitals. Mit der Re-Investition von Teilen des Überschusses steht und fällt das Gesamtkapitals. Würde man die Überschüsse als bloßen Schatz behandeln und Stück um Stück verzehren, wäre bald der Produktionszusammenhang nicht mehr aufrechtzuerhalten – geschweige denn zu erweitern. Das ist ein mächtiges, originär unternehmerisches Motiv zur Reproduktivität.
Ein oberflächlicher Blick sieht bei der Produktivität eines Unternehmens nur den einmaligen Akt. Und das gibt Raum für alle möglichen Vorurteile: Ein heute sehr verbreitetes Vorurteil lautet, dass in der Welt der Unternehmen der Imperativ des „immer höher, immer weiter, immer größer, immer schneller“ herrschen würde. Dass nur die höchsten Profite zählen würden. Dass die kapitalistische Konkurrenz deshalb eine gnadenlos verdrängende Konkurrenz auf Leben und Tod wäre. Wer nicht bei dieser Maximierung mitmache, sei zum Untergang verurteilt. Und da alle mitmachen, kommt es zu einer ruinösen Steigerung, die schließlich zu einer terminalen Krise führen würde.
So macht man der ökonomischen Vernunft einen falschen Schauprozess, in dem man ihre Eigenschaften von vornherein völlig verzerrt hat. Man übersieht geflissentlich, dass es für das Kapital völlig logisch ist, bei einer Investition in eine erweiterte Reproduktion sehr vorsichtig zu sein – denn man setzt dann ja die erzeugten Überschüsse und auch das Kapital, das sie bisher erzeugt hat, aufs Spiel. Der Schauprozess basiert also im Grunde auf der Annahme, dass die Haftung mit eigenem Eigentum kein Grund zu besonderer Sorgfalt ist, sondern ein Grund zu besonderem Leichtsinn und grenzenloser Verschwendung.

Es geht hier um die Frage, ob der unternehmerischen Vernunft eine Kraft zur Selbstbegrenzung innewohnt oder nicht. Ein realwirtschaftliches Faktum kann zeigen, dass es diese Kraft gibt, und dass sie gar nicht in einer besonderen persönlichen Weisheit des Unternehmers besteht, sondern von den Gegenständen der unternehmerischen Tätigkeit. Es fällt nämlich auf, dass sich die Konkurrenz in verschiedenen Branchen zu sehr verschiedenen Unternehmenslandschaften führt. Es gibt keineswegs überall die Tendenz, dass nur einige wenige Monopolisten übrigbleiben und das Marktgeschehen unter sich ausmachen. Die Schwerindustrie führt, auf Grund des Kapitalaufwandes und der Unteilbarkeit von Produktionsprozessen zu wenigen Akteuren, während die Leichtindustrie viel mehr Unternehmen umfasst. Der Flugzeugbau weist höhere Konzentrationsgrade als der Automobilbau auf. Aber in beiden Branchen bietet die Spezialisierung von Flugzeugen bzw. Fahrzeugen auch Platz für kleinere Hersteller. Ebenso führen Teilbarkeiten des Herstellungsprozesses auch zur Trennung zwischen Hauptunternehmen und Zulieferern. Statt eines monotonen Trends zum „immer größer“ gibt es ein immer wieder neues Spiel der Grenzen. Und dies Spiel folgt weniger den Launen der Personen als den Veränderungen der Dinge.
Diese reproduktive Orientierung der unternehmerischen Vernunft bindet sie stets von neuem an die Realität dieser Welt. Die Tatsache, dass die Überschüsse eines Unternehmens zeitweilig die Form des Geldes annehmen, ändert an diesem Realismus nichts. Das Geld ist eine verallgemeinerte Form des Unternehmensprofits. Und es ist prinzipiell für die unterschiedlichsten Käufe (Rückverwandlungen in Sachwerte) offen. Aber dass heißt nicht, dass man sich darauf zurückziehen kann, diese abstrakte Form des Reichtums bloß als Schatz aufzuhäufen und anzubeten. Bei aller Offenheit ist die Rückverwandlung in die Bestimmtheit eines Sachwertes (ob als Einkommen oder als Investition) unverzichtbar. Die kapitalistische Ökonomie hat diese Rückverwandlung gewaltig ausgedehnt – allein schon durch die geschichtliche Entwicklung, in deren Lauf sie aus der Handelssphäre in die Produktionssphäre vorgedrungen ist. So hat die reproduktive Vernunft der Unternehmen ihr Potential erst richtig durchgesetzt.
Auch in anderer Hinsicht ist der Blick auf die Realwirtschaft und ihre Geschichte hilfreich: Sie zeigt, dass Unternehmen immer die Fähigkeit hatten, längere „träge“ Perioden zu überstehen, in denen es bei Technologie und Arbeitsverfahren sich einfach keine Gelegenheiten zu Erweiterung und Innovation gab. Eine kapitalistische Volkswirtschaft besteht immer auch aus Branchen, Unternehmen und Unternehmensteilen, die relativ „alte“ Produkte und Herstellungsverfahren verwenden. Das macht ihre Breite und Komplexität aus. Auch ihre Überlebensfähigkeit. Es hat daher nichts mit unternehmerischer Vernunft zu tun, wenn heute in Deutschland zwanghaft nach sogenannten „Zukunftstechnologien“ gesucht wird und nur diese als erstrebenswert betrachtet werden. Und diese Verengung der Zukunft auf das Neue dann als Stärkung der „Resilienz“ (Widerstandskraft in Krisen) gilt – wo diese Flucht nach vorne doch gerade krisenanfällig macht.
Es gibt kein höheres Gesetz, dass jedes kapitalistische Unternehmen immer nach einer erweiterten Reproduktion streben muss. Ein kapitalistisches Unternehmen braucht unbedingt Überschüsse (Profite), aber die Überschüsse müssen nicht so hoch sein, dass sie um jeden Preis eine Erweiterung tragen müssen. Es funktioniert auch bei einfacher Reproduktion: bei dem bloßen Ersatz des natürlichen und produktiven Verschleißes der Maschinen und Anlagen. In der Realität kommt es oft vor, dass ein Unternehmen in einem tragenden Teil bewährte Technologie, Maschinerie und Fachkönnen verwendet und in einem kleineren Teil mit neuen Dingen experimentiert. Dass es also Standbein und Spielbein hat.
Nur durch diese reproduktive Flexibilität ist die erstaunliche Beständigkeit des Kapitalismus zu erklären, die der Kapitalismus in den vergangenen Jahrhunderten gezeigt hat. Könnte er wirklich nur dem Steigerungs-Gesetz des Höher, Weiter, Größer, Schneller folgen, wäre er längst untergegangen.

Ein anderes grundlegendes Merkmal der unternehmerischen Vernunft wurde bisher noch nicht erwähnt. Es geht um die Dinge, die ein Unternehmen bei seiner Tätigkeit als Aufgaben (und Kosten) berücksichtigen kann, und die Dinge, die es als Aufgaben (und Kosten) nicht berücksichtigen kann. Es geht also um die Unterscheidung und Grenze zwischen den sogenannten „internen Kosten“ und „externen Kosten“. Zunächst einmal muss hier hervorgehoben werden, dass ein Unternehmen sehr viele und sehr verschiedene Kosten berücksichtigt. Aber einige Kosten sind im Prinzip unendlich groß und können daher nicht im vollen Umfang berücksichtigt werden. Die dadurch entstehenden Kosten würden jedwede Möglichkeit zu positiven Erträgen zunichtemachen. Zum einen können Unternehmen nicht Einkommen bezahlen, die alle Bedürfnisse der beteiligten Menschen befriedigen. Die menschlichen Bedürfnisse und Wünsche sind im Prinzip unendlich. Zum anderen können Unternehmen auch nicht alle Aufgaben der Naturerhaltung und Naturentfaltung erfüllen, weil auch diese Aufgaben im Prinzip unendlich sind. Auf beiden Seiten wird es also externe „soziale“ und „ökologische“ Kosten geben, die nicht „internalisiert“ werden können. Sie können nicht alle berücksichtigt werden, sondern müssen extern bleiben.
Dabei ist eine Tatsache noch gar nicht erwähnt worden, die die gegenseitige Beziehung der sozialen (menschenbezogenen) Kosten und den ökologischen (naturbezogenen) Kosten betrifft: Diese Beziehung ist eine konträre, gegenläufige Beziehung. Eine größere Steigerung bei der Erfüllung menschlicher Bedürfnisse und Wünsche muss mit einer stärkeren Belastung der Naturbedingungen und Ressourcen bezahlt werden. Eine stärkere Berücksichtigung natürlicher Knappheiten muss mit weniger Einkommen auf Seiten der Menschen bezahlt werden. Gerade diese Gegenläufigkeit der Aufgaben, die ein Unternehmen berücksichtigen muss, zieht der „Internalisierung externer Kosten“ enge Grenzen. Gewiss kann der technologische Fortschritt oder eine höhere Effizienz bei der Unternehmensorganisation die Spielräume etwas erweitern. Aber die Grenzen bleiben eng, und die Steigerungen müssen konkret auf dem jeweiligen Tätigkeitsfeld eines bestimmten Unternehmens oder einer bestimmten Branche wirksam sein. Eine generelle Wette auf ein allgemeines „Gesetz des Fortschritts“ hilft den Unternehmen nicht. Sie müssen immer von der konkreten Situation ihrer Industrie ausgehen. Sie müssen dabei immer mit der Möglichkeit rechnen, dass diese Industrie in einer historischen Phase ist, in der es keine großen Sprünge gibt, sondern nur kleinere und langsame Entwicklungsschritte. Für abstrakte Gesetze können sie sich nichts kaufen.

Die „Internalisierung externer Kosten“ ist ein großes Thema unserer Zeit. Nachdem dabei lange Zeit vor allem sozial-menschliche Bedürfnisse und Ansprüche gestellt wurden, werden jetzt zusätzlich ökologische Restriktionen (siehe Klimarettung, Rettung der Artenvielfalt) betont. Aber dabei geschieht nicht eine Internalisierung in dem Sinn, dass die gegenläufige Beziehung zwischen sozialen Kosten und ökologischen Kosten berücksichtigt wird. Vielmehr werden die ökologischen Aufgaben einfach zu den sozialen Bedürfnissen hinzuaddiert – sie werden also auf die fortbestehenden sozialen Bedürfnisse einfach draufgesattelt. Ein Beispiel sind die sogenannten ESG-Kriterien, über deren Erfüllung mittlere und größere Unternehmen nach einer EU-Verordnung penibel Bericht erstatten müssen. Hier werden die verschiedenen Kriterien auf einer Liste nebeneinandergestellt und nebeneinander behandelt. Ob und wie das Unternehmen diese Ansprüche in ihrer Produktionsaufgabe zusammenführen kann und positive Erträge erzielen kann, bleibt offen. Die Unternehmen werden zur Übernahme von zusätzlichen Aufgaben und Ausgaben veranlasst, die dann eventuell ihren Wertschöpfungs-Zusammenhang sprengen. Die Aufgabe der „Internalisierung“ wird den Betrieben nach dem Prinzip „Friss, Vogel, oder stirb“ vor die Füße gekippt.
Die „Internalisierung von externen Kosten“ ist daher keine wirkliche Internalisierung, sondern nur eine von außen dem Unternehmen auferlegte Zusatzlast. Sie ist ein Einfallstor für die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft. Man hört immer wieder das Argument, dass eine Nichtbeachtung human-sozialer und ökologischer Aufgaben auf die Dauer (wegen sozialer Unruhen und Naturkatastrophen) „viel teurer“ käme als eine sofortige Behandlung und Bezahlung als „Kosten“. Doch damit würde das Problem nur in die Unternehmen verlagert, die in den Ruin getrieben würden. Eine Wirtschaft mit positiven Erträgen würde in eine Defizitwirtschaft verwandelt, deren Verschuldung Tag für Tag wächst. In eine solche Wirtschaft würde niemand investieren. Und es gäbe auch kein Motiv mehr, bei der Arbeit Tag für Tag Mühe und Sorgfalt aufzubringen. Es gehört offenbar zur wirtschaftlichen Vernunft, dass sie einen erheblichen Teil der natürlichen und menschlichen Entwicklungen als Externa hinnimmt und sich nur, soweit es geht, vor den schlimmsten Folgen schützt. Dass man also viele Entwicklungen, an deren Ursachen man nichts ändern kann, in ihrem Verlauf „palliativ“ mildert.

Und noch ein Punkt ist hier wichtig. Die unternehmerische Vernunft ist nicht die einzige Vernunft, die in einem modernen Land vorhanden sein muss. Es gibt auch eine staatliche Vernunft, die sich von der unternehmerischen Vernunft unterscheidet und anderen Kriterien folgt. Der Staat unterliegt eigenen Leistungskriterien, auch er muss liefern – wie es exemplarisch in den verschiedenen Infrastrukturen ihren Niederschlag findet. Auch hier werden viele, verschiedene und gegenläufige Dinge integriert. Und auch hier gibt es Externa, die kein Staatswesen in seinen Strukturen auffangen kann. Doch zieht die staatliche Vernunft die Grenze zwischen intern und extern etwas anders als es die unternehmerische Vernunft es tut. Die unternehmerische Vernunft „produziert“. Sie geht induktiv vom Einzelding aus und kann in der wiederholten Herstellung von Produkten Überschüsse erwirtschaften. Die staatliche Vernunft ist nicht auf solche Überschüsse gerichtet, sondern setzt breiter an: Sie richtet sich auf eine Allgemeinheit und hebt deren Niveau. Ob es um Wegesysteme, Leitungssysteme, Müllentsorgung, Gesundheit, Bildung geht – immer richtet sich die staatliche Vernunft auf eine Allgemeinheit und leitet deduktiv daraus ihre Strukturen und Größenordnungen ab. Sie muss selber keine Überschüsse erwirtschaften, sondern nur „Bedingungen der Möglichkeit“ von Überschüssen herstellen. Der Staat finanziert sich aus diesen Überschüssen und ist insofern von einer eigenständigen und starken unternehmerischen Vernunft abhängig. Der moderne Staat hat seine eigenen sachlichen Effizienzgesetze. Er ist nicht in erster Linie ein personales Herrschaftssystem. Er hat seine eigenen Internalisierungs-Grenzen: Er kann nur einen Teil der sozialen Ansprüche und ökologischen Restriktionen integrieren. Generell kann man sagen, dass Staaten einen weiteren Umkreis von sozialen Ansprüchen und ökologischen Restriktionen internalisieren können. Aber das liegt nicht daran, dass ihre Vernunft einen höheren Standpunkt innehat oder moralisch besser ist, sondern dass sie nicht tagtäglich mit der Erzielung von Überschüssen beschäftigt sein muss.
Man kann es auch so ausdrücken: Die Gesamtheit der Unternehmen stellt eine große Produktionsmaschine dar, während die Gesamtheit der staatlichen Einheiten eine große Hebemaschine ist. Diese Unterscheidung ist wichtig. Die Differenzierung zwischen einer Unternehmenswelt und einer Staatswelt ist eine Errungenschaft moderner Länder. Sie ist effizienter als eine Vermischung von Unternehmen und Staat. Wenn Unternehmen wie ein Staat funktionieren sollen, oder wenn Staaten wie Unternehmen funktionieren sollen, kommt es zu einer Überlastung und Überdehnung – sowohl auf Seiten des Staates als auch auf Seiten der Unternehmen. Nur eine klare Differenzierung zwischen unternehmerischer und staatlicher Vernunft kann das vermeiden. Die unternehmerische Vernunft, um die es in diesem Essay geht, kann also niemals die alleinige Patentformel für ein modernes Land sein. Aber sie ist eine tragende Säule.

Die Zerstörung der unternehmerischen Vernunft

Eine nähere Betrachtung der unternehmerischen Vernunft – der „Unternehmensräson“, wenn man so will – kann helfen, besser zu verstehen, was bei VW auf dem Spiel steht, und welche Mechanismen hier am Werk sind. Wer bei unternehmerischer Vernunft nur an etwas denkt, das irgendwie „zu eng“, zu kurzsichtig“, „zu einseitig“, zu egoistisch“ ist, wird dazu neigen, sie mit zusätzlichen Aufgaben und höheren Zielen zu befrachten. Das führt zu einer Überlastung und zu einer Auflösung des Zusammenhalts und Zusammenhangs des Unternehmens. Das Unternehmen kann seine produktiven und reproduktiven Vorzüge gar nicht mehr zur Geltung bringen. Von dieser Art ist die VW-Krise. Ihre tieferen Gründe liegen nicht in einer Übertreibung oder „Radikalisierung“ der unternehmerischen Vernunft, sondern in einer Überlastung durch unternehmensfremde und uferlose Ziele. Mit einem anderen Begriff: Es handelt sich um eine Überdehnungskrise.
Wenn man versucht, den tieferen Gründen der VW-Krise nachzugehen, die auch eine Krise anderer großer Automobil-Unternehmen und eine allgemeine Unternehmens-Krise in Deutschland ist, dann stößt man immer wieder auf den gleichen Vorgang: auf Versuche, externe Veränderungen in interne Umstrukturierungen zu transformieren. Doch führen diese Internalisierungen zu einer Überdehnung der Unternehmen. Sie verzehrt ihre Wertschöpfung und damit auch die Ressourcen, auf denen ihre Fähigkeit zur eigenen Reproduktion beruht. Die bedingungslose „Öffnung“ eines Unternehmens für unkontrollierbare Faktoren und Entwicklungen zerstört seine Existenz.
Die VW-Krise ist keine Krise einzelner, isolierter Fehlentscheidungen, wie sie immer vorkommen und relativ leicht korrigierbar sind. Sie ist auch keine Krise im Rahmen eines Strukturwandels, bei dem eine sichere neue Struktur zur Verfügung steht, die an die Stelle der alten Struktur gesetzt werden kann. Die VW-Krise ist eine systematische Krise, die die Grundaufstellung des Unternehmens betrifft. Diese Krise hat insbesondere mit den Grenzen des Unternehmens zu tun. Diese Grenzen können nicht beliebig ausgedehnt werden, wenn nicht die Integrationsleistung des Unternehmens und seine (Re-)Produktivität Schaden nehmen soll.
Deshalb ist es wichtig, an das Wesen und die Eigenart der unternehmerischen Vernunft (und der realen Unternehmens-Welt) zu erinnern und diese gegen falsche Kritik in Schutz zu nehmen. Das ist offenbar in Deutschland bitter notwendig. Denn wir erleben gerade eine schwere Wirtschaftskrise, die sichtlich eine Überlastungskrise der Unternehmen ist. Nach langen Jahren, in denen die Unternehmen sich in ihren öffentlichen Äußerungen sehr zurückgehalten haben, ist seit einiger Zeit eine Änderung zu beobachten. Verschiedenste Unternehmerverbände sehen sich gezwungen, die Bedrohung ihrer Existenzgrundlagen deutlich auszusprechen.
Allerdings spielen Unternehmen als tragende Säule in Deutschland im politischen Diskurs dieses Landes selten eine Rolle. Man liest von „Brutto und Netto“, oder von „Arbeitsplätzen“, als würden Arbeitsplätze und Kaufkraft unmittelbar durch politisches Handeln erzeugt. Es wird auch der Eindruck erweckt, das politische Handeln könne – an den Unternehmen vorbei – Sozialleistungen oder Infrastrukturen einfach durch die Aufnahme von Schulden finanzieren. In Wirklichkeit lassen sie sich nur mittelbar finanzieren – durch das Bestehen einer Unternehmenslandschaft, in der positive Erträge erwirtschaftet werden. Da liegt die wirtschaftliche „Mitte“ dieses Landes.

Ist die Union reif für eine Wende?

Um den Niedergang von Wirtschaft und Staat in Deutschland zu beenden, genügt es nicht, sich von Rot-Grün zu distanzieren. CDU und CSU müssten sich klar und selbstkritisch von ihrer eigenen Politik der leichten Auswege verabschieden.

Ist die Union reif für eine Wende?

20. November 2024

Das abrupte Ende der Ampel-Koalition kann man als Erlösung begrüßen. Aber es gibt auch die Gefahr, dass die jetzige Beschleunigung der Dinge dazu führt, dass die tieferen Probleme des Landes aus den Augen verloren werden. Es geht um mehr als um die „Zerstrittenheit“ einer Regierung. In den vergangenen Jahren und Jahrzehnten haben in Deutschland schwerwiegende Eingriffe die Grundaufstellung von Wirtschaft und Staat stattgefunden, die sich nun als Irrweg erweisen. Mit dieser Aufstellung steuert das Land auf einen fundamentalen Engpass zu.
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war das Missverhältnis zwischen den Belastungen des Landes und seiner Produktivität so groß. Die Konsequenz ist eine Reproduktionskrise. Es gelingt nicht mehr, die Grundelemente von Wirtschaft und Staat aus den eigenen Erträgen zu finanzieren. Der Niedergang ehemals tragender Industriebranchen wie Automobilbau, Chemie und Maschinenbau ist viel mehr als eine konjunkturelle Krise. Das gleiche gilt für die immer größere Sanierungslücke bei der Brücken-, Straßen- und Schienen-Infrastruktur. Zur dieser Reproduktionskrise gehören auch die Nachwuchsprobleme in vielen Berufen und die sinkende Bereitschaft, längerfristige Investitionen von Kapital einzugehen.
Zugleich beobachten die Bürger auch einen Hoheits- und Substanzverlust bei den gemeinsamen Beständen und Rechtsgütern des Landes, die dem Staat anvertraut sind. Es gibt nicht nur einzelne Fehlentwicklungen, sondern insgesamt ein eklatantes Missverhältnis zwischen einer zunehmenden Gewaltneigung und Verwahrlosung im öffentlichen Raum einerseits und den Schutzleistungen des Staates andererseits. Für die Mehrheit der Bürger gehört es inzwischen zur Normalität, bestimmte Bahnhöfe oder Parks in den Abend- und Nachtstunden zu meiden. Bei der Massenimmigration laufen die Dinge ganz offensichtlich aus dem Ruder, aber das Regierungshandeln läuft oft darauf hinaus, dass die Bürger diesen Zustand hinnehmen sollen. Ähnliches lässt sich von der Leistungskrise des Bildungssystems sagen.

Es sind die elementaren Errungenschaften, die unsicher geworden sind

Bemerkenswert an der deutschen Krise ist, dass es gar nicht hochspezielle und unerhört neue Dinge sind, die fehlen. Sondern es sind eigentlich elementare Errungenschaften, die unsicher geworden sind. Die „einfachen“ Dinge gelingen nicht mehr. Die Bürger sehen auch, dass die so stark ins Rampenlicht gestellten „Innovationen“ oft als Ersatz wenig taugen, sondern das Leben umständlicher machen.
Diese Entwicklung geht auf Kosten eines zentralen Elements jeder modernen, freiheitlich-demokratischen Ordnung: den selbsttragenden Grundeinheiten.
Die Haushalte der Bürger, die Unternehmen, die Kommunen werden immer mehr mit Aufgaben überfrachtet und von Subventionen abhängig gemacht. Sie verlieren die Fähigkeit, ihre Dinge selbst zu bestimmen und das mit den Mitteln und dem Wissen zu tun, über die sie selbst verfügen. Wie hieß noch Immanuel Kants Wahlspruch der Aufklärung: „Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Für die Ordnung eines Landes bedeutet dieser Wahlspruch, dass die Grundeinheiten von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft so eingerichtet sein müssen, dass sie aus eigener Mündigkeit und eigenen Mitteln ihr Dasein gestalten können. Von dieser elementaren Souveränität hat sich Deutschland weit entfernt. Deshalb kommt jetzt gerade aus den Unternehmen, aus den Kommunen und aus den Bürger-Haushalten die Klage: Unsere eigenständige Existenz wird kaputt gemacht.

Leichte Auswege gibt es nicht mehr

Einige Jahrzehnte lang konnte man in Deutschland darauf setzen, dass die Produktivität der deutschen Industrie und die Tragfähigkeit der Infrastruktur so hoch waren, dass das Land bei Konjunktur-Einbrüchen und einzelnen Struktur-Krisen „wie von selbst“ immer wieder auf die Füße fiel. „Politik“ bedeutete da nur ein begleitendes, moderierendes, allenfalls überbrückendes Handeln.
Ebenso beruhte die internationale Stellung Deutschlands auf einem Produktsegment, das im Zuge des Wachstums der Weltwirtschaft stark nachgefragt wurde – wie Maschinen- und Anlagenbau oder die Produktion von Automobilen gehobener Standards. Gelegentliche Schwächen im deutschen Binnenmarkt konnten durch Exportstärke aufgewogen werden. In politisch-militärischen Krisen konnte man im Schatten der USA eine eher weiche, vermittelnde Rolle spielen.
So gewöhnte man sich hierzulande daran, von wirtschaftlichen und politischen Krisen mit einer routinierten Leichtigkeit zu sprechen. Immer wieder wurde die Erwartung geweckt, dass „wir gestärkt aus der Krise hervorgehen werden“. Was die Regierenden nicht daran hinderte, im gleichen Atemzug die Gefahr immer größerer „sozialer“ und „ökologischen Krisen“ in düsteren Farben an die Wand zu malen.
Doch nun zeigt sich die Krise an einer Stelle, an der man das Land für unverwundbar hielt: Die Überschüsse, die dem Land früher über alle Krisen hinweghalfen, stehen nicht mehr zur Verfügung. Auch der Ausweg auf die Exportmärkte wird zum Engpass, denn immer mehr Länder stellen die Produkte des „deutschen Segments“ nun selber her oder beziehen sie von anderen Lieferanten – siehe China.
Auf einmal muss Deutschland die eigene industrielle Basis rehabilitieren. Zugleich erlauben die poltisch-militärischen Krisen kein leichtes Mitfahren mehr. Aber eine „Flucht nach vorne“ in eine neue europäische Weltmacht-Politik wäre auch keine Lösung, sondern abenteuerlicher Leichtsinn. Vielmehr müssten in dieser Lage viel strikter die Grenzen der deutschen Möglichkeiten als mittelgroßem Land klar definiert und gewahrt werden.
In dieser Lage wäre es ein Gebot der Redlichkeit, offen zu sagen, dass der gewohnte Ausweg aus Krisen jetzt nicht mehr funktioniert. Und eine Revision der Grundaufstellung dieses Landes vorzunehmen. Doch die Regierung der „Ampelkoalition“ brachte die Kraft zu dieser Redlichkeit nicht auf. Ihre Krisenpolitik folgte dem Schema längst vergangener Jahrzehnte: Man setzte darauf, dass „Innovation“ und „Exportüberschuss“ schon bald wieder die zusätzlichen Erträge liefern würden, um aus der Krise „herauszuwachsen“.

Substanzverzehr und Verschuldung

Man baute eifrig weiter an der „großen Transformation“. Und man versuchte, mit teuren Subventionen und zusätzlichen Leistungen für „Soziales“ gute Stimmung zu machen und nochmal etwas Zeit zu kaufen. Einerseits wurde so die Substanz verzehrt, andererseits gewöhnte man sich mit dieser Politik an eine ständig wachsende Verschuldung. Man deklarierte „Notlagen“ und griff zu rechtswidrigen Umbuchungen. Man gelangte schließlich an den Punkt, dass die im Grundgesetz verankerte „Schuldenbremse“ angetastet werden sollte. Exakt an diesem Punkt ist die Ampelkoalition zerbrochen.
Wie zu hören ist, will der rot-grüne Ampelrest diese Scheinlösungen durch Schuldensteigerung bis zu den Neuwahlen weiterverfolgen, eventuell im Rahmen einer europäischen Gemeinschafts-Verschuldung. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die Ursache zu benennen, die bis zu diesem Punkt geführt hat: Es ist der Versuch, Wirtschaft und Staat unter einen höheren Zweck zu stellen: das „Soziale“ und das „Ökologische“. Es liegt auf der Hand, dass SPD und Grüne sehr empfänglich für eine solche sozial-ökologischen Verschiebung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sind.
Doch was ist eigentlich mit der CDU/CSU? Die Christdemokraten waren ja einmal so etwas wie die Gründungs- und Ordnungspartei der Bundesrepublik. Sie hatten die Weitsicht, um wichtige Grundentscheidungen für Staat und Wirtschaft zu treffen. Und sie hatten die Statur, um sie auch durchzusetzen und nachhaltig zu wahren. So richteten sich immer dann, wenn Deutschland vor schwierigen Entscheidungen stand, die Blicke auf die Union. Auch jetzt bieten sich die christdemokratischen Parteien als die große und einzige Alternative für Deutschland an.
Allerdings gibt es hier ein großes Fragezeichen. Denn in der jüngeren Vergangenheit haben die beiden Schwesterparteien in ihrer Ordnungsaufgabe versagt. Sie haben selber einen beträchtlichen Anteil an der Weichenstellung, die Deutschland auf das falsche Gleis gebracht hat. Sie haben an der Illusion leichter Krisen-Auswege führend mitgewirkt. Und sie sind auch jetzt weit davon entfernt, von dieser Illusion ausdrücklich Abschied zu nehmen.

Die CDU und das Ziel „Klimaneutralität“

Im neuen Grundsatzprogramm der CDU, das im Frühjahr 2024 beschlossen wurde, findet sich folgender Satz: „Bei einem Prozent Weltbevölkerung und zwei Prozent CO2-Ausstoß global wollen wir zu 20 Prozent zu der Lösung beitragen: mit Technologien für die Welt.“ Dieser Satz stammt von Friedrich Merz persönlich, wie man einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom Mai entnehmen kann. Er drückt die Erwartung aus, dass man die „Klimaziele“ (die nicht in Frage gestellt werden) mit einer Stärkung der deutschen Wirtschaft und ihrer Rolle in der Welt verbinden kann.
Das scheint auch die generelle Botschaft des neuen CDU-Grundsatzprogramms zu sein, wenn man Andreas Jung, dem stellvertretenden Parteivorsitzenden, folgt. Er wird in der „Frankfurter“ mit folgenden Worten zitiert: „Wir sind die Partei der Nachhaltigkeit, die Wirtschaft, Umwelt und Soziales zusammenbringt. Nur wenn wir ein starkes Industrieland bleiben, erreichen wir auch die Klimaziele.“
Das hört sich so an, als sei das Industrieland Deutschland bei der CDU in guten Händen. In Wirklichkeit wird hier ein Junktim zwischen allen möglichen Zielen formuliert. Eine Zurücknahme oder auch nur eine Verschiebung der Klimaziele wird ausgeschlossen. Dabei sind bei den Ausgaben für „Soziales“ die Einsichten schon weiter. Dort wird vielfach offen ausgesprochen, dass es mit dem „Zusammenbringen“ nicht getan ist, sondern Kürzungen unvermeidlich sind. Doch bei Umweltthemen ist die Union offensichtlich nicht zu diesem Schluss gelangt.
Die „Klimaziele“ sind inzwischen durch höchste Institutionen festgeschrieben. Jede Revision oder Relativierung wird dadurch extrem erschwert. Und es geht nicht nur um Ziele, sondern um handfeste Maßnahmen. Immer höhere Normen und Kosten, immer weitergehende Verbote sind beschlossene Sache. Die Klimaziele haben eine Prioritätsstellung im Land erobert, bei der für die Bürger nur die Alternative „Friss oder Stirb“ übrig bleibt.

Das Klimaurteil des Bundesverfassungsgerichts

Das ist nicht irgendein „grüner Ausrutscher“, der dem Geist der Christdemokraten eigentlich fremd ist. Im Gegenteil: Die Klimapolitik ist von prominenten Vertretern der CDU aktiv in die höchsten Institutionen Deutschlands und Europas transportiert worden. Das gilt für die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel genauso wie für die Vorsitzende der EU-Kommission Ursula von der Leyen wie auch für Stephan Harbarth, den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und Vorsitzenden jenes ersten Senats, der das Klimaurteil vom März 2021 gefällt hat.
In diesem Urteil wurde die Aufstellung eines Fahrplans zur Erreichung der Klimaneutralität Deutschlands zum Verfassungsgebot erklärt und daraus direkt Handlungspflichten des Parlaments (der Legislative) und der Regierung (der Exekutive) abgeleitet. In diesem Urteil ist der Fall, dass das Schutzgebot des Klimas mit der Existenz Wirtschaft und Staat in Konflikt gerät und eine Abwägung von Rechtsgütern vorzunehmen ist, gar nicht vorgesehen. So ist eine Revision der Klimaziele vom höchsten deutschen Gericht eigentlich ausgeschlossen worden. Der Marsch in die Klimaneutralität wird damit zu einer Art Zweitverfassung der Bundesrepublik.
Die Aufnahme des Klimaziels ändert dabei das Wesen der Verfassung. „Klimaneutralität“ ist nur ein Postulat, das dem Bereich von Wunsch und Vision zugehört. Eine Verfassung, die aus Postulaten besteht, ist etwas ganz anderes als eine Verfassung, deren Rechte und Pflichten sich auf die gegebenen Ressourcen und realgeschichtlichen Errungenschaften eines Landes beziehen.
Das Ziel „Klimaneutralität“ legt die Bundesrepublik auf die sogenannte „große Transformation“ fest. Sie macht aus unserem Grundgesetz eine Transformations-Verfassung. Mit anderen Worten: Sie wirft das Land in den Strom einer Veränderung, deren erfolgreicher Abschluss noch in den Sternen steht. Denn hinreichende technologische und zivilisatorische Voraussetzungen für das Erreichen der Temperaturziele sind noch gar nicht in greifbarer Nähe. Das Urteil ist daher ein tiefer Einschnitt in der deutschen Verfassungsgeschichte. Und an diesem Urteil war mit Stephan Harbarth ein ehemaliger stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beteiligt.

Wettbewerbs-Metaphysik

Roland Koch, Ex-CDU-Ministerpräsident von Hessen und gegenwärtig Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung konstatierte in seiner wöchentlichen Kolumne („Erhard heute“) Anfang Oktober: „Der Kern des europäischen Klimapaktes ist die schrittweise Verteuerung von CO2-Emissionen, um den Anreiz zu schaffen, fossile Energieträger durch klimafreundliche Alternativen zu ersetzen. (…) Ohne die sichere Erwartung der Zertifikate-Verknappung und des Preisanstiegs rechnen sich weder E-Autos noch Wasserstoff-Wirtschaft noch Wärmepumpen und so weiter. Nur wenn das allen klar ist, beginnt der Wettbewerb um preiswerte E-Autos, kostengünstige und flächendeckende Wasserstoffversorgung und effiziente neue Heizungssysteme.“
Während die deutsche Wirtschaft in diesem Herbst 2024 nicht aus der Rezession herausfindet, sieht Koch seine Aufgabe darin, die EU-Klimapolitik zu retten. Die zitierte Passage enthält eine wundersame Wandlung: Zuerst wird alles teurer, damit es „klimafreundlich“ wird. Dann aber wird auf einmal alles billiger: Auf einmal sollen E-Autos „preiswert“ sein, soll es eine „kostengünstige und flächendeckende Wasserstoffversorgung“ geben, und die neuen Heizsysteme sollen so „effizient“ sein, dass die Bürger ihre bisherige Heizung schnellstmöglich zum alten Eisen werfen wollen.
Das ist nicht eine von Kapital und Arbeit getragene Marktwirtschaft, sondern eine naive Wettbewerbs-Metaphysik. Wie soll die Verteuerung der Güter, die ja durch die ökologischen Eingriffe in die Produktionssphäre verursacht ist, einfach „durch Wettbewerb“ verschwinden? CO2-Emissions-Zertifikate kann man schnell beschließen, aber die Entwicklung von Technologien und Arbeitsprozessen ist ungleich zäher. Oft erweisen sich vielversprechende Zukunftsprojekte als reine Luftschlösser.
Roland Koch will nicht die Klimaziele revidieren, sondern die Verteuerung der fossilen Energieträger nur ergänzen – durch das sogenannte „Klimageld“. Es soll an „einkommensschwache Haushalte“ gezahlt werden. Finanziert werden soll es aus den Einnahmen durch die CO2-Zertifikate. Ihr Verkauf spült einen Batzen Geld ins Staats-Säckel, und da denkt Herr Koch: Na super, da kann man einfach einen Teil an die Bedürftigen zurückgeben, und alle gesellschaftlichen Probleme sind erledigt.
Die Tatsache, dass die CO2-Einnahmen erstmal von der ganzen Gesellschaft bezahlt werden müssen, taucht gar nicht mehr auf. Die gigantische Kostenwelle, die eine Verteuerung der Energie quer durchs ganze Land auslöst, soll weiterrollen. Sie muss weiterrollen, sonst kann das Klimageld ja nicht bezahlt werden – fürwahr eine sozialökologische Großtat.

Die Standhaftigkeit Ludwig Erhards

Was Roland Koch vorschlägt, ist das glatte Gegenteil von dem, was Ludwig Erhard vertrat. Das vorgeschlagene „Klimageld“ ist Teil aller möglichen Konsum- und Investitionsbeihilfen, die jetzt, wo allmählich die wahren Kosten der „großen Transformation“ sichtbar werden, installiert werden. Hier findet nicht nur eine neue Ausdehnung von Sozialausgaben statt, sondern eine sozialökologische Zentral-Bewirtschaftung des ganzen Landes. In diesem Räderwerk gibt es weder Platz noch Motivation für die Leistungen von Unternehmern und Belegschaften. So kann das Brachfallen von vielen Wirtschaftsstandorten nicht verhindert werden. Und so wird auch kein verlorener Produktionszweig wieder ins Land zurückgeholt.
An dieser Stelle ist eine Rückbesinnung auf die tatsächliche Leistung Ludwig Erhards sinnvoll. In der Aufbauphase der Bundesrepublik, vor dem Hintergrund der Zerstörungen und Knappheiten nach dem zweiten Weltkrieg, gab es starke Tendenzen, ein Zentral-Bewirtschaftungssystem einzuführen. Die Ordnungspolitik Ludwig Erhards misstraute dagegen dem bloßen „Machen“ von oben und setzte darauf, die eigenständige Handlungsfähigkeit der Unternehmen, der Bürger-Haushalte und der verschiedenen Staatsebenen wiederherzustellen. Das bedeutete, dass nicht alle Ansprüche sogleich bedient und alle Notlagen sogleich behoben werden konnten. Die Ordnungspolitik hatte also auch ihre eigenen Härten.
So waren damals in Deutschland Weitsicht und Durchhaltevermögen gefragt. Das war in den kargen, angespannten Nachkriegsjahren alles andere als selbstverständlich. Aber es gelang. Dazu hat damals – vor allem in Wirtschaftsfragen – die ordnungspolitische Standhaftigkeit von CDU und CSU ganz wesentlich beigetragen. Es wurde zum Markenkern der Christdemokratie, aber auch – für einige Zeit – zum Markenkern des politischen Lebens der Bundesrepublik.

Ordnungspolitik: Härte und Freiheit

Wo es einst diese Grundfähigkeit im Lande gab, klafft heute eine große Leerstelle. Das ordnungspolitische Versagen der heutigen Christdemokratie macht diese Leerstelle besonders deutlich. Wir haben keine klare Vorstellung mehr von dem, was eine gute Grundaufstellung leisten könnte. Doch wir sehen, wie kurzatmig die Dinge im Lande geworden sind. Und wie sie zugleich unbeweglich geworden sind. Wir sehen, wie schwer es fällt, bei kurzfristigen Wünschen „Nein“ zu sagen. Und wie zugleich die Fähigkeit verloren geht, langfristige Investitionen aus eigenen Erträgen zu finanzieren. Ganz ähnlich wurzelt auch die Unfähigkeit, die Souveränität über die Grenzen unseres Staatswesens zu wahren, in einer solchen Schwäche des Nein-Sagens.
Wenn ein Land in einer tiefen Krise gefangen ist, gibt es keine nachhaltige Lösung ohne eine Verschiebung in der Sichtweise der Bürger – in der Bildung einer neuen demokratischen Mehrheit. Dazu müssen die lange Zeit vernachlässigten Ordnungsaufgaben wieder deutlicher von den 1000 Vormundschaften und Fördertöpfen, die man uns täglich andient, unterschieden werden. Es geht darum, dass die Bürger eine realitätsfeste, dauerhafte und keineswegs extreme Grundaufstellung von Wirtschaft und Staat als ihre eigene Ordnung verstehen, aus der heraus sie dann ihr eigenes Ding machen können.

Der Sport und das „Sommermärchen“

Ob Olympische Spiele oder Fußball-EM – In diesem Sommer wurde immer wieder eine „gute Stimmung“ beschworen, für die auch der Sport zu in Dienst gestellt werden soll. Es ist daher höchste Zeit, sich mit dem zu beschäftigen, was der Sport ist und was er nicht ist. (Aus meinem Notizbuch)

Der Sport und das „Sommermärchen“

August 2024

In diesem Sommer 2024 haben sich die Dinge zu einem merkwürdigen Gegenüber entwickelt. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere europäische Länder. Und für die USA, wenn man an das merkwürdige Phänomen „Kamala Harris“ denkt. Auf der einen Seite wird alles auf die „Stimmung“ gesetzt. Gelingt es die Stimmung zum Guten zu wenden, wird alles gut. Also wird versucht, ein Klima der „Zuversicht“ zu erzeugen. Es ist ein Vorhaben, das auf Willen und Vorstellung gebaut ist, also einseitig auf das Subjektive. Demgegenüber konstituiert sich eine andere Seite, die alles auf die „Realität“ setzt. Dieser Realismus ist also nicht auf einen anderen Willen und andere Vorstellungen gebaut, sondern auf die Macht des Objektiven: auf einen „Ernst der Lage“, an dem die bloß subjektiven Stimmungskräfte der „Zuversicht“ versagen. Die Realisten müssen also nicht in einen Wettbewerb um die höherfliegenden Ziele und bunteren Erzählungen eintreten. Sie agieren auf einem ganz anderen Kampffeld: Dazu gehört freilich, dass der Ernst der Lage so stark wird, dass er nicht mehr übersehen und verdrängt werden kann. Für die Realisten hat nur das bleibenden Wert, was in Auseinandersetzung mit den Widrigkeiten und Knappheiten dieser Welt errungen ist. Der Realismus, so könnte man sagen, ist ein langsamer Geselle – verglichen mit der Leichtfüßigkeit der Stimmungsmacher.
Es findet also nicht ein einfaches Duell zwischen zwei Positionen statt, sondern eine Auseinandersetzung zwischen zwei ganz verschiedenen Kampf-Räumen und -Zeiten. Eine asymmetrische Auseinandersetzung. Eine Auseinandersetzung, die darum geht, welche „Arena“ sich durchsetzt. Es geht dabei um Verschiebungen, die den Beteiligten oft gar nicht ganz bewusst sind, sondern die sich hinter dem Rücken der Gesellschaft wie von unsichtbarer Hand vollziehen.

Über den Sport

Der Sport ist natürlich nicht repräsentativ für alle Probleme und die ganze Gegenwart eines Landes. Aber er ist ein interessanter Messpunkt, um den Stand der Auseinandersetzung zwischen „Stimmung“ und „Lage“ festzustellen. Um die Feinheiten von Frontverläufen und Frontverschiebungen erkennen zu können. Der Vorteil, wenn wir den Sport zum Beobachtungspunkt wählen, besteht darin, dass der Sport ein genuin physisches Feld eröffnet. Ein Feld physischer Auseinandersetzungen, Disziplinen, Arenen, Körpertechniken. In einer Welt, die sich uns heute meistens als Welt der Zeichen, Kommunikationen und Medien darstellt, bietet der Sport die Möglichkeit einer Gegenprobe: Hier kann man das Kommunikativen am Nicht-Kommunikativen messen, hier muss sich die Zeichenwelt in einer genuin anderen Welt bewähren. Sie hat sozusagen ein Auswärtsspiel.
Aber natürlich ist auch der Sport der Macht der Worte, der Zeichen, der Kommunikationen ausgesetzt und wird von dieser Macht oft überformt. Er wird zum „Medienereignis“, zum „Schauspiel“, zur Inszenierung, zum Anlass von immer längeren „Vorberichten“. Er wird ständig „besprochen“. Sportler werden ständig und rücksichtslos genötigt, ihr Tun und Erleben in Worte zu fassen – oft noch kurz vor oder nach ihrem Wettkampf. Und das hat auch Folgen für die Zusammensetzung des Publikums und seine Erwartungen. Man kann heute gar nicht davon ausgehen, dass bei allen Zuschauern wirklich das Erleben der physischen Auseinandersetzung – nicht nur mit dem Gegner, sondern vor allem mit den physischen Bedingungen und Schwierigkeiten ihrer Sportart – im Vordergrund steht. Viele erfreuen sich eher an der Schau, an der Begleitmusik, an den Lichteffekten, am Gemeinschaftserlebnis auf den Rängen.

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Die eigene Größe des Sports – Es soll hier nicht einfach Kulturkritik geübt werden, sondern der Blick für die spezifische Größe und Eigenlogik des Sports geschärft werden. Dazu gehört auch, ihn in seinen Mühen und Härten zu sehen. Und in seiner Begrenztheit. Er eignet sich nicht als Generalschlüssel zur Verbesserung der Welt oder zur Sanierung eines Landes. Zugleich soll der Blick für die verschiedenen, groben oder subtilen Besetzungen des Sports durch sportfremde Dinge geschärft werden. Dabei soll aber nicht einfach das Lied vom bösen „großen Geld“ und den bösen „Mammutveranstaltungen“ angestimmt werden. Manche Kritik an den Olympischen Spielen legt es ja nahe, solche Zentralereignisse am besten gar nicht mehr stattfinden zu lassen. Gerade in Deutschland hat in den vergangenen Jahren eine Kritik die Oberhand gewonnen, die – per Volksentscheid – Olympiabewerbungen von München oder Hamburg zu Fall gebracht hat. Das hatte wenig mit Sportsgeist zu tun, und viel mit einer Gleichheits-Ideologie, die nur noch ein provinzielles Klein-Klein zulassen mag. Die Anstrengungen und Einschränkungen, die eine sportliche Großveranstaltung jedem Veranstaltungsort abverlangt, können von diesem Standpunkt nicht mehr verstanden und akzeptiert werden. Das schlägt dann auf den Sport selbst zurück: Er darf dann nur noch irgendein ein „entspanntes Bewegen“ sein.

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Gesichter des Sports – „Geht auf den Platz und habt Spaß.“ Diese Devise ist in unserer Zeit des Öfteren als Ratschlag von Trainern an ihre Spieler zu hören. Auch mancher Sportler hat vor laufender Kamera schon geäußert, dass er einfach in den Wettkampf geht, und sich vornimmt, Spaß zu haben. Das hört sich gut an. Es ist wie eine Lockerungsübung. Und es passt ja zu einer der Grundhypothesen, die dies Land seit mehreren Jahrzehnten regieren: Dass man durch weniger Druck oder durch eine Belohnung, die der Leistung vorausgeht, eine höhere Leistungsmotivation erzeugt. Das wäre sozusagen die „Entspannungs-These“, die auch im Sport ihren Einfluss ausübt.
Doch sollte man einmal genau hinsehen, wenn Athleten unmittelbar vor einer Übung stehen. Wenn sie an den Start gehen. Oder wenn sie am Übergang zwischen verschiedenen Phasen einer Übung stehen. Ist ihr Gesichtsausdruck und ihre Körperhaltung wirklich entspannt? Besagt der Gesichtsausdruck eines Hochspringers, einer Turnerin am Schwebebalken, eines Paares Reiter-Pferd in der Dressur, eines Skirennläufers, einer Fußballerin wirklich, dass sie in diesem Moment „Spaß haben“? Nein. Gewiss ist es auch kein „Leiden“, das sich im Gesicht ausdrückt. Aber es ist Konzentration. Der sogenannte „Tunnel“, in dem der Athlet ist und sein muss, wenn er etwas erreichen will. Die Fokussierung auf ein bestimmtes, genau gesetztes Umschalten in einem Bewegungsablauf.

Über das Sommermärchen

„Plötzlich lächelt Paris“ steht in großen Lettern über einem ganzseitigen Artikel von Michaela Wiegel auf Seite 3 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. August 2024. Im Untertitel heißt es: „Frankreich erlebt sein Sommermärchen. Olympia verwandelt die Hauptstadt zum Besseren – wohl auch über die Dauer der Spiele hinaus.“ Es ist ein sehr großes Ansinnen, das hier einem doch relativ kurzen Ereignis zugeschrieben wird. Ein Lächeln also soll eine ganze Weltmetropole und nationale Hauptstadt zum Besseren verwandeln, und das „wohl auch“ nachhaltig über den Tag hinaus. In dem Artikel schreibt Wiegel:
„Schon jetzt steht fest, dass Paris ein Sommermärchen erlebt hat. Das besteht nicht nur im allgegenwärtigen Lächeln – ungewöhnlich genug in Paris – oder in den vielen Medaillen. Sondern auch in dem wiederentdeckten Stolz darauf, eine bunte und tolerante Stadt zu sein. Zahlreiche Sportler mit Migrationshintergrund haben in den vergangenen zwei Wochen die zentralen Plätze der Stadt in Szene gesetzt: als Fechter im Grand Palais, als Schützen am Invalidendom, als Skateboarder am Concorde-Platz. Sie haben nicht nur das alte Paris erstrahlen lassen. Die Stadt hat auch neue Bauten hinzugewonnen, die Olympia überdauern werden, etwa das olympische Dorf und eine Schwimmhalle, vor allem aber neue Metrostationen in der Banlieue. Sie sollen das Zentrum von Paris auch im übertragenen Sinn besser mit den Außenbezirken verbinden. Das Sommermärchen, so hoffen in diesen Tagen viele Pariser, könnte die Stadt nachhaltig zum Besseren verändern.“

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Am Ende dieses Artikels hält es die Autorin für angebracht, die Pariser Bürgermeisterin Hidalgo zu Wort kommen zu lassen. Sie hat sozusagen das Schlusswort des „Sommermärchens“:
„Noch größer ist die Freude der 65-jährigen Bürgermeisterin darüber, dass die Spiele wie eine fröhliche Absage an die Rechtspopulisten wirken. `Es passiert etwas unglaublich Positives. Man kann sich daran erfreuen, Menschen zu treffen, die anders sind als man selbst´, sagt sie. Die Botschaft der extremen Rechten, ist sie überzeugt, sei durch die Olympischen Spiele zertrümmert worden.“
Damit endet der Artikel, der unter der Überschrift steht „Plötzlich lächelt Paris“. Dies Verbindung ist bemerkenswert. Es geht um ein Lächeln, das zertrümmert. Wie geht das, fragt man sich. Es geht dadurch, dass es ein demonstrativ ignorierendes, ausschließendes Lächeln ist. Dies schließt alles aus, was den Ernst der Lage – auch in Paris, auch in Frankreich – ausmacht. Wer von diesem Ernst spricht, statt in das Lächeln miteinzustimmen, ist ein böser, kranker Extremist. Das “Lächeln“ wird hier zu einem hochangestrengten, hässlichen Grinsen. Pamela Harris lässt grüßen.

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Man könnte es vielleicht auch so ausdrücken: Je weitläufiger die Wirkungen des Sports beschworen werden, umso weniger bleibt von seinem Kern und seiner eigenen Größe übrig.

Zur Eigenlogik des Sports

Die immer häufigere Subsumierung des Sports unter sportfremde Maßstäbe stellen mit wachsender Dringlichkeit die Aufgabe, das präziser zu fassen und hervorzuheben, was die Eigenart des Sports ausmacht und ihn von anderen Zivilisations-Bereichen unterscheidet.
Der ist Sport wird bestimmt von einem Antagonismus. Dem Antagonismus zwischen sehr begrenzten körperlichen Anlagen und Kräften eines endlichen Wesens und den unvergleichlich größeren, niemals völlig beherrschbaren Anlagen und Kräften der äußeren Natur. Der Sport ist dabei nicht darauf angelegt, diese äußeren Kräfte möglichst weitgehend durch technische Mittel zu überwinden. Seine Rationalität und sein Reiz unterscheiden sich von der technischen Rationalität. Wenn ich mich schnell bewegen will, kann ich das Auto nehmen. Wenn ich hochhinaus will, kann ich einen Fahrstuhl nehmen. Aber im Sport tue ich genau das nicht. Er ist gewissermaßen eine „Zelebration der Schwäche“. Seine Regeln sind darauf angelegt, den menschlichen Körper in gewissem Sinn zu „entblößen“. Und auf die Macht technischer Hilfsmittel zu verzichten. Gewiss werden Laufschuhe und Fußballschuhe, Turngeräte und Turnmatten, die Stäbe des Stabhochsprungs, die Ruderboote, die Biathlon-Gewehre ständig weiterentwickelt. Aber der Grundkonstellation des Sports haftet doch auch etwas Archaisches an.
Man tut dem Sport keinen Gefallen, wenn man ihm eine Logik der grenzenlosen Steigerung der Leistungen unterstellt und die Rekordjagd zum Hauptanreiz für die Sportler erklärt – also das „schneller, höher, weiter“. Das Feld des Sports bietet in dieser Hinsicht kein grenzenloses Wachstum. Er strebt auch nicht nach einer Position immer größerer oder gar „unantastbarer“ Überlegenheit. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass der Wert des Sports nicht in einem bestimmten Endresultat liegt, sondern in der physischen Auseinandersetzung selbst, im „antagonistischen Moment“. Im Sport wird nach Toren, nach gemeisterten Höhen, nach schnelleren Zeiten gestrebt. Aber nie nach etwas Endgültigem. Der Antagonismus soll hier nicht aufgehoben werden. Er soll immer neu eröffnet werden können. Er soll fortbestehen.

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Der antagonistische Moment und die Photographie – Wie kann man sich diesen Moment vorstellen? Wie wird er fassbar? Walter Benjamin hat sich in seinem Essay „Kleine Geschichte der Photographie“ (1931) mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Technik der Photographie – im Gegensatz zur Malerei – nur mechanisch genaue Abbilder der Realität produzieren kann? Oder ob sie eine zusätzliche, magische Realität eröffnet, die dem menschlichen Auge vorher unzugänglich war. Benjamin neigt dieser zweiten Auffassung zu, und in seiner Begründung findet sich folgende Passage:
„Hat man sich lange genug über so ein Bild (eine Photographie, GH) vertieft, erkennt man, wie sehr auch hier die Gegensätze sich berühren: die exakteste Technik kann ihren Hervorbringungen einen magischen Wert geben, wie für uns ihn ein gemaltes Bild nie mehr besitzen kann. Aller Kunstfertigkeit des Photographen und aller Planmäßigkeit in der Haltung seines Modells zum Trotz fühlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, in solchem Bild das winzige Fünkchen Zufall, Hier und Jetzt, zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleichsam durchgesengt hat…
Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, dass an die Stelle eines vom Menschen mit Bewusstsein durchwirkten Raums ein unbewusst durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, dass einer sich vom Gang der Leute Rechenschaft gibt, sei es auch nur im Groben, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des Ausschreitens. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln – Zeitlupen, Vergrößerungen – erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewussten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewussten durch die Psychoanalyse.“
Das „Fünkchen Zufall“, mit dem die Wirklichkeit die Fotographie „durchsengt“ hat, ist auch in der Sportphotographie am Werk. Sie kann den antagonistischen Moment festhalten, der oft nicht unmittelbar für unsere Augen zugänglich ist. Unseren Augen entgeht ein Teil der Realität, oft ein starker, beeindruckender, magischer Teil. Die Sportphotographie öffnet uns einen Zugang. Sie hat unsere Welt größer gemacht. Wir können ihr dankbar sein. Dabei liefert die Photographie keine „Konstrukte“. Diesen Moment im Sprung, im Kampf um den Ball, im Ruderboot, in der Erschöpfung nach der Zielankunft konnte niemand bewusst so hinstellen. Doch gerade dieser Unplanbarkeit macht das Bild authentisch. Es verleiht ihm eine Wirkungsmacht, die dann ihrerseits den Betrachter „durchsengt“.

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Erinnerung, sprich – In ziemlich früher Jugend habe ich die „Sportillustrierte“ entdeckt. Sie wurde meine Lieblingslektüre. Vor allem die großen Photographien von Wettkampf-Szenen. Wie habe ich manche Bilder angestaunt! Was für eine Welt tat sich da auf.

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Der Ernst des Sports (I) – Der Sport hat seine eigene Härte. Seine eigene Unerbittlichkeit. Schummeln ist ehrlos. Und erst recht Doping. Die Härte liegt aber auch im Zwang zum Resultat. Der „gute Willen“ allein zählt nicht. Man muss tatsächlich Tore schießen. Man muss eine Höhe beim Hochsprung tatsächlich bezwingen. Wenn man nur irgendwelche Gesten macht, irgendwie herumhampelt und bloß „viel Bewegung“ demonstriert, macht das im sportlichen Sinn nicht satt. Die Spannung des Gelingens oder Nicht-Gelingens ist immer präsent. Das ist der Ernst des Sports und unterscheidet ihn vom Kinderspiel.

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Der Ernst des Sports (II) – Aber diese Spannung des Gelingens oder Nicht-Gelingens ist nicht von einem besonders hohen Niveau abhängig. Man braucht keinen Spitzensport oder Olympiasieg, um es zu erfahren. Man kann es auch bei einer Kreismeisterschaft, bei der man nur einen zweiten Platz erringt, haben. Die Magie des Sports gibt es auf jedem Niveau. Aber all das wird sofort zunichte gemacht, wenn man auf einmal anfängt, die Anforderungen für eine sportliche Leistung ganz zu streichen – und einfach gratis Urkunden, Auszeichnungen und Beifall zu spenden. Mit solcher „Pädagogik“ erniedrigt man die Athleten, deren Leistungen sich auf niedrigerem Niveau bewegen. Und man stiehlt insbesondere Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit, kleine Kraftproben wirklich zu bestehen und etwas wirklich selbst – ohne fremdes Zutun – zu erringen.

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Das Training – Zum Ernst des Sports gehört auch das Training. Wenn die Leistung nur ohne große technische Mittel herbeigeführt werden kann, und wenn sie nicht durch fremde Hilfe und durch vorschnellen und beschönigenden Beifall ersetzt werden kann, bekommt das Üben eine wichtige Rolle. Die sportliche Leistung fällt nicht vom Himmel. Sie ist kein Geniestreich. Sie wird nicht „im Kopf“ gewonnen. Sie muss durch Trainingsfleiß erworben werden. Beim Training ist der Reiz des Wettkampfes nicht unmittelbar gegeben. Training ist eine Wiederholungs-Aufgabe. Nur so können Muskeln, Sehnen und Knochen aufgebaut werden. Nur so können Bewegungsabläufe eingeübt werden. Manch Ahnungsloser spricht da von stupider Arbeit. Und sogar – wenn es um junge Leute geht – von „Kinderarbeit“. Aber man lernt hier den Wert des Wiederholens kennen. Und das ist keine Selbstverständlichkeit in einer Zeit, die so tut, als könne man jeden Tag „innovativ“ und „kreativ“ sein. Und jede Wiederholung sei daher stupide Zeitverschwendung für „Verlierer“.

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Über Fairness – Es ist bemerkenswert, dass die Athleten, die sich gerade in einem harten Wettkampf miteinander befunden haben, aufeinander zugehen können und sich gegenseitig Respekt und Mitgefühl entgegenbringen. Der Sport muss also ein Element enthalten, das die Athleten einander nahebringt. Und dies Element kann nicht in einer kommunikativen Verständigung liegen. Ich denke, diese Nähe liegt in der – oben beschriebenen – Situation der Schwäche, die jede Sportart auf ihrer Weise herstellt: Dass die Athleten es immer mit unvergleichlich größeren äußeren Kräften und schwierigen Bedingungen zu tun haben, denen sie mit sehr beschränkten Mitteln gegenübertreten. Angesichts der gemeinsam erfahrenen „Blöße“, der sich alle unterwerfen, relativieren sich die Gegensätze zwischen den Athleten. Das ist eine starke Basis für Fairness.
Für diese Erklärung spricht auch, dass die Zuschauer sehr viel weniger zu dieser Fairness neigen, obwohl sie doch nicht so direkt am Wettkampf beteiligt sind wie die Sportler. Aber von den Zuschauerrängen ist des Öfteren zu hören, dass Fehlleistungen eines „gegnerischen“ Athleten mit höhnischem Jubel bedacht werden. Dagegen ist es wirklich sehr selten, dass eine solche Verhöhnung zwischen gegnerischen Sportlern auf der Laufbahn, auf dem Fußball-Platz, am Turngerät oder auf einer Ruderstrecke stattfindet. Oder bei einer Siegerehrung. Aber die geringere Fairness der Zuschauer ist eigentlich logisch: Sie sind ja nicht der sportlichen Grundsituation der Schwäche und Blöße ausgesetzt.

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Eine Begebenheit beim Pariser Marathonlauf – In der FAZ vom 12.8.2024 berichtet Alfons Kaiser von einer Begebenheit beim olympischen Marathonlauf. Der Titel lautet „Ein König ohne Socken“. Es geschah an der 30-Kilometer-Marke. Eliud Kipchoge aus Kenia ist zweifacher Olympiasieger und einer der Großen des Langstreckenlaufs. Aber an der 30-Kilometer-Marke musste er wegen starker Unterleibsschmerzen („Seitenstiche“) anhalten. Den Kontakt zur Spitze des Läuferfeldes hatte er schon vorher verloren, nun zog das übrige Feld vorbei. Er musste aufgeben. Aber er wurde nicht sofort von Helfern betreut und mitgenommen. Sondern er stand ganz alleine da. Das folgende berichtet Alfons Kaiser so:
„Eliud Kipchoge schaut nach hinten, aber niemand kommt, zwei, vier, sieben Minuten lang. Das Rufen und Klatschen (des Publikums am Straßenrand, GH), das „allez, allez!“ ebbt langsam ab, und es wird peinlich still. Er steht da ganz allein, blickt ins Nirgendwo, damit er niemand anschauen muss, einige haben Tränen in den Augen. Einer löst die Stimmung und ruft frech: „Gib mir dein Namensschild!“ Eliud Kipchoge reißt wirklich sein Namensschild vom Rücken und reicht es über das Gitter, jetzt ist der Marathon für ihn wohl offiziell beendet. Niemand fragt, warum er den Lauf unterbrochen hat. Erst später wird er von Problemen an der Taille sprechen, also vermutlich von Seitenstechen… An der Route des Gardes versuchen sie es mit Aufmunterung. Einer ruft: „Bitte die Schuhe!“ Und wirklich: Er reicht erst einen Schuh, dann den anderen hinüber. Und dann kommt doch noch ein offizieller Wagen, erhält an, ein weißer Van, kein Taxi, wie es später heißen wird. Eliud Kipchoge zieht seine Socken aus, gibt sie auch noch ins Publikum, steigt ein und lässt sich wegfahren. Ein König ohne Krone. Und ohne Socken.“
Es ist gut, dass der Journalist diese Szene aufgeschrieben hat. Aber wie falsch klingt der Schluss (und der Titel) der Geschichte. Der Ausdruck „Ein König ohne Socken“ klingt fast hämisch, angesichts des Scheiterns und der plötzlichen Einsamkeit eines großen Athleten. Er verfehlt ganz die Tragik des Geschehens. Und mehr noch: Er verfehlt die Grausamkeit dessen, was sich zwischen einem Teil des Publikums und dem Läufer abgespielt hat. Da gibt es Zuschauer, die die Situation ausnutzen, um sich das Namensschild, die Schuhe und die Socken des erschöpften Athleten unter den Nagel reißen. Wohl als „Andenken“, als Trophäe, mit der sie dann prahlen können. Was für ein erbärmlicher Triumph von Zuschauern, die sich wohl als die wahren „Könige“ des Geschehens fühlen, und die Athleten wie Dienstpersonal behandeln, das zu ihrer Unterhaltung da ist.

Eine magere Sport-Bilanz und viel sportfernes Gerede

Nach Abschluss der Olympischen Spiele in Paris fiel die sportliche Bilanz Deutschlands nicht sehr großartig aus. Sie blieb hinter den Erwartungen zurück. Man kann hier die Medaillenbilanz anführen – Deutschland landete auf Platz 10 der Teilnehmernationen. Dabei fiel auf, das nicht nur sehr große Nationen wie die USA und China vor Deutschland rangierten, auch nicht nur das Gastgeberland Frankreich, sondern auch mittlere und kleinere Nationen wie Großbritannien und die Niederlande. Aber es ging nicht nur um die Medaillen-Ränge. Es fiel auch auf, dass Deutschland in elementaren Sportbereichen wie Leichtathletik, Schwimmen und Turnen in vielen Disziplinen nicht einmal in die Endkämpfe vordrang. Beim Laufen, Springen und Werfen – sozusagen olympische „Grundfächer“ – ist dies Land zweit- und drittklassig geworden. Wie wird dieser „Ernst der Lage“ des Sports in Deutschland reflektiert? Wird er überhaupt zur Kenntnis genommen?

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„Freie Entfaltung“ ist keine Sportart – In der FAZ vom 13. August 2024 steht ein Kommentar von Anno Hecker mit der Überschrift „Was Paris lehrt“. Der Autor will eine ganz andere Grundorientierung. Was er schreibt, trifft nicht nur einen zu engen Leistungsbegriff, sondern überhaupt den Leistungsbegriff im Sport:
„Hinter der Idee des Spitzensports muss in erster Linie etwas anderes stecken als die Fixierung auf Medaillenbringen. Von Anfang an allein die Idee, talentierten Menschen die Chance zu bieten, sich frei entfalten zu können. Dass es dazu leider nicht so oft kommt, wie es möglich wäre, liegt vor allem an einer Geringschätzung des Sports im Alltag. Er spielt keine Rolle in der Bildungspolitik, er ist ein Streichkandidat in der Schule.“
„Wer unbedingt Medaillen will, wird sie bekommen, sobald er versteht, wo der Weg beginnt und wo er so professionell, so einfühlsam und klug wie nur möglich begleitet werden muss: bei dem Versuch, Kinder für ein lebenslanges Bewegen zu gewinnen.“
Die Bedeutung des Schulsports möchte man gerne unterschreiben, auch wenn nach meinen Erfahrungen der Sportunterricht für die sportlichen Kinder zu wenig bietet, und die Arbeit von Sportvereinen unentbehrlich ist, wo dem Leistungsbedürfnis der Kinder Nahrung gegeben werden kann, damit es nicht verhungert. Doch beim Autor kommt das Wort „Leistungsbedürfnis“ nicht vor. Wenn es um Leistung geht, geht es ja um ein Messen, das jeweils nach Sportart genau bestimmt werden muss, um nicht bloß bei irgendeinem beliebigen Herumgehüpfe stehenzubleiben. Es ist ja gerade der „Ernst“ von Höhe, Weite, Zeit, der den Sport für Kinder reizvoll macht. Erfolgserlebnisse bei Sport gibt es nicht gratis. Sie wollen errungen sein. Gerade dadurch ist der Sport als anspruchsvoller Ort, an dem man die eigene Wirklichkeit ausprobieren kann, so reizvoll und wertvoll. Doch an diesem entscheidenden Punkt gleitet der Autor in das Vokabular jener pädagogischen „Wende“, die in Deutschland in den 1960er Jahren begann und heute im Umgang mit Kindheit und Jugend dominant ist. Da finden wir das „sich frei entfalten können“. Und zugleich fordert der Autor auch etwas, was das glatte Gegenteil von freier Entfaltung ist: eine hochkomplexe, fürsorgliche und entsprechend bevormundende Betreuung, mit der normale Eltern und Vereinslehrer überfordert sind. Es muss eine „Begleitung“ geben, die „so professionell“, „so einfühlsam“ und „so klug“ ist „wie nur irgend möglich“. Da werden Enttäuschungen, die zu jeder wahren Freiheit gehören (und daher auch zu jedem Kinder- und Jugendsport), zum Tabu. Und schon soll da eine leitende Hand installiert werden, die alle Enttäuschungen von den Kindern fernhalten soll und deshalb in jedem Augenblick wachen muss.

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Über eine Alibi-Formel: „Menschen bewegen“ – Einen Tag vorher hatte derselbe Autor in einem bilanzierenden Leitartikel unter der Überschrift „Paris hat bewegt“ (in der FAZ vom 12.8.2024) geschrieben: „Das Beste der Olympischen Spiele ist ihre Kraft, Menschen zu bewegen. Paris hat bewegt.“ Aber geht es bei diesem „Bewegen“ wirklich um Sport? Die Sommerwochen von Paris waren ja in einem großen Maße eine Inszenierung, ein Schauspiel, ein großes Theater. Und das war ja auch die Grundlage, auf der Olympischen Spiele mit dem Stadtraum von Paris verbunden wurden. Sie wurden „urbanisiert“, aber im gleichen Atemzug wurden sowohl der Sport als auch die Stadt „theatralisiert“, also zu einer großen Schauveranstaltung. In den Worten von Anno Hecker:
„Das tägliche Drama des Weltsport-Theaters eint die Sommerspiele, egal wo sie stattfinden. Aber in Paris ließ sich etwas Neues beobachten: Die Urbanisierung der Spiele, ihre Einbettung in das Leben einer pulsierenden Weltstadt. Sie fanden nicht überwiegend eingepfercht in einem schönen Park statt wie in Englands Hauptstadt, nicht auf einem riesigen Parkplatz hinter dem Berg von Copacabana. Paris öffnete sich, platzierte den Sport da, wo man gern und mal eben hingeht, an die schönsten Plätze, die berühmtesten Monumente.“
Das Bild der Einbettung von Olympia in das Leben „einer pulsierenden Weltstadt“ ist dabei irreführend. Es war die Sondersituation eines in den Ferien entvölkerten Paris (die Beschäftigten, die keinen Urlaub hatten, wurden gebeten, sich nach Möglichkeit ins Home-Office zurückzuziehen). Ein zentraler Mittelkorridor der Stadt war für den motorisierten Verkehr gesperrt. Das war für die Spiele nicht anders möglich, aber kann kein Dauerzustand einer „pulsierenden“ Weltstadt sein. Zugleich bot die „Urbanisierung“ nur selten Gelegenheit, die Sportler in ihrer Aktion wirklich aus einer größeren Nähe zu sehen. Man war doch wieder auf große Bildschirme angewiesen. Die Symbiose stieß also auf Grenzen – sowohl von der Seite des Sports als auch von der Seite der realen Stadtabläufe. Eine moderne Großstadt ist eben keine Theater-Vorstellung, keine Bühne, auf die man dann bloß die Olympischen Spiele als besonderes Bühnenstück zu stellen braucht. Das Pulsieren ist realer als eine Bühne. Eine Großstadt ist eine physische Maschine.
Aber das „Menschen bewegen“, das Hecker in den Mittelpunkt seiner Bilanz stellt, ist eben weder genuin sportlich noch genuin großstädtisch. Er spricht von einem „Bild der Bilder“, das die gelungene Verbindung von den Spielen und Paris exemplarisch zeigt. Es ist das Bild „…von einem traumhaften Spiel im Beachvolleyball-Stadion am Fuße des Eiffelturms im Abendlicht der untergehenden Sonne“. Wenn er von „Menschen bewegen“ schreibt, beschwört er also im Grunde eine Atmosphäre. Eine Stimmung.

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Die Fußball-EM in Deutschland: Der Bundestrainer als „Bundestherapeut“ – Diese Indienstnahme eines Sportereignisses führt zurück zu einem anderen Sportereignis: der Fußball Europameisterschaft, die im Juni/Juli 2024 in Deutschland stattfand. Hier stand die Aufgabe im Raum, einen „Stimmungsumschwung“ im krisenhaften Deutschland herbeizuführen. Man hoffte auf eine positive „Bewegung“, auf ein neues „Sommermärchen“, dass das Auftreten der deutschen Nationalelf vor eigenem Publikum auslösen sollte. Und der Bundestrainer Julian Nagelsmann sollte dabei eine Schlüsselrolle spielen. Unter dem Titel „Der Bundestherapeut“ schrieb Christian Kamp im Sportteil der FAZ am 1.7.2024 in einem Kommentar folgendes:
„Julian Nagelsmann stand vor einer gewaltigen Aufgabe, als er den Posten übernahm, nicht zuletzt wegen der Hypothek des fortwährenden Scheiterns unter seinen Vorgängern. Dass seine Mannschaft es geschafft hat, diesen Ballast loszuwerden und Fußball nicht mehr als Kampf gegen die Dämonen, sondern wieder als lustvolles Spiel zu begreifen, ist zu großen Teilen sein Verdienst: Der Bundestrainer als Bundestherapeut.“
Diese Lobeshymne wurde nach dem Dänemark-Spiel verfasst, das auf dem Platz freilich nur um Haaresbreite und durch Mithilfe eines (gar nicht so sportlichen) „Videobeweises“ gewonnen und nicht verloren wurde. Aber wo es um Stimmungen geht, spielt der tatsächliche Spielverlauf auf dem Platz nur eine Nebenrolle. Auf dem Feld der Stimmungen können dann alle möglichen Wirkungen beschworen werden, vor allem eine Wirkung auf das Gesellschafts-Ganze. So verliert sowohl der Sport als auch die Politik ihre jeweils eigene Besonderheit und Wirksamkeit. Alles wird nun irgendwie zu einer Angelegenheit von Therapie. Seelen-Coaching und Pädagogik. Und der Bundestrainer spielt mit. Nagelsmann erklärte am 6.7.2024 auf einer Pressekonferenz:
„Es gab eine Symbiose zwischen der Mannschaft und den Menschen im Land. Und ich hoffe, dass wir es auch nachhaltig hinkriegen, diese Symbiose in weit wichtigeren Dingen fortzusetzen.“
Zu diesem Zeitpunkt war die deutsche Nationalmannschaft nach einer Niederlage gegen Spanien bereits aus dem Turnier ausgeschieden. Aber auf der Stimmungsebene konnte die Deutschland-Therapie unverdrossen weitergeführt werden. Und auch Christopher Melzer von der FAZ spielte dies Spiel mit:
„Es ist durch die Niederlage gegen Spanien dann doch nicht der ganz große Sommer der Nationalmannschaft geworden, aber dafür etwas, was genauso wertvoll ist: Es ist der Sommer geworden, in dem die Menschen in Deutschland glauben und hoffen, dass es wieder der ganz große Sommer der Nationalmannschaft werden kann.“
So war das Land nun weiter auf „Glauben und Hoffen“ verwiesen.

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„Viel bewegt, weniger erreicht“ – Doch damit wollte sich dann doch nicht jeder zufriedengeben. „Viel bewegt, weniger erreicht.“ lautete die Überschrift über einem Kommentar zum Abschneiden der Nationalmannschaft, den der ehemalige Trainer des FC St. Pauli, Fabian Hürzeler, in der FAZ vom 8.7.2024 geschrieben hat. Bei Hürzeler gibt es also noch den Wert realer Resultate. Und prompt klingt das „viel bewegt“ ziemlich peinlich.

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Und das deutsche „Sommermärchen“ von 2006? – Bei so viel deutscher Beschwörung einer „Sommermärchens“ ist vielleicht eine kleine Anmerkung zur realen Wirksamkeit dieses Märchens angebracht. Man sollte ja meinen, in Deutschland sei nach dem Sommer 2006 eine riesige Aufbruchstimmung ausgebrochen. Es wären alle möglichen Hindernisse und opportunistische Kleinmütigkeiten beiseite gefegt worden. Weit gefehlt! Es begannen die Merkel-Jahre, in denen nichts Großes mehr bewegt werden konnte. Die Schuldenkrise in Europa? Durch faule Kompromisse verschleppt. Ein fernes Erdbeben in Japan, führt zum Atomausstieg in Deutschland. Migrantenströme zurückweisen? Auf keinen Fall, denn das gibt nur böse Bilder. Aber wenigstens eine Olympia-Bewerbung, wo doch die Fußball-WM 2006 ein so großer Erfolg war? Oh nein, nicht mal das. Wurde per Bürgerbefragung abgelehnt. Und man stelle sich vor, die Deutschen würden jetzt so viele Deutschland-Fahnen zeigen wie 2006. Nicht auszudenken! Das würde sofort als „Rechtsruck“ niedergeschrieben und man müsste darum fürchten, dass Autos mit Schwarz-Rot-Gold-Wimpeln plattgemacht würden…

Mit anderen Worten: „Sommermärchen“ sind ungeeignet, etwas am Ernst der Lage des Sports in Deutschland zu ändern. Und erst recht ungeeignet, den Ernst der Lage des Landes insgesamt zu ändern.


Hier drei ältere Essais des Autors zu Sport-Dingen:

2009-8 Kleine Philosophie des Sports
2012-8 Sportsgeist in London
2015-12 Olympia-Aus für Hamburg

Der Ernst der Lage

In diesem Herbst geht es nicht nur um parteipolitische Positionen, sondern um das ganze Feld der politischen Auseinandersetzung: Sollen die Stimmungen den Ausschlag geben oder die Realitäten?

Der Ernst der Lage

10. August 2024

In Deutschland gibt es gegenwärtig einen Unterschied, der in vielfältiger Form in politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Auseinandersetzungen immer mitschwingt. Die einen sagen „Die Stimmung ist schlechter als die Lage“. Die anderen sagen „Die Lage ist schlechter als die Stimmung“. Diejenigen, die von ersterem ausgehen, neigen dazu, die Stimmung zu bearbeiten und sich um „bessere Stimmung“ bemühen. Das gilt besonders für diejenigen, die davon ausgehen, dass unsere Wirklichkeit sehr stark von Stimmungen regiert wird und mit Stimmungen auch bewältigt wird. Sie empfehlen der Nation jetzt „Zuversicht“ – in der Politik, in der Wirtschaft, aber auch im Sport, wie die bemühte Suche nach einem neuen „Sommermärchen“ bei der Fußball-EM gezeigt hat. Hingegen möchten diejenigen, die davon ausgehen, dass die Stimmung besser ist als die Lage, an der Lage etwas ändern. Sie gehen davon aus, dass Stimmungen zwar durchaus ihren Einfluss haben und auch immer sehr schnell zur Stelle sind, dass sich aber auf längere Sicht die Realitäten (die „harten Fakten“) durchsetzen. Aber es ist nicht so leicht, die Lage zu „bearbeiten“, denn diese Lage kann sehr festgefahren sein.
So ist in dem Unterschied zwischen Stimmung und Lage ein eigenartiger Wettstreit angelegt: Das Lager der Stimmungen wird profitieren, wenn die Mittel der schnellen Einflussnahme dominieren. Das Lager der Realisten wird gestärkt, wenn die Realität in Strukturen wirkt, die resistent gegen schnelle Einflussname sind und für Veränderungen erstmal Anpassungsleistungen erfordern. Dann kann es dazu kommen, dass bei Entscheidungen der „Ernst der Lage“ die Oberhand gewinnt – und das ist in Deutschland schon lange nicht mehr geschehen.

Eine „Erholung“, die sich immer weiter nach hinten verschiebt

Im März dieses Jahres sah ein Konjunktur-Kommentar von Patrick Welter (FAZ vom 23.3.2024) in der Verbesserung des Ifo-Geschäftsklima-Indexes noch einen „echten Hoffnungswert“. Die „deutliche Aufhellung“ des Indexes würde zeigen, dass „etwas in Bewegung gekommen ist“. Das damals verabschiedete „Wachstums-Chancen-Gesetz“ mit einem Entlastungsvolumen von 3,2 Milliarden Euro hielt Welter zwar für unzureichend, aber doch für einen „Schritt in die richtige Richtung“.
Einen Monat später stellte die FAZ (25.4.2024) die erste Seite ihres Wirtschaftsteils unter die Überschrift „Die Stimmung hellt sich auf“. Die Bundesregierung hob die Wachstumsprognose leicht an (0,3 Prozent statt 0,2 Prozent). 2025 sollte es dann ein Plus von 1 Prozent geben. Wer den Artikel genauer las, musste feststellen, dass bei der „Stimmung“ wieder die Zukunft über die Mühen der Gegenwart hinweghelfen musste. Der Ifo-Präsident Clemens Fuest wurde mit der Aussage zitiert, „dass die Verbesserung des Geschäftsklimas stark von den Erwartungen getrieben werden, nicht aber von der Einschätzung der gegenwärtigen Geschäftslage.“ Fuest wies auch auf eine „ausgeprägte Investitionsschwäche in der Industrie“ hin. Der Kommentar von Patrick Welter auf der gleichen Seite stand nun unter der Überschrift „Bruchstellen in der Zuversicht“. Dabei wurde auch eine außenwirtschaftliche Schwäche Deutschlands als Faktor genannt: Der Autor sah Anzeichen für eine „geoökonomische Spaltung der Welt“, die für die deutsche Wirtschaft zunehmende Schwierigkeiten und Verluste bedeuten könnte.
Und nun machen wir einen Sprung in den Juli 2024. Die FAZ vom 6.7.2024 resümierte die Lage mit einem ernüchternden „Die wirtschaftliche Erholung ist im Frühjahr ausgeblieben.“ Tags zuvor waren in der Zeitung gravierende Zahlen zu lesen: „Der Abwärtstrend im verarbeitenden Gewerbe hält seit 2022 unverändert an. Am Donnerstag kam die Nachricht, dass der Auftragseingang im Mai den fünften Monat in Folge gefallen ist…Insgesamt liegen die neuen Bestellungen 8,6 Prozent niedriger als vor einem Jahr.“ Und das grüne Wirtschaftswunder? Am 3. Juli war in der FAZ ein Artikel unter der Überschrift „Grün ist nur noch die Hoffnung“ erschienen. Angesichts immer neuer Meldungen von Entlassungen, Kurzarbeit und Firmenschließungen in den Bereichen, in denen durch grüne Produkte ein starkes Wachstum erwartet wurde, schrieb Julia Löhr: „Das grüne Jobwunder bleibt aus. Wird es hierzulande jemals kommen?“ In dem Artikel wird Joachim Rangnitz vom Ifo-Institut in Dresden mit der Aussage zitiert: „Offenbar gab es bei vielen Herstellern eine Fehleinschätzung zur Nachfrage“. Und weiter: „Selbst wenn die Nachfrage nach grünen Produkten wieder anzieht: Es ist nicht gesagt, dass diese dann aus deutscher Produktion kommen. Die Standortkosten sind zu hoch, die Produktivität der Betriebe ist zu gering.“
So verschiebt sich die Erholung der Wirtschaft immer weiter nach hinten. Das Warten wird immer mehr zur Hängepartie. Um da herauszukommen, muss das Land sich zu Entscheidungen durchringen. Dazu gehört ganz wesentlich: Es muss sich zu einem Urteil über den Ernst der Lage durchringen. Es geht dabei nicht um eine Beurteilung der Konjunkturlage, sondern es geht um Tiefenstrukturen, die darüber entscheiden, was Deutschland erwarten kann – nicht in einer fernen Zukunft, sondern in seiner Gegenwart.

Die Lage der Nation ernstnehmen

Schon vor gut einem Jahr erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Beitrag des Wirtschafts- und Sozialhistorikers Werner Plumpe mit dem Titel „Warten auf ein Wunder“ (FAZ vom 19.8.2023). Plumpe wendet sich gegen die Annahme, dass der Gang der Konjunktur über kurz oder lang die Dinge in Deutschland wieder zum Besseren wenden wird – weil dieser Konjunktur-Glaube davon ausgeht, dass hierzulande die Grundlagen gesund und stark sind: „Die Hoffnung, es werde schon gut gehen, das Land sei reich und seine Wirtschaft habe sich in der Vergangenheit doch durchaus resilient gezeigt, wie das Modewort heißt, ist nicht gut begründet.“ Plumpe fordert, der ökonomischen Realität „nüchtern ins Auge zu sehen“. Und dazu gehöre es, „die Auf- und Abschwünge nicht als isoliertes Phänomen zu betrachten… ihre Rhythmik sagt ja noch nicht sehr viel über die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung aus“. Das Schlüsselwort ist hier „Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung“. Diese Richtung ist nur in längeren, also geschichtlichen Zeitrhythmen zu erkennen. „Geschichte“ heißt hier nicht etwas Vergangenes, sondern etwas in der Gegenwart Fortbestehendes. Und diese geschichtlich angereicherten Phasen können unterschiedlich ausfallen. Jedes Land hat starke und schwache, expansive und restriktive Phasen.
„Die deutsche wirtschaftshistorische Erfahrung der letzten 150 Jahre ist insofern überaus lehrreich. Es gab mittelfristige Abschwungphasen, in denen die rhythmischen Schwankungen deutlich schmerzhafter ausfielen (1870er- bis 1890er Jahre, die Zwischenkriegszeit) als in den Jahren des Aufschwungs seit 1895 oder in der Zeit nach 1945. Seit dem Krieg bis in die 1990er-Jahre hinein gab es zudem eine bestimmende Tatsache, die im Alltagsbewusstsein heute kaum präsent ist: Während die Wirtschaft mal schneller, mal langsamer wuchs und seit den 1970er-Jahren gelegentlich auch stagnierte oder schrumpfte, nahm die Produktivität kontinuierlich und schneller als die wirtschaftliche Gesamtleistung zu…Dies Muster hat sich derart ins kollektive Denken eingebrannt, dass die öffentliche Meinung es fast schon für eine Art Naturgesetz hielt. Doch ist es das keineswegs.“

Die Produktivitätskrise

Im Folgenden weist Werner Plumpe auf eine fundamentale Veränderung der Lage in hin, die direkt oder indirekt die Wirtschaft, den Staat und auch die Kultur in Deutschland betreffen:
„Seit den 1990er Jahren hat sich die Lage zunächst schleichend, inzwischen dramatisch verändert. Seit jener Zeit gingen die jährlichen Produktivitätszuwächse deutlich auf ein Viertel der zuletzt erreichten Werte zurück, von etwa 2 Prozent jährlich auf 0,5 Prozent in der Zeit vor Corona.“
Die Ursachen eines solchen Langzeit-Trends sind vielfältig und reichen tief – bis hin zu technologisch „langsamen“ Phasen, in denen die Entwicklung nicht einfach beschleunigt werden kann, weil sie nicht vom Willen der Menschen abhängt. Hier stößt „gute Wirtschaftspolitik“ an Grenzen, „Wirtschaftswunder“ kann man nicht nach Belieben veranstalten. Deshalb ist die Beurteilung der konkreten Lage eine wichtige und anspruchsvolle Aufgabe. Es muss zu einem Urteil darüber kommen, was ein Land in einem bestimmten Zeitabschnitt seiner Entwicklung als gegeben hinnehmen muss, und was es durch eigenes Handeln verändern kann. Das freie Erfinden einer „ganz neuen Zukunft“ ist ausgeschlossen. Wenn man in diesem Sinn die Lage ernst nimmt, kann das Erreichbare in verschiedenen Situationen sehr unterschiedlich sein. Das Urteil muss ja nicht immer darauf hinauslaufen, dass die Lage „schwierig“ ist. Es gibt durchaus, wie der Artikel Plumpes zeigt, Phasen starker Produktivitätsentwicklung. Aber für die Gegenwart geht der Autor – aus guten Gründen – offenbar davon aus, dass Deutschland in einer Situation ist, in der es sich an eine Verengung seiner Möglichkeiten anpassen muss. Und dass dies auch für längere Zeit gelten wird.

Es geht nicht um ein fatalistisches Warten

Das bedeutet nicht, dass nun ein passiver Fatalismus regieren muss. Dass eine finstere Totengräber-Stimmung oder eine zynische Vorfreude auf einen „Zusammenbruch“ im Lande herrschen soll. Im Gegenteil ergibt sich aus der Krise des Produktivitätswachstums eine ganz andere logische Konsequenz: Eine Aufwertung aller noch erhaltenen produktiven Strukturen und eine neue Wertschätzung für jene Betriebe und Tätigkeiten mit niedriger Produktivität, die man im Zug der hochfliegenden Erwartungen aufgegeben oder ans Ausland abgegeben hat. Nichts darf mehr leichtfertig aufgegeben werden. Die sogenannten „einfachen“ Arbeiten und Betriebe in Industrie, Handwerk, Landwirtschaft und Dienstleistungen und Industrien müssen gehegt und gepflegt werden. Es gibt auch schon Manches, was aus gesundem Selbsterhaltungstrieb hier und da geschieht. Aber es geschieht nicht systematisch und ist auch nicht grundlegender Teil einer Agenda dieses Landes. Aber das muss es sein, wenn man feststellt, dass viele der Dinge, die vorher selbstverständlich verfügbar waren, nun fehlen. Die Logik ist einfach: Manche Dinge mögen „banal“ sein, aber sie sind immer noch viel besser als gar keine Dinge.

Die Ablehnung der „Großen Transformation“ erledigt noch nicht das Produktivitätsproblem

Noch ein Punkt ist wichtig: Die ausgerufene „Große Transformation“ ist eine verheerend falsche Antwort auf die Produktivitätskrise, weil sie Wirtschaft und Staat mit schweren Zusatzlasten belegt und funktionsfähige Betriebe und Infrastrukturen leichtfertig zum alten Eisen wirft. Insofern ist die Ablehnung der regierenden „Wendepolitik“ nach wie vor richtig und wichtig. Aber die Produktivitätskrise wäre auch da, wenn es dies große ökologisch-soziale Zukunfts-Theater gar nicht gäbe. Die wirklichen Krisen dieses Landes müssen als solche und ganz unabhängig von der Auseinandersetzung mit diesem Theater bewältigt werden. Keine parteipolitische Polemik gegen „grün“ oder „rot“ kann diese Aufgabe ersetzen.

Nur der Ernst der Lage kann die politische Landschaft verändern

Hier liegt die eigentliche Bewährungsprobe, um Deutschland durch die gegenwärtige Zeit zu führen. Hier ist der Platz, der in der politischen Landschaft insgesamt vakant ist und nicht von einer Partei allein besetzt werden kann. Hier muss sich die Mehrheit bilden, die die Klarheit und das Durchhaltevermögen hat, um Wirtschaft und Staat heil durch diese engen Zeiten zu führen. Es gibt ja einen verbreiteten Zweifel unter den Menschen, ob dies Land die Aufgaben der Gegenwart überhaupt bewältigen kann. Diese Zweifel beziehen sich nicht nur auf irgendwelche Personen an der Regierung, sondern auf viele gesellschaftliche Bereiche und Einrichtungen. Es sind letztlich Zweifel an der eigenen Kraft als Bürgerschaft. Und das Eingehen auf den wirklichen Ernst der Lage ist auch das beste Mittel gegen die Drohung, eine größere Kurskorrektur im Lande würde mit „mehr Extremismus“, „mehr Hass“ und „mehr Diktatur“ verbunden sein.
Es wird immer verschiedene Parteirichtungen geben. Und nur der Ernst der Lage kann so nachhaltig und breit wirken, dass er bei diesen verschiedenen Parteirichtungen jeweils eigene Positionsveränderungen anstößt und eine gute Umgruppierung im Gesamtbild der Parteienlandschaft bewirkt.

Wer die Gegenwart nicht bewältigt,wird keine Zukunft bekommen

Die Bilanzen von Wirtschaft und Staat in Deutschland sind verheerend. Aber man predigt eine „Zuversicht“, die völlig in der Luft hängt. So wird das ganze Land in einen hilflosen Wartestand versetzt.

Wer die Gegenwart nicht bewältigt, wird keine Zukunft bekommen

25. Juli 2024

Deutschland befindet sich in einem merkwürdigen Zwiespalt. Auf der einen Seite häufen sich die schlechten Nachrichten aus Kernbereichen der deutschen Industrie wie dem Automobilbau, der chemischen Industrie oder dem Maschinenbau. In vielen Bereichen sind die Kosten so hoch, dass nicht einmal mehr eine einfache Reproduktion der alternden Bestände gelingt, wie der Verfall des Streckennetzes der Bundesbahn oder die drastischen Rückgänge im Wohnungsbau zeigen. Elementare Berufstätigkeiten finden keinen Nachwuchs. Neben dieser Arbeitskrise gibt es inzwischen auch eine Kapitalkrise, weil die Wertschöpfung, aus der Investitionen finanziert werden müssten, nicht mehr gegeben ist. Mit anderen Worten: Deutschland bewältigt die ständigen Aufgaben, die für jedes moderne Land grundlegend sind, nicht mehr. Das Elementare gelingt nicht mehr. Die greifbaren Resultate und zählbaren Erträge bleiben aus. Die Gegenwartsaufgaben bleiben liegen.
Doch auf der anderen Seite gibt es eine Zukunftserzählung, die das Land in einen extremen Erwartungszustand versetzt hat. Ihm soll nicht nur die größtmögliche Katastrophe drohen, sondern zugleich die größtmögliche Erlösung winken. Auf der einen Seite gibt es eine bevorstehende Überhitzung des Planeten, eine weltweite Massenflucht-Bewegung und dazu Russland als neuer Weltkriegs-Treiber. Auf der anderen Seite stehen globale Heilsversprechungen: Eine Zukunft soll machbar sein, in der es eine „ganz neue“ wunderbare Welt aus erneuerbaren „natürlichen“ Energien, abgestellten Fluchtursachen und einem entmachteten Russland geben. Aus diesem Gesamtdrama aus finsterster Drohung und hellster Erlösung kann man sich nur schwer befreien. Es verwickelt das Land nicht nur in opferreiche Kämpfe und Kriege, sondern – schwerwiegender noch – es verhindert, dass das Land sich seinen naheliegenden Aufgaben und drängenden Problemen zuwendet. Obwohl die wunderbare Welt eines grünen Wirtschaftswunders in immer weitere Ferne rückt, wird die Klimarettung als „unser Klimaziel“ immer noch beschworen. Und die konkreten Stilllegungs-Beschlüsse wie das Verbot des Verbrennungsmotors ab 2035 werden nicht aufgehoben, obwohl kein gleichwertiger Ersatz vorhandeln ist. So wird die Gegenwart einer „ganz neuen“ Zukunft geopfert.
In Deutschland gelingt es angesichts einer unübersehbaren Krise nicht, dem Naheliegenden die erste Priorität zu verschaffen: dem Abwehrkampf gegen den Niedergang von Wirtschaft und Staat. Dieser Abwehrkampf kann nur geführt werden, wenn sich das Land von der Last und Verführung durch eine extrem dramatisierte Zukunft befreit, zumindest mehr Distanz zu dieser „großen Erzählung“ gewinnt. Denn diese Erzählung versetzt die Menschen in einen lähmenden Wartezustand. Sie werden zu einer bloßen Erwartungshaltung verurteilt. Sie sollen sich, wie man jetzt des Öfteren zu hören bekommt, in „Zuversicht“ üben. Um dem zu entgegen, muss dies Land viel stärker seiner Gegenwart ins Auge blicken. Dazu müssen die vorliegenden Bilanzen endlich ernst genommen werden, und nicht als bloße „Konjunkturdelle“ abgetan werden. Und es muss den elementaren, ständigen Aufgaben eines modernen Landes ins Auge blicken. Es ist ja nicht zu übersehen, dass dies Land häufig an den sogenannten „einfachen“ Dingen scheitert – weil es die täglichen Mühen scheut, die sie erfordern. Wenn Deutschland also eine Ordnungsidee braucht, die dem Niedergang entgegenwirkt, dann wäre es eine Ordnung, die der praktischen Auseinandersetzung mit der gegebenen realen Welt Priorität einräumt. Und die den Leistungen, die hier erbracht werden müssen, nachhaltigen Wert verleiht. Die also der Neigung entgegenwirkt, die Gegenwart eines Landes einer spekulativen Zukunft zu opfern.

Eine „vollkommen neue“ Zukunft?

Es ist ein guter parlamentarischer Brauch, dass eine Haushaltsdebatte mit einer Auseinandersetzung „Zur Lage der Nation“ verknüpft wird. Das bietet Regierung und Opposition die Gelegenheit, ihre Einschätzung zur Lage vorzutragen und vor diesem Hintergrund, den Umfang und die Prioritäten der Staatsausgaben zu begründen. Hier wird Zukunft also aus Gegenwart entwickelt. Doch ein Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5.7.2024 über die Bundestagsdebatte zum Bundes-Haushalt für das Jahr 2025 (Überschrift „Scholz irritiert als Chefoptimist“) deutet auf etwas Anderes hin. Dort heißt es:
„In der Bundestagsdebatte am Mittwoch platzierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) seine neueste Wortkreation. Nach der Bazooka´ gegen Corona und dem „Doppel-Wumms´ gegen die hohen Energiepreise soll nun derWachstumsturbo´ kommen. Nicht weniger als `eine unglaubliche Belebung´ stellte Scholz in Aussicht.“ Und an anderer Stelle heißt es:
„Schon im vergangenen Jahr hatte Scholz für Erstaunen gesorgt, als er Deutschland wegen der Investitionen in den Klimaschutz ein Wirtschaftswachstum wie in den Nachkriegsjahren prophezeite.“
Der Kern dieses „Optimismus“ besteht darin, dass er sich gar nicht erst bei der deutschen Gegenwart aufhält, sondern den Blick gleich auf die Zukunft lenkt – auf eine Zukunft, die in gar keinem nachvollziehbaren Verhältnis zur Gegenwart steht. Der Gedanke, dass die Zukunft nur aus den heutigen Erträgen einer leistungsfähigen Wirtschaft zusammen mit effizienten Infrastrukturen entwickelt werden kann, ist der Regierung offenbar völlig fremd. Dass die Hindernisse, die diesen Erträgen jetzt entgegenstehen, auch jetzt beseitigt werden müssen, steht nicht im Mittelpunkt der Debatte. Stattdessen befasst man sich mit den Möglichkeiten zusätzlicher Schulden. Sie dienen als Ersatzlösung, um eine wirkliche Bewältigung der Gegenwartsprobleme zu vermeiden.

Das Verführerische der „Großen Transformation“

Wenn man freilich in der Auseinandersetzung um die Gegenwart und Zukunft des Landes nur „mehr Schulden!“ rufen würde, würde das niemand überzeugen. An dieser Stelle tritt nun die große Erzählung von einem Umbau der Welt, wie ihn die Geschichte nicht gesehen hat, in ihre Funktion. „Die große Transformation“ ist der Titel der Erzählung, wobei „Transformation“ ein schillerndes Wort ist: Es klingt ein bisschen nach Reform und ein bisschen nach Revolution. Eine magische Verwandlung klingt hier an. Aber wenn uns jemand von der Verwandlung von Wasser in Wein erzählt und das als „Innovation“ anpreist, sind wir doch ein bisschen skeptisch. Hier spielt nun der Zusatz „große“ eine wichtige Rolle: Im Großen sind wir eher zum Glauben geneigt als im Kleinen. Das macht das Verführerische an der versprochenen „Großen Transformation“ aus.

Metaphysik (I)

So wie „das Globale“ eine ganz eigene (räumliche) Metaebene ist, auf der die Ressourcen und Knappheiten eines gegebenen Landes nicht mehr zählen, ist „die Zukunft“ eine ganz eigene (zeitliche) Metaebene: Die Ressourcen und Knappheiten einer gegebenen Gegenwart zählen hier nicht mehr. Es ist, als wäre „die Zukunft“ ein eigener Planet, der ganz unabhängig von den Mühen der Gegenwart angesteuert werden könnte.

Metaphysik (II)

Eigentlich ist die „große Transformation“, über die heutzutage mit so großer Selbstverständlichkeit geredet wird, ein völlig absurdes Ansinnen. Die größtmögliche Bedrohung wird – wie mit einem riesigen planetarischen Zauberstab – in das größtmögliche Glück gewendet.

Urselchens Mondfahrt

Es gibt Versuche, der Zauberei einen Anstrich von historischer Plausibilität zu verleihen. Schon im Jahr 2019 hatte Ursula von der Leyen in Hinblick auf das „Green Deal“-Programm von „Europas Mann-auf-dem-Mond-Moment“ gesprochen. Es sollte ein „großer Moment“ entstehen, der mit dem Mond-Landungsprogramm der Amerikaner zu vergleichen wäre. Das ist ein Gedanke von verführerischer Leichtigkeit: Die „große Transformation“ soll nicht mehr sein als eine große Reise. Allerdings waren die Amerikaner in den 1960er Jahren nicht solche Narren, dass sie glaubten, mit einem Raumfahrt-Programm eine komplett neue industrielle Basis gewinnen zu können.

Die „Große Transformation“ als „Deal“?

Der „European Green Deal“ ist ein Maßnahmen-Paket, das von der EU-Kommission beschlossen und europaweit abgesegnet wurde. Der Titel des Pakets ist suggestiv: In Anlehnung an die Politik des „New Deal“ unter dem US-Präsidenten Roosevelt in den 1930er Jahren wird der Anspruch erhoben, einen großen Schub für das Wirtschaftswachstum auszulösen. Allerdings stand damals ein realer Produktivitäts-Zuwachs in der Industrie zur Verfügung, die eine Anschubfinanzierung wie beim „New Deal“ auf fruchtbaren Boden fallen ließ. Das galt auch für die Automobilindustrie auf Basis des Verbrennungsmotors. Diese realwirtschaftlichen Fortschritte führten zu einer Vergrößerung der Märkte. Automobile wurden auch für breite Gesellschaftsschichten erschwinglich. Doch nun, im „Green Deal“, ist eine solche realwirtschaftliche Grundlage nicht in Sicht. Im Gegenteil: Er bringt ökologische Auflagen, die viele Produkte erheblich verteuern und effiziente Technologien verbieten. Dazu gehört das Verbot der Verbrenner-Technologie in Automobilen ab 2035 – also das Verbot einer der Technologien, die dem alten „New Deal“ zum Erfolg verhalfen. Das Verbot wurde verhängt, ohne dass ein gleichwertiger, erschwinglicher Ersatz zur Verfügung stand. Man geht offenbar davon aus, dass „die Zukunft“ schon irgendwie liefern wird.

Ein ganzes Land im erzwungenen Wartestand

Angesichts des verheerenden Markteinbruchs bei Elektro-Automobilen und großer Ertragsprobleme in vielen Branchen, die von ökologisch motivierten „Wenden“ betroffen sind, könnte man erwarten, dass nun die verkündeten Ziele zurückgenommen werden. Aber das geschieht nicht: Es gibt keine große Korrekturbewegung im Land. Nicht einmal ein Innehalten, um nachzudenken. Mit seltsamer Eile wird immer wieder gleich vorneweg versichert, dass man treu zu „unseren Klimazielen“ stehe. Das gehört sozusagen zum guten Ton im Lande. Viele Unternehmen beklagen die gestiegenen Kosten und mangelnden Erträge, aber man scheut sich, die in der Politik getroffenen Richtungs-Entscheidungen und die eigenen Investitionsentscheidungen ausdrücklich als falsch zu bezeichnen. Im öffentlichen Leben beeindrucken zunächst die großen Weltdramen von Bedrohung und Rettung, und ein Rückzug aus solch großen Kulissen – auch wenn er noch so wohlbegründet wäre – hat es zunächst schwer, sich durchzusetzen. Er ist mit dem Makel der Kleinlichkeit und Feigheit behaftet. So ist ein nicht unbeträchtlicher Teil der Menschen bereit, an alle möglichen Wunderstoffe und Pilotprojekte zu glauben, die das große Weltretten doch noch zu einem guten Ende führen sollen. Das gilt besonders dann, wenn in der Öffentlichkeit die täglichen Leistungen der Realwirtschaft keine Aufmerksamkeit und keine Anerkennung mehr finden. Aber in einer Öffentlichkeit, in der die großen Weltdramen regieren, sind die Menschen mehr denn je zu bloßen Zuschauern degradiert.
Im Deutschland der Gegenwart stecken viele Menschen auf die eine oder andere Weise in einem Wartezustand. Dieser Zustand ist ein hilfloser Zustand: Man ist gezwungen auf etwas zu warten, das man gar nicht beeinflussen kann. Die Beschwörung einer „ganz neuen Zukunft“ hat das ganze Land in einen erzwungenen Wartezustand versetzt. Ein Ende ist nicht in Sicht.