Entwicklungskrisen, die nur von innen lösbar sind

Wer die Lehren aus dem Afghanistan-Debakel ziehen will, muss sich von den Scheinlösungen der Globalisierung freimachen.

Entwicklungskrisen, die nur von innen lösbar sind

31. August 2021

Innerhalb weniger Wochen und Tage ist in Afghanistan eine Ordnung zusammengebrochen, die über 20 Jahr hin mit hohem materiellen und kulturellen Aufwand von einer Allianz westlicher Staaten – im festen Glauben, etwas Kluges und Gutes zu tun – aufgebaut worden war. Der Zusammenbruch geschah ohne jedes Aufbäumen der afghanischen Regierung und ihrer Streitkräfte, und auch ohne größeren Widerstand der Bevölkerung. Dieser Zusammenbruch kann nicht als ein einmaliger Unglücksfall verbucht werden, oder als eine bloße „Fehleinschätzung“ einer bestimmten Situation. Er muss als Ergebnis einer längeren Fehlentwicklung verstanden werden, und zwar einer inneren Fehlentwicklung in Afghanistan, die nicht nur bestimmte politische Eliten betrifft, sondern tiefer in die Gesellschaft reicht und die Wirtschaft und die ganze Daseinsweise der Bevölkerung berührt. Es liegt also eine Krise in der zivilisatorischen und institutionellen Entwicklung vor, Und es handelt sich nicht nur ein afghanischer Sonderfall, sondern eine solche Krise ist in dem Kreis der Länder, die im 20. Jahrhundert ihre politische Unabhängigkeit erkämpft haben, häufiger anzutreffen. Aber sie ist in der „Dritten Welt“ auch nicht der Regelfall, sondern es gibt viele Länder und ganze Weltregionen, die ihre Entwicklung besser gemeistert haben. Deshalb führt auch die pauschale Schuldzuweisung, die Krise sei ein Erbe des Kolonialismus und im Grunde seine Fortsetzung, falsch und lenkt ab von den inneren Ursachen dieser Krise.

Ein völlig unverhältnismäßiges Wachstum der Bevölkerung

Ein Phänomen macht diese innere Problematik eigentlich unübersehbar: das rasante Bevölkerungswachstum, dass in den Krisenländern nach der Unabhängigkeit eingesetzt hat, und das völlig entkoppelt vom Stand der Wirtschaft, der Produktivität, der Infrastrukturen und der sozialen Institutionen – insbesondere der Geschlechterrollen und der Familienstrukturen – geschah. Dies Wachstum ist zur Hypothek für viele der jungen Staaten geworden, insbesondere in Afrika und im Nahen und Mittleren Osten. Aber auch in einzelnen Ländern Süd- und Ostasiens und in Sud- und Mittelamerika ist das der Fall. So konnte die positive Errungenschaft der Unabhängigkeit gar nicht ihre Früchte tragen. Das rasante Bevölkerungswachstum führte aber auch zur Auflösung älterer sozialer Bindungen und Zusammenhänge. Ausländische Beobachter sprechen häufig und oft nicht ohne Bewunderung von der „unglaublich jungen Bevölkerung in den Straßen der Großstädte“ (die Altersgruppen unter 25 Jahren stellen die Mehrheit der Bevölkerung). Aber sie erkennen nicht, dass es sich um eine entwurzelte, fragmentierte Bevölkerung handelt, die (vorschnell) ihre ländlichen Herkunftsorte verlassen hat, ohne dass am städtischen Zielort Arbeitsmärkte, Wohnungsmärkte und Möglichkeiten zur Familiengründung gegeben waren und sind. So gleichen die Großstädte eher großen Sammellagern einer Passivbevölkerung, und entsprechen überhaupt nicht dem Vorbild einer bürgerlichen urbanen Aktivgesellschaft, das Europäer vor Augen haben. Diese Bildung einer entwurzelten Passivbevölkerung in den Städten und der Ausblutungsprozess auf dem Land hat dazu geführt, dass die säkularen politischen Eliten, die in den Unabhängigkeitsbewegungen noch die Führung hat und zunächst über lange Jahre die Regierung stellten, durch islamistische Kräfte ersetzt wurden. Aber es ist durchaus möglich, dass die Bevölkerungsdynamik auch die islamistischen Regime überfordert – ohne dass deren Sturz schon automatisch eine Wende zum Besseren bringen würde.

Die verschüttete Entwicklungsdebatte

Es ist schwer zu sagen, auf welche Weise und in welchen Zeiträumen diese Entwicklungskrise überwunden wird. Aber einige Eckpunkte lassen sich schon markieren:

  • Die Bedeutung der eindeutigen Zuordnung von Verantwortung. Verantwortliche Einheiten mit eindeutigen Verfügungsrechten und Haftbarkeiten muss es sowohl auf der Ebene einer gesamten Nation als auch auf der lokalen Ebene und auf der familiären Ebene geben.
  • Die Bedeutung des Landes und der Landwirtschaft, mit der Bildung kleinerer, handwerksnaher Industrien
  • Die Bedeutung größerer territorialer Märkte (Produkte, Arbeitskräfte), elementarer Infrastrukturen (Mobilität, Wasser, Schulwesen) und niedrigschwelliger Industrien.
  • Soweit es um Teilnahme am Weltmarkt geht, muss ein Segment für einfache Güter, also ohne unerreichbare Mindeststandards, für die Länder eröffnet werden.
  • Die Bedeutung eines rudimentären, flächendeckenden Sicherheits- und Rechtsstaates

Bei alledem darf man nicht alle Elemente einer freiheitlichen Demokratie erwarten, sondern muss oft nach dem Prinzip „lieber weniger, aber zugänglich“ verfahren. Man muss sich auf Phasen langsamer Entwicklung mit längeren, opferreichen Durststrecken einstellen. In diesem Zusammenhang ist es durchaus interessant, in die Realgeschichte Europas und der westlichen Welt zu schauen. Was geschah eigentlich in den Jahrhunderten der frühen Neuzeit, vor den großen sozialen und politischen Umwälzungen?

Lange Zeit gab es eine durchaus offene, wissenschaftliche Entwicklungsdebatte, die sich auf die Unterschiede zwischen Nationen bezog. Hier stellte man die Frage, warum der Durchbruch zu einer modernen Ordnung in Europa stattfand, und nicht anderswo. Welche Voraussetzungen spielten dabei eine Rolle? In Bezug auf Entwicklungs- und Schwellenländer wurde gefragt, warum bestimmte Nationen erfolgreich sind und andere weniger – oder sogar scheitern. Dabei ging es nicht um irgendein naturgegebenes „Wesen“ von Völkern, sondern um zivilisatorische und institutionelle Sachverhalte und geschichtliche Entwicklungspfade. Nur als Beispiele seien hier einige Bücher angeführt:

  • D.C.North/R.P.Thomas (1973), The Rise of the Western World
  • D.C. North (1988), Theorie des institutionellen Wandels
  • D. Landes (1998), Wohlstand und Armut der Nationen
  • D. Acemoglu/J.A.Robinson (2012), Warum Nationen scheitern

Doch ist diese Entwicklungsdebatte seit geraumer Zeit von der Globalisierungsdebatte verdrängt worden, bei der es darum ging, die beste Form einer „global governance“ zu finden. Gab es Probleme, so musste es sich um Fehler im globalen System handeln. Die fatale Konsequenz: Die Lösung wird immer wieder von neuem auf ein globales Spielfeld verlegt, das nur Gesamtlösungen oder gar nichts erlaubt (die „eine Welt“). So wird jeder selbstkritische Lernprozess im Innern der Entwicklungs- und Schwellenländer schon im Ansatz zerstört.

Der Hauptanteil der Lösung liegt „innen“

Doch das Bevölkerungsproblem verweist gerade auf die innere Ordnung der Entwicklungsländer. Für eine effiziente Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns ist die globale Ebene viel zu weitläufig. Zu leicht verlieren sich die Spuren der eigenen Entscheidungen. Es ist schon viel, wenn es einen Bezug zwischen dem Handeln und Entscheiden von Familien und der Lage der Nation und ihren Sozialsystemen gibt. Aber es gibt nur eine Anpassung an die die begrenzten Möglichkeiten, wenn eine Gesellschaft offen und eindeutig vor ihre Situation des Seins oder Nichtseins gestellt wird. Nur so – aus der Härte einer Real-Situation und nicht bloß durch einen pädagogischen Appell – kann ein echter Wille zu Selbstverantwortung und Anpassung an Gegebenheiten erwachsen.
Wird von dem Afghanistan-Schock wirklich eine Veränderung in diese Richtung ausgehen? Die Aufforderung, „Lehren zu ziehen“, ist ja in unserer Zeit zunächst einmal nur eine rhetorische Geste. Schaut man auf die Vorschläge, die jetzt die Runde machen, ist nicht davon die Rede, dass Afghanistan nun vor die Konsequenzen des rasanten Bevölkerungswachstums gestellt wird – als Voraussetzung für einhegende Maßnahmen. Im Gegenteil dreht sich alles um eine Lösung, die es Afghanistan erlaubt, seine Überbevölkerung zu exportieren – die Migration. Die „wohlhabenden“ Länder des Westens sollen die Teile der afghanischen Bevölkerung, die in ihrem Land keine Zukunft sehen, aufnehmen. Gegenwärtig findet eine Art Wettbewerb statt, wer den Bevölkerungskreis, der da zur Migration eingeladen wird, am weitesten fasst. Und wer die höchste Zahl der angebotenen Plätze nennt. Damit wird die fatale Logik der internationalen Intervention nicht etwa korrigiert, sondern auf ihren Höhepunkt getrieben. Man befasst sich gar nicht mehr mit dem Entwicklungsproblem in Afghanistan, sondern nimmt ihm einfach den Bevölkerungsüberschuss ab. Und die besten Kräfte, die dort doch dringend gebraucht werden.
Hier zeigt sich auch, welch katastrophale Blindheit in westlichen akademischen Kreisen ausgebrochen ist, die dafür gesorgt haben, dass die Diskussion über internationale Beziehungen heute eine Diskussion über „Kolonialismus“ und „Rassismus“ ist. Man ersetzt das Entwicklungsthema, bei dem doch so vieles zu untersuchen und zu erörtern wäre, durch ein Schuld-Thema. Und ist die Diskussion erstmal auf dies Gleis gebracht, ist jede Form der „Wiedergutmachung“ schon eine Lösung. Damit kann man wunderbar den bisherigen Stand der Forschung auf den Müll schmeißen und eine „Wachablösung“ bei den Wissenschaftlern durchsetzen.
Der Zusammenbruch in Afghanistan gibt eine Vorahnung, wie das für diejenigen enden wird, um die es doch eigentlich geht: um einen beträchtlichen Teil der Länder und Völker, die sich im 20. Jahrhundert auf den Weg einer eigenständigen Entwicklung begeben haben. Dieser Teil läuft Gefahr, im 21. Jahrhundert an der Bevölkerungskrise (viel eher als an der „Klimakrise“) zugrunde zu gehen. Deshalb ist es dringend, dass dieser Ernst der Lage jetzt offen ausgesprochen wird und in seinen sozialen Mechanismen verstanden wird. Die Härten des Umsteuerns, die dies ganze Jahrhundert prägen wird, sind nur erträglich, wenn die Souveränität der Länder und ihre damit verbundene innere Würde gewahrt wird.

(erschienen bei der „Achse des Guten“) 

Das Scheitern des „Nation Building“

In Afghanistan wurde wiederholt und mit großem Aufwand versucht, ein nationales Staatswesen von außen aufzubauen. Das widerspricht einem institutionellen Grundprinzip der Moderne – der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung.

Das Scheitern des „Nation Building“

4. September 2021

Die Globalisierung hat einen Krieg verloren. Denn der Krieg in Afghanistan war ein Globalisierungskrieg, der das Schicksal des Landes militärisch, politisch, wirtschaftlich und sozial extrem an globale Entscheidungen gebunden hat. Das war kein begrenzter Militärschlag als Antwort auf die Anschläge des 11. September 2001, sondern eine viel umfassendere Mission. Eine Nation sollte von außen aufgebaut werden („nation building“). Hier sieht man die ganze Vermessenheit, die dem Projekt der Globalisierung zugrunde liegt: Es geht nicht einfach darum, dass es weltweite Beziehungen zwischen den Ländern gibt – das gehört zur Normalität von Außenpolitik und Außenwirtschaft. Nein, findet eine fundamentale Verschiebung der tragenden Kräfte und Strukturen statt. Die Entwicklung Afghanistans sollte nicht mehr vom Willen und Bewusstsein des Landes getragen werden, sondern von einem höheren, globalen Willen und Bewusstsein. Doch hat diese Mission, die über 20 Jahre hin mit einem immensen Einsatz von Menschen, Geld und Material durchgeführt wurde, es nicht geschafft, die Entwicklung Afghanistans auf neue, nachhaltige Grundlagen zu stellen. Insbesondere hat sie es nicht geschafft, nachhaltige Verantwortungs-Strukturen im Land zu schaffen und die inneren Kräfte für eine materiell und geistig selbstverantwortliche Nation zu wecken.
Man darf auch bezweifeln, dass die globalisierenden Akteure überhaupt irgendeine Vorstellung von diesem „Innen“ hatten. Dass dies „Innen“ ihnen wirklich wichtig war. Gehen sie nicht insgeheim davon aus, dass die Unterscheidung zwischen Innen und Außen in der heutigen Welt sowieso wertlos geworden ist? Ist „Nation Building“ da nicht nur ein Werbeslogan von Leuten, die Nationen eigentlich für etwas „von gestern“ halten? Die Ahnungslosigkeit über die Entwicklung der Stimmung im Land, die in dem plötzlichen, katastrophalen Ende der Afghanistan-Mission und dem fluchtartigen Rückzug zum Ausdruck kommt, deutet darauf hin. Die Akteure haben die Zeichen „aus dem Inneren“, die sie ja schon längere Zeit vor Augen hatten, nicht ernst genommen. Ihnen waren diese Zeichen für ihr Handeln im Grunde gleichgültig, und sie vertrauten da lieber auf das äußerliche Funktionieren ihrer Interventions-Routine. Doch dann kam der Realitäts-Schock.

Das Großprojekt der Globalisierung stößt an seine inneren Grenzen

Dies ist ein Realitätsschock für die Globalisierung, der eine Vorahnung davon gibt, wie dies so vielbesungene und so selbstgewisse Großprojekt insgesamt scheitern wird. Es ist das notwendige Scheitern eines im Grunde weltfremden Konstrukts, und in diesem Sinn kann man Erleichterung empfinden, dass es nun allmählich mit ihm zu Ende geht. Aber richtig zum Jubeln ist einem nicht zu Mute. Denn die Opfer sind schrecklich. Die Opfer an Leib und Leben der Menschen, die mit einem Mal völlig schutzlos der Gewalt und dem Elend preisgegeben sind. Und es sind ja nicht nur die Opfer im Umfeld des Kabuler Flughafens, wo sich die sichtbaren Dramen abspielen. Wieviel geschieht im Dunkel, wo keine Kamera hinschaut, wo nicht mal die Namen auf irgendeiner Rettungsliste stehen. Wo es erst in den nächsten Wochen Monaten Vermisste geben wird. Das betrifft die sogenannten „Ortskräfte“, die direkt für die Intervention tätig waren. Aber es betrifft auch eine beträchtliche Zahl von Menschen, insbesondere Frauen, die nach Bildung, Berufstätigkeit und öffentlichem Leben strebten und dafür ihr Schicksal weitgehend mit der Intervention verknüpft haben. Sie alle stürzen jetzt ins Leere, denn es sind ja keine Auffangpositionen da. Die nationalen Strukturen waren, wenn überhaupt vorhanden, nur Überschriften ohne Substanz.

Das Schlüsselproblem des Bevölkerungs-Wachstums

An dieser Stelle zeigt sich, dass die bedrohliche Lage noch viel mehr Menschen betrifft – letztlich die ganze Bevölkerung Afghanistans. Im gesamten Land wird die Lage in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren nicht leichter werden, sondern schwieriger und prekärer. Und das hat nicht nur damit zu tun, dass die Taliban wieder die Macht haben und die internationalen Hilfen sehr viel geringer werden. Nein, in den fundamentalen Daten des Landes ist eine Verschärfung der Situation angelegt. In den letzten Jahren und Jahrzehnten – ist die Relation zwischen Bevölkerungszahl und Tragfähigkeit des Landes immer ungünstiger geworden. Dadurch haben die Bindungslosigkeit und die Zersplitterung der Bevölkerung zugenommen. Die Kombination aus alltäglicher Gewalt und Apathie ist auf dem Vormarsch. Heute sehen wir den Zusammenbruch der militärischen und zivilen Intervention, aber morgen kann es zu einem noch größeren Zusammenbruch kommen, weil auch das Taliban-Regime, trotz aller lokalen Verankerung, der fundamentalen Notlage des Landes nicht gewachsen sind. Man muss sich nur immer wieder die Entwicklung der Bevölkerungszahlen vor Augen führen, um zu verstehen, welche Problematik sich da aufgetürmt hat: Im Jahr 1980, zu Zeiten der russischen Besatzung, betrug die Bevölkerungszahl 13,3 Millionen, 2020 waren es schon 38,9 Millionen. Eine Verdreifachung, in diesem extrem kargen Land! Und für das Jahr 2050 werden 64,7 Millionen prognostiziert. Das Problem liegt also im Innern des Landes. Afghanistan hat eine fundamentale Entwicklungskrise, die tief in die Formen der Familie hineinreicht. Es fehlt auf allen Ebenen an selbstverantwortlichen Einheiten.

Alibi-Debatten über „Rassismus“ und „Kolonialismus“

Es ist in diesen Tagen in Deutschland und anderen westlichen Ländern viel davon die Rede, dass man Lehren aus dem Scheitern der Afghanistan-Mission ziehen muss. Oft wird gesagt, dass man sich von internationalen Interventionen zum Zweck des Nation-Building verabschieden muss. Aber zugleich wird eine andere Form der grenzüberschreitenden Antwort hochgefahren: der Exodus aus dem Land, die Massenmigration in Richtung „wohlhabender“ Länder. Und wieder ist man nicht in der Lage, diesen Irrweg einen Irrweg zu nennen. Man will die Migrantenströme in der Nähe des Herkunftslandes halten, aber man scheut sich, dem Streben in die wohlhabenden Länder prinzipiell zu widersprechen und entgegenzutreten. Man will das innere Entwicklungsproblem und insbesondere das Bevölkerungsproblem nicht wahrhaben und als ein wirkliches Großthema dieses Jahrhunderts akzeptieren – weil es harte Einschnitte und Grenzen erfordert.
Es wird so viel über angebliche „Klima-Leugner“ und „Corona-Leugner“ schwadroniert. Wäre es nicht viel dringlicher, sich mit den „Bevölkerungs-Leugnern“ zu befassen. Und besser noch: mit den „Entwicklungs-Leugnern“, die nicht wahrhaben wollen, dass Mensch und Natur nicht im Rohzustand zusammenpassen, sondern ein geschichtlicher Aufbau stattfinden muss, der zwischen beiden Seiten vermittelt. Es gibt viele Entwicklungs- und Schwellenländer, die erst im 20. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit erkämpft haben. Ein erheblicher Teil hat sich recht gut entwickelt, aber es gibt auch einen Teil, der ziemlich schnell in der Bevölkerungsfalle gelandet ist. Aber statt zu überlegen, wie man da herauskommt, findet gegenwärtig eine Schuld-Debatte über „Rassismus“ und „Kolonialismus“ statt, bei der man sich moralisch aufplustern kann, ohne irgendetwas zu den heutigen Entwicklungsproblemen beizutragen. Ob der Afghanistan-Schock da heilsam wirkt?

(erschienen bei „Die Achse des Guten“)

Der Engpass, der unweigerlich kommt

Diesseits der großen „Weltkatastrophen“ braut sich über Deutschland eine ganz andere Krise zusammen. Wirtschaft und Staat verlieren elementare Fähigkeiten, während die „gehobenen Produkte“ und die „soft power“, auf die man sich verlegt hat, in der heutigen Welt immer weniger wert sind.

Der Engpass, der unweigerlich kommt

24. November 2021

Stellen wir uns vor, nur für einen Moment, es gäbe die „planetaren“ und „terminalen“ Krisen der Erdüberhitzung, des erzwungenen Massenexodus und der unendlichen Pandemien nicht mehr. Sie hätten sich als Zerrbilder und maßlose Übertreibungen erwiesen. Und wir hätten dann die Ruhe und den freien Blick, um die Lage neu zu bewerten. Und wir müssten dann nicht pauschal die ganze Welt auf einen einzigen Nenner bringen, sondern könnten uns der spezifischen Position zuwenden, die unser Land in der Welt einnimmt. Das wäre eigentlich eine gute Sache. Wir könnten, in Kenntnis der begrenzten Möglichkeiten unseres Landes, selbstbewusster sprechen und selbstverantwortlicher handeln – und wir wären nicht von denen abhängig, die vorgeben, im Besitz des „Weltwissens“ und „Weltgewissens“ zu sein.
Aber was würden wir feststellen, wenn wir am Ende des Jahres 2021 so auf unser Land schauen und die „große Weltrettung“ einmal weglassen? Können wir redlicherweise sagen: Deutschland ist auf einem guten Weg? Nein, das können wir nicht. Denn es gibt in diesem Land – und gewiss in anderen vergleichbaren Ländern auch – einen schleichenden Prozess von zunehmenden Defiziten und Verlusten. Unser Land verliert tragende Elemente seiner Wirtschaft und seines Staatswesens. Und das geschieht ganz unabhängig von den vielbeschworenen globalen Krisen. Die „Weltrettungen“ interessieren sich nicht für die hartnäckigen Defizite und Verluste im Lande. Doch gerade hier liegt der wahre Ernst der Lage, mit dem sich unsere Nation dringend befassen muss.
Genau genommen sind es zwei Vorgänge, die diesen Ernst der Lage ausmachen. Erstens führen die Verluste dazu, dass unser Land immer einseitiger und damit krisenanfälliger wird. Die Wirtschaft spezialisiert sich auf gehobene Produkte, Produktionsschritte und Dienstleistungen, der Staat spezialisiert sich auf eine Moderatorenrolle und „soft power“. Zweitens werden die Fähigkeiten, auf die Deutschland so einseitig setzt, international immer weniger nachgefragt. Entweder werden sie von anderen Nationen (insbesondere von Schwellenländern) in Eigenregie übernommen, oder sie erweisen sich als zu teuer, zu kompliziert oder zu schwach. So führt die wirtschaftliche und staatliche Aufstellung Deutschlands, die am Ende des 20. Jahrhunderts noch relativ krisensicher war, nun in einen Engpass hinein. Das deutsche „Vorbild“ erweis sich als selbstgefälliges Trugbild und als eine zunehmend brüchige Existenzgrundlage. Und das droht nicht für eine fernere Zukunft, sondern ist eine akute Gefahr in diesem Jahrzehnt.

Die Pflegekrise reicht tiefer als die Coronakrise

Es gibt wieder einen Anstieg der Covid19-Infektionszahlen und es ist absehbar, dass sich die Zirkulation des Virus selbst bei hohen Impfquoten nicht ganz unterbinden lassen wird. Man kann dafür sorgen, dass ein wachsender Anteil der Infektionen nicht mehr zu schweren Krankheitsverläufen führt, aber für die verbliebenen schweren Verläufe braucht man ein robustes Gesundheits- und Pflegesystem mit Reservekapazitäten. Und an diesem Punkt bekommt die Coronakrise einen anderen Namen: Sie ist ganz wesentlich zu einer Pflegekrise geworden. Schon vor der Corona-Epidemie wurde in Deutschland von einem „Pflegenotstand“ gesprochen, und es war nicht gelungen, hier eine Wende herbeizuführen. Und jetzt, in der Globalsteuerung der Coronakrise bekommt der Pflegenotstand keineswegs die nötige Priorität. Man vermeidet es, das heikle Thema zu vertiefen. Zwar ist von der Überlastung der Intensivstationen die Rede, aber wird kaum erwähnt, dass dies vor allem an einem Rückgang der real verfügbaren Intensivbetten liegt – weil es schlicht an Personal fehlt. Und das nicht nur wegen der schon großen Knappheiten, sondern wegen einer neuen Verschärfung des Notstands: Es hat in diesem Jahr einen wahren Exodus von Beschäftigten aus der Intensivpflege gegeben. Anfangs wurde der Rückgang mit 1000 Intensivbetten beziffert, inzwischen ist von 5000 Betten die Rede (FAZ 18.11., S.17).

Eine grundlegende Fehlaufstellung

Der Pflegenotstand erweist auf eine grundlegende Fehlaufstellung Deutschlands. Denn er betrifft einen Arbeits- und Qualifikationsbereich, der in der herrschenden Zukunftsvision für dies Land gar nicht vorkommt. Es geht um eine harte, vielfach unangenehme und monotone Arbeit im Schichtbetrieb. Die Tätigkeiten im Pflegebereich sind ganz überwiegend auf einer einfachen, allenfalls mittleren Qualifikationsstufe angesiedelt, die aber ein hohes Maß an ständiger Sorgfalt und Aufmerksamkeit erfordern. Dies Profil will so gar nicht zu einer politischen und sozialen Ordnung passen, die über 60 Prozent eines Jahrgangs auf einen akademischen Bildungsweg bringt. Hier ist längst, durch eine völlig irrationale Konzentration von staatlichen und privaten Investitionen ein unverhältnismäßig großer Sektor „gehobener“ Tätigkeiten entstanden – und eine soziale Blase des „gehobenen Mittelstands“. So wird alle andere Arbeit und Bildung im Land entwertet und vernachlässigt.
Und es ist überhaupt ein völlig aussichtsloses und sinnlose Unterfangen, ein ganzes Land in diese Richtung zu „heben“. Der vor unseren Augen stattfindende Rückzug aus dem Pflegeberuf findet trotz beträchtlicher Lohnerhöhungen statt. Mit Geld ist der strukturellen Schieflage der deutschen Berufs- und Bildungswelt nicht beizukommen. Solange die deutsche „Mitte“ politisch, wirtschaftlich und kulturell so „akademisiert“ ist (was sie in früheren Zeiten der Bundesrepublik nicht war), wird die relative Entwertung des Pflegeberufs weitergehen. Und der Engpass, der da kommt, hat gravierende Folgen: Er macht unsere Nation nicht nur hilflos, wenn es um Epidemien geht, sondern auch, wenn der Anteil alter Menschen immer größer wird.

Wie das Land enger gemacht wird (I)

An dieser Stelle lohnt es sich, den Blickwinkel etwas zu vergrößern. Denn die gleiche strukturelle Schieflage zeigt sich an viel mehr Stellen. In diesem bemerkenswerten Jahr 2021 gibt es Notstandsmeldungen von vielen Fronten, und sie betreffen meistens dieselbe Problemzone. Gewiss gibt es auch einen Mangel bei Ingenieurberufen, aber immer häufiger sind es Tätigkeiten von Facharbeitern und angelernten Arbeitern, die nicht mehr besetzt werden können: in Industrie und Handwerk, im Baugewerbe, im Transportgewerbe, in der Landwirtschaft, im Hotel- und Gaststättengewerbe, in der Lager- und Versandarbeit, in Bringdiensten für Essen und Lebensmittel, in der Brief- und Paketzustellung, in den Sicherheitsberufen von der Feuerwehr über die Polizei bis zum Militär. Und jedes Mal bedeutet das eine Verengung und Vereinseitigung elementarer Fähigkeiten dieses Landes.

Wie das Land enger gemacht wird (II)

Und noch eine Vergrößerung des Blickwinkels ist wichtig. Zu den Fähigkeiten eines Landes gehören nicht nur die subjektiven, beruflichen Fähigkeiten der Menschen, sondern auch die Sachanlagen der Betriebe und Infrastrukturen – Maschinen, Straßen, Energie, Wasser und vieles mehr. Auch hier ist nicht alles „von Natur aus“ da, sondern muss erschlossen, konstruiert und produziert werden. Auch wenn die Sachanlagen scheinbar einfach nur so daliegen, müssen sie doch ständig erhalten und erneuert werden. Sonst fallen sie brach. In modernen Zeiten, in denen diese Sachgrundlage eines Landes gewaltige Ausmaße angenommen hat, ist die Gefahr einer allgemeinen Industriekrise groß, wenn ein Land hier gleichgültig und nachlässig wird. Dann findet auch bei diesem Sachvermögen eine Verengung des Landes statt, die kurzfristig nicht zu beheben ist.

Die Automobilkrise reicht tiefer als die Klimakrise

Tatsächlich geschieht das vor unseren Augen. Der exemplarische Fall ist das Automobil. Der Ausstieg aus dem Verbrennungsmotor, und der Zwangsumstieg auf den Elektroantrieb, dessen Fahrzeuge für Menschen mit durchschnittlichem Einkommen vollkommen unerschwinglich sind, bedeutet de facto die Abschaffung des Automobils als Massenverkehrsmittel. Obendrein sind E-Mobile beim heutigen Stand der Technik im überwiegenden Teil des deutschen Siedlungssystems nicht alltagstauglich. Dabei gibt es in der Autoindustrie eigentlich keine Arbeitskrise. Die Krise besteht darin, die herkömmliche, zu vertretbaren Kosten verfügbare Automobil-Technologie und die bestehende Straßen-Infrastruktur heute in einem beträchtlichen Teil von Politik und Gesellschaft als „unerträglich“ gilt. Entsprechend wurden die Umweltnormen so erhöht, dass ihre Einhaltung de facto das Ende des automobilen Massenverkehrs bedeutet. Diejenigen, die diese „Verkehrswende“ betreiben, sind in ihrer Lebensweise in der Regel nicht unmittelbar betroffen – weil sie „gehobene“ Einkommen haben, oder weil sie in privilegierten Räumen mit kurzen Wegen oder schnellen Bahnverbindungen wohnen. Sie können – einstweilen noch – die Tatsache ignorieren, dass mit der Verkehrswende die Räume für Wohn- und Wirtschafts-Standorte erheblich reduziert werden und dies zu einem Run auf die verbleibenden Standorte führen wird – und dort zu einer massiven Teuerungswelle. Auf die Dauer wird jedoch niemand an der Tatsache vorbeikommen, dass mit dem Angriff auf den Verbrennungsmotor die Tragfähigkeit des gesamten Siedlungssystems in Deutschland radikal sinkt. Denn eine technologische Wende, die keinen Effizienzverlust bedeutet, ist für die nächsten Jahrzehnte nicht in Sicht.

Die große Wirkung kleiner Einzelnomen

Hier ließen sich eine ganze Reihe anderer Beispiele anführen, in denen ein ähnlicher Mechanismus wirkt: Es lassen sich immer Umwelt-Gesichtspunkte oder soziale Gesichtspunkte finden, die eine Erhöhung von Normen nahelegen. Dies Feld ist normativ ein unendliches Feld. Das würde sich sofort ändern, wenn man eine Gesamtbilanz aller Normen-Erhöhungen ziehen würde. Wenn man nur einmal alle Normen, die die „Verkehrswende“ treiben, betrachtet (oder die „Energiewende“), dienen sie keineswegs strikt der Reduzierung des CO2-Ausstoßes. Der Dieselmotor gilt als Hauptfeind, obwohl er weniger CO2 emittiert als der Benziner. Hier geht es um die x-te Erhöhung der Luftreinheit. Und die Kernkraftwerke hat man wegen des Fukushima-Unglücks stillgelegt, während der CO2-Gesichtspunkt dringend ihren Weiterbetrieb erfordern würde.
Im Namen des „Sozialen“ und im Namen der „Umwelt“ findet eine Verengung unseres Landes statt, ohne dass diese Verengung überhaupt als Ganzes in den Blick kommt. Und ohne dass darüber eine politische Entscheidung möglich ist. Die Verengung geschieht durch die Hintertür von einzelnen Verwaltungsakten, bei denen die Unternehmen und Haushalte dann allein sehen müssen, ob und wie sie damit leben können. Und dies „Friss-Vogel-oder-stirb“ trifft nicht nur die Privatbürger und Privatinstitutionen, sondern auch den Teil des Staates, der die Versorgungs-Infrastruktur und die öffentlichen Einrichtungen am Laufen halten muss. Die verheerenden Konsequenzen der wuchernden Einzelnormen-Erhöhungen für den Gesamtbetrieb und das Gesamtkapital des Landes bleiben unsichtbar. Eine politische Bilanzierung und Verantwortung findet gar nicht mehr statt. So kann sich die Normenspirale schier unaufhaltsam immer höher drehen.

Die Welt entwickelt sich anders

Und nun stelle man sich vor, dass ein solchermaßen hochgeschraubtes Land auf eine Weltsituation trifft, wo die „gehobenen“ Produkte und Fähigkeiten, die diesem Land geblieben sind und auf die es jetzt ganz einseitig setzt, immer weniger gefragt sind. Dann erweist sich der Ausweg eines immer umfangreicheren Außenhandels als Sackgasse. Der Titel des „Exportweltmeisters“ trügt. Das Land steht vor einem Engpass, der unweigerlich kommt.
Ist die Annahme, dass die deutsche Spezialisierung auf das „Gehobene“ in einer sich ändernden Welt immer weniger gefragt ist, plausibel? Man hört ja den Rat, dass wir doch „Erfindungs-Weltmeister“ werden sollten, und immer an der Weltspitze der Innovation marschieren sollten. Das ist mit Blick auf die Technik- und Wirtschaftsgeschichte ein naiver Rat. In der neuzeitlichen Geschichte hat noch nie jemand auf Dauer den Titel des Erfindungs-Weltmeisters besessen.
Und tatsächlich leben wir in einer Zeit, in der Schwellenländer als Produzenten in den Bereich gehobener Fähigkeiten vorstoßen. Die Konsequenz ist, dass die globale Arbeitsteilung in Zukunft weniger hierarchisch sein wird. Der Unterschied zwischen „gehobenen“ und „niederen“ Fähigkeiten wird sich nicht mehr in einer festen Länder- und Erdteilordnung abbilden. Die bisher weniger entwickelten Länder bewältigen höhere Aufgaben. Für die Nationen, die bisher auf dem gehobenen Niveau stark waren, bedeutet das, dass sie auch einfache Tätigkeiten, Produkte und Branchen in sich aufnehmen müssen. Und sie müssen das auch in ihren Normen abbilden. Diese Erweiterung ihrer inneren Spannweite tut ihrer Stabilität gut, und sie tut ihrer Würde keinen Abbruch. Die gegenwärtige Situation, wo man die „schmutzigen“ Tätigkeiten und Branchen auslagert und deren Produkte dann importiert, ist jedenfalls weder stabiler noch würdiger. Natürlich wird es Welthandel geben, Autarkie ist keine Alternative. Aber die Arbeitsteilung zwischen den Nationen wird in diesem Jahrhundert in der Tendenz weniger hierarchisch werden.

Das Lieferkettenproblem

Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, sich mit dem „Lieferkettenproblem“ zu befassen, von dem gegenwärtig viel die Rede ist. Tatsache ist, dass die Zulieferungen von Rohstoffen und Vorprodukten für die Industrien in Europa und den USA ins Stocken geraten sind. Es gibt massive Preiserhöhungen und teilweise auch gar nichts zu importieren. Wie lange dieser Zustand dauern wird, ist unklar. In den Medien begnügt man sich mit der Formel, dass das irgendwie an „Corona“ liegt und bald wieder vorbei sei. Aber es gibt auch Hinweise darauf, dass hier eine tiefergehende Umorientierung der Handelsströme im Gange ist: beträchtliche Teile des Welthandels, die sich bisher ganz selbstverständlich auf Europa und die USA richteten, laufen nun an ihnen vorbei. Wie groß und dauerhaft diese Veränderung ist, ist unklar. Aber sie muss dringend beobachtet werden. Denn wenn sich dieser Trend bestätigt, hat das auch Konsequenzen für das Währungs- und Finanzsystem. Dann gibt es nicht nur eine dauerhaft hohe Inflation, sondern es gibt für die Euro und Dollar überhaupt weniger zu kaufen. Dann stecken wir in einem Engpass, in dem auch die Geldpumpe der EZB am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt ist. Und wenn es dann noch zu militärischen Auseinandersetzungen kommt, stößt auch das einseitige Setzen auf „soft power“ an seine Grenzen.

Was wichtig wird

Dann wird sich zeigen, wie sehr die großen „Weltkrisen“ und „Weltrettungen“ im Grunde nur leichtsinnige Luftnummern waren, weil sie auf Lösungsmittel gebaut waren, die weder Deutschland noch irgendeiner anderen Nation dieser Welt zur Verfügung stehen. Aber richtig jubeln wird man über diese Ernüchterung nicht können. Denn dann steht Deutschland vor jenen zähen Defiziten und folgenreichen Verlusten, die von den globalen Luftnummern nur verdeckt waren. Dann muss man sich mit dem wirklichen Ernst der Lage befassen, und auch die Opposition in Deutschland wird feststellen, dass aus der Auseinandersetzung mit den Luftnummern noch nicht die Kräfte und Lösungen geschöpft werden konnten, um diesem Ernst der Lage gerecht zu werden. Das Land muss ja – politisch, wirtschaftlich, kulturell – zu jenen elementaren Fähigkeiten eines modernen Landes zurückfinden, die in den vergangenen Jahrzehnten Stück für Stück verloren gegangen sind. Diese Fähigkeiten müssen rehabilitiert werden. Vielleicht muss überhaupt die Eigenart der ganz normalen Moderne tiefer verstanden werden, als das in Deutschland bisher der Fall war. Und es geht dabei nicht nur um das Reden, sondern um das praktische Anfassen und Üben. Um die Rehabilitierung von Dingen, die in diesem Land über Jahrzehnte als zu hart, langweilig, herkömmlich und banal galten.

(erschienen am 28.11.2021 in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)

Über politische Redlichkeit

Welche Erwartungen standen am Anfang der Kanzlerschaft Angela Merkels?  Gab es damals eine Vorahnung des neuralgischen Punktes unseres Landes? 

Über politische Redlichkeit

10. Dezember 2021

Am 5.Juni 2005, also vor jener Bundestagswahl, mit der die Serie der Kanzlerschaften von Angela Merkel begann, erschien in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung fünf kurze Beiträge zu der Frage „Was wohl kommt“. Neben Monika Maron, Hermann Lübbe, Dan Diner und Sonja Magolina kam ein Beitrag auch von mir, Gerd Held. Die Redaktion gab ihm die Überschrift „Fair und robust“, aber man hätte ihn besser mit „Mehr Redlichkeit“ überschreiben sollen. Hier mein Text vom Juni 2005 im Wortlaut:

„Als größter Trumpf einer neuen Regierung wird sich die Ehrlichkeit erweisen. Heute gebietet diesen zu sagen, dass wesentliche deutsche Positionen unhaltbar geworden sind. Ein großes Land kann nicht nur ein Land der hohen Löhne, Renten und Versicherungsleistungen sein. Das kommende Deutschland wird die große internationale Spannbreite der Einkommen und Normen ein gutes Stück weit in seinem Inneren aufnehmen müssen. Ebenso gebietet die Ehrlichkeit das Eingeständnis, dass wir gegen den Terror keine anderen Waffen haben als die Stärke des Leviathan-Staates – dass wir daher unsere Einflussgrenzen abstecken und unsere Bündnisse pflegen müssen.
Als Land der Besserverdienenden und Besserwisser können wir nicht bestehen, auch nicht moralisch. Deutschland wird seine Möglichkeiten erst entdecken, wenn es zuvor seine unhaltbaren Positionen räumt. Auf diese Reihenfolge kommt es an, und da liegt ein altes deutsches Problem. Im 19. Jahrhundert mussten erst die großdeutsch-idealistischen Gebäude einstürzen, bevor – Jahrzehnte verzögert – die Räder von Industrie und Großstadt rollten. Heute sind die Renten- und Bildungsversprechen nicht mehr finanzierbar. Aber die Vorstellung, es als Exportweltmeister doch noch zu schaffen, verhindert Entscheidungen. Die Ahnung, dass dieser Feldzug schon verloren ist, erzeugt den vielbeschworenen Vertrauensverlust.
Etwas anderes wird erst gelingen, wenn diese Nation nicht mehr in nervös-faszinierter Heilserwartung auf die berühmten Kanzler-Geschäftsreisen starrt, sondern nach dem zu fragen beginnt, was uns daran hindert, im eigenen Land endlich zu Hause zu sein. Diese neue Ehrlichkeit könnte zu einem Patriotismus führen, der weniger rührselig ist, sondern robuster im Einstecken und fairer im Austeilen – weil er zu jenen bescheideneren Positionen zurückgefunden hat, die mit Gewissheit unsere eigenen deutschen Bestände sind.“

Der Beitrag brachte die Erwartung zum Ausdruck, dass Deutschland sich seiner Lage bewusster wird, und insbesondere seinen begrenzten Möglichkeiten ins Auge sieht. Es ist ganz anders gekommen. Die politische Sprache ist heute in einem Maße, das damals noch gar nicht vorstellbar war, von der Vorstellung durchtränkt, dass auch die größten, weltumspannenden Aufgaben, die noch nie in der Geschichte lösbar waren, nun für das „Machen“ bereitliegen. Dass sie den Menschen verfügbar sind.
Das Gegebene wird so entmächtigt, dass es dem menschlichen Machen gar keinen großen Widerstand bietet. Es muss dabei gar nicht um Fehlinformationen („Fake news“) gehen, sondern die Verfälschung der Wirklichkeit ist subtiler. Man kann wahre Zahlen nennen, und doch kein wirkliches Lagebild geben. So können Zwänge und Dilemmata verborgen werden. Das geschieht auch, wenn diese Zwänge und Dilemmata verharmlost werden, indem man nur von „Herausforderungen“ spricht (als wäre es mit dem „Heraus“ schon getan), oder indem man davon spricht, dass „ein Zeichen gesetzt“ wurde oder dass alles „auf einem guten Wege“ ist.
So wird die Realität so zugeschnitten oder „gerahmt“ („framing“), dass sie in bestimmtes Gesamtbild passen und die Entscheidungen der Menschen schon im Voraus in einen bestimmte Richtung lenken. Damit hat das sorgfältige Beobachten und Berichten seinen eigenständigen Wert und seine Freiheit verloren. Es wird der Aufgabe untergeordnet, den Menschen „Orientierung zu geben“. So wird in unserer Gegenwart das alte Goethe-Wort wieder aktuell: „Man fühlt die Absicht, und man ist verstimmt“.
Was wäre der Gegenbegriff, der hier ins Feld geführt werden müsste? Ist es „Ehrlichkeit“? Nein, das trifft es nicht wirklich. Denn „ehrlich“ kann jemand etwas meinen und fühlen, ohne dem Gegebenen Aufmerksamkeit und Sorgfalt zu schenken. „Ehrlichkeit“ ist nur eine subjektive Tugend, die mit gröbster Fahrlässigkeit und Rücksichtslosigkeit gegenüber dem objektiv Gegebenen dieser Welt einhergehen kann. So kann auch die größte Bindungslosigkeit sich als „Ehrlichkeit“ drapieren.
Nein, der Gegenbegriff zum grassierenden Wirklichkeitsverlust unseres Zeitgeistes ist jene typisch bürgerliche Tugend der „Redlichkeit“, in der ein starker Realitätssinn sich mit prüfender Sorgfalt verbindet.
In diesem Dezember 2021, in dem die Kanzlerschaft Angela Merkels zu Ende ist, ist die Wiederentdeckung der Redlichkeit eine Grundvoraussetzung, um aus der Sackgasse, in die Deutschland geraten ist, herauszufinden.

(unveröffentlicht)

Das Weihnachtsessen

Zu Weihnachten finden sich an unzähligen Tischen im Lande sehr unterschiedliche Menschen zusammen. Wird diese große kulturelle und soziale Errungenschaft für den „Endsieg“ über das Corona-Virus geopfert?

Das Weihnachtsessen

23. Dezember 2021

Es gibt sie auch in diesen Advents- und Weihnachtstagen in viel tausendfacher Zahl: die festlich gedeckten Tische, an denen Menschen in geselliger Runde essen und trinken. Ein Weihnachtsessen kann opulent sein, mit großer Tafel und großem Glanz. Aber auch kleinere Tische, mit bescheidenen Speisen und wenigen Lichtern können mit Sorgfalt und Liebe hergerichtet sein. Es ist ein schöner und keineswegs selbstverständlicher Brauch in diesen Tagen. Denn es gibt gegenwärtig viele Dinge, die das Herz eng machen können. Doch ist das Weihnachtsessen ein Brauch, der darauf angelegt ist, Menschen trotz großer Unterschiede zusammenzubringen. Ob im Familienkreis, im Betrieb, im Wohnhaus, im Verein – die festliche Tafel dient nicht einem bestimmten beruflichen, politischen oder kulturellen Interesse. Oft sitzen auch Menschen am Tisch, die sich selten sehen, und die sich vielleicht in vielen Dingen fremd sind oder fremd geworden sind. Doch können sie bei dieser Gelegenheit etwas Gemeinsames finden.
Aber gilt das im Jahr 2021 auch für das Miteinander von Geimpften und Ungeimpften? Ist dieser Gegensatz nicht zu groß, um die Tischgemeinschaft zu Weihnachten eingehen zu können? Hat dieser Gegensatz nicht die Gesellschaft so sehr zerrissen, dass eine so elementare Geselligkeit nicht mehr gelingt? Wenn das der Fall wäre, dürfte man allerdings in diesem Land nicht mehr den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ beschwören. Denn dieser Zusammenhalt ist jetzt keine Frage abstrakter Absichtserklärungen, sondern eine ganz praktische Frage. Gibt es die Fähigkeit und Bereitschaft von Geimpften und Ungeimpften, ein Essen miteinander zu teilen – in welchem Rahmen auch immer.

Stell´ Dir vor, unsere „Leitmedien“ säßen mit am Tisch

Das Thema ist auch in den Medien aufgetaucht. Vor ein paar Tagen stieß ich beim abendlichen Zappen durch die Fernsehprogramme auf eine Sendung, in der gefragt wurde: Wie können Familien, Belegschaften oder Freundeskreise mit dem Gegensatz von Geimpften und Ungeimpften umgehen? Und wie soll man, wenn die Tischrunde zustande gekommen ist, verhindern, dass sie nicht ganz schnell auseinanderfliegt? In der Sendung wurde auch ein Psychologe gefragt. Er gab zwei Ratschläge: Erstens könne man dafür sorgen, dass jede Seite zu Wort kommt und die jeweils andere Seite ihr Gehör schenkt. Das Ganze natürlich nicht den ganzen Abend lang, sondern zeitlich begrenzt. Zweitens könne man das Thema auch ausdrücklich bei diesem Essen ausklammern. Also im Streit eine Weihnachtsruhe vereinbaren.
Ich finde, beides sind gute Vorschläge. Es sind Vorschläge, die voraussetzen, dass das gemeinsame Zusammensein als solches von den Beteiligten als wertvoll empfunden wird. Dass also „der Tisch“ als ein gemeinschaftliches Gut einen eigenen Wert hat. Aber als ich dann weiterzappte und sah, wie auf allen Kanälen wieder eifrig die Menschen nach „einsichtig“ und „gefährlich“ sortiert wurden, ging mir die Vorstellung durch den Kopf, was wohl geschehen würde, wenn die Medien als Personen am Tisch unseres Weihnachtsessens säßen. Würden sie sich an den Rat des Psychologen halten? Würden sie einen Ungeimpften seine Gründe vortragen lassen und ihm einfach mal ruhig zuhören? Oder würden die Medien als Tischgäste sich bereitfinden, das strittige Thema ruhen zu lassen – für einen Moment des Weihnachtsfriedens?
Nein, dachte ich, das kann ich mir nicht vorstellen. So sind die Zustände in Deutschland nicht. Selbst wenn alle anderen sich auf so einen Moment verständigen könnten, die Medien würden versuchen, die Öffentlichkeit des Tischs in ihre Medien-Öffentlichkeit zu verwandeln. Und in dieser Medien-Öffentlichkeit regiert eine höhere „Wahrheit“, die alles öffentliche Sprechen immer schon vorsortiert. Und das Thema ausklammern? Einfach mal das ständige Corona-Trommelfeuer unterbrechen? Völlig undenkbar! Unsere Medien-Leute leben inzwischen viel zu selbstverständlich in ihrem Leit-Modus. Sie können gar nicht mehr anders.

Wie die Tisch-Gemeinschaft gelingen kann

An einem anderen Tag tauchte das Thema noch einmal bei einem anderen Sender auf. Da wurden in einer mittelgroßen Stadt im Osten Deutschlands in Industrie- und Handwerksbetrieben nachgefragt, wie das Miteinander von Geimpften und Ungeimpften bewältigt würde. Ob das nicht sehr schwierig sei „mit den Ungeimpften“, wollte der Reporter immer wieder wissen. Seine Fragen waren deutlich darauf angelegt, Schwierigkeiten heraufzubeschwören und sie in einer bestimmten Richtung zu verorten. Doch die Antworten der Kollegen, die der Beitrag dann präsentierte, waren bemerkenswert. Es gab keine einzige Stimme, die das bestätigen wollte, was der Reporter immer wieder antippte. Ja, es gäbe im Betriebe Geimpfte und Ungeimpfte. Aber es sei durchaus möglich, sich zu arrangieren. Es herrsche keine rigorose Trennung zwischen Geimpften und Ungeimpften. Die Abstände am Arbeitsplatz seien oft recht groß, aber es gäben auch ganz unvermeidlich engere Kontaktsituationen. Ja, es gäbe ein Restrisiko, aber bisher habe man kein dramatisches Geschehen feststellen können, das auf die betriebliche Situation zurückzuführen sei. Wenn der Film also Empörung über die angeblichen „unsolidarischen“ Ungeimpften dokumentieren sollte, war er ein glatter Fehlschlag. Er dokumentierte das Gegenteil: In einem festen Kollegenkreis mit langjähriger Zusammenarbeit lassen sich „Empörte“ kaum finden.
Sind so nicht alle Voraussetzungen für ein gemeinsames Weihnachtessen gegeben? Die Einen können sagen: Ich bin geimpft und dadurch vor den schlimmsten Verläufen ziemlich weitgehend geschützt. Deshalb ist die Anwesenheit von Ungeimpften bei Tisch für mich kein Problem. Die Anderen können sagen: Ich halte die Gefahr des Virus nicht für so groß, dass ich mich impfen lasse. Aber deshalb stören mich die Geimpften nicht. Ich habe ihnen nichts vorzuwerfen. War das nicht die gute ursprüngliche Idee, mit der die Impfkampagne begann? War das nicht die Lösung aller Realisten? Sie enthielt noch die Einsicht, dass dies Virus in absehbarer Zeit nicht völlig aus der Welt zu schaffen ist, sondern in immer neuen Varianten auftauchen kann. Und die Konsequenz: Sich darauf einstellen, mit dem Virus zu leben.

Wie verheerend ein überzogenes Ziel wirken kann

Doch genau hier ist der kritische Punkt, der die Corona-Krise inzwischen ins Unermessliche und Unlösbare wachsen lässt. Man hat dem Land ein ganz anderes Ziel eingeimpft, indem man sagte: Freiheit gibt es erst wieder, wenn das Virus aus der Welt geschafft ist. Wenn es „endgültig“ besiegt ist. Damit hat man das Land in eine Auseinandersetzung gestürzt, die alle Konflikte ungeheuer auflädt. Und die doch nicht zu gewinnen ist. Wenn der neue Gesundheitsminister bei Amtsantritt die Losung ausgibt „Wir werden das Virus besiegen“, so ist das alles andere als eine harmlose Bekundung engagierter Amtsführung. Es ist ein verheerendes Alles oder Nichts. Aber man sollte da nicht gleich einen neuen „Faschismus“ an der Macht sehen, und denjenigen, die sich impfen lassen, eine „Untertanen-Mentalität“ unterstellen. Auch das steigert diese Krise ins Unlösbare.

Mehr Toleranz wagen

Deutschland hat noch kaum angefangen zu lernen, was es heißt, „mit dem Virus zu leben“. Es bedeutet ganz praktisch: Geimpfte müssen lernen, mit Ungeimpften zu leben. Und Ungeimpfte müssen lernen, Geimpfte zu respektieren.
In diesen Tagen ist sehr viel von „Solidarität“ die Rede. Diese Solidarität wird besonders dann beschworen, wenn heftige Anklagen gegen „die Anderen“ vorgebracht werden. Geimpfte und Ungeimpfte halten sich gegenseitig vor, „unsolidarisch“ zu sein. Aber der Maßstab, an dem in dieser Situation das Solidarische zu messen wäre, kann gar nicht die Befolgung eines bestimmten („alternativlosen“) Verhaltensgebots sein. Es müsste um die gegenseitige Toleranz unterschiedlicher Verhaltensweisen gehen. Solidarität ist also eine Toleranzaufgabe. Das ist eine zwischenmenschliche Aufgabe, aber es geht im Grunde um eine Toleranz in der Sache: Die dauerhafte Existenz der Virusgefahr in unserem Land muss – in einem bestimmten Maße – toleriert werden. Dies Land wird seine Freiheit erst wiedergewinnen, wenn es in diesem Sinn seine Toleranzen vergrößert.

„Wir wollen mehr Toleranz wagen.“ Das wäre der Satz, den man sich in einer Regierungserklärung würde. Und seine beharrliche Wiederholung für die ganzen 2020er Jahre in Deutschland. Aber wir müssen ja gar nicht auf die Regierung warten. Wir haben ja das Weihnachtsessen, und können dort schon jetzt unsere Gläser darauf erheben.

(erschienen am 26.12.2021 bei „Tichys Einblick online“ und bei „Die Achse des Guten“)

Corona – Krise ohne Ende?

Es geht jetzt nicht nur darum, Übergriffe im Rahmen der Corona-Krise zu verhindern, sondern diesen ganzen Rahmen aufzubrechen. Wenn die Gesundheit zur deutschen Obsession wird, geht die moderne wirtschaftliche, politische und kulturelle Substanz des Landes verloren.    

Corona – Krise ohne Ende?

18. Januar 2022

Mitte März jährt sich zum zweiten Mal der Beginn der Corona-Krise in Deutschland. „Erst zwei Jahre?“ wird sich mancher fragen, denn es fühlt sich viel länger an. Das liegt gewiss daran, dass diese Krise eine ständiges Hin und Her ist, mit immer neuen Anläufen der Lösung, die dann wieder als ungenügend verworfen werden. Eine unendliche, hoffnungslose Baustelle. Wie war es noch am Anfang? Die Fotographien von Bettina Hagen (Tichy Einblick 5/2020) zeigen die verwaisten Straßen in Hamburg. Der erste Lock-Down. Eine gespenstische Öde. Damals konnte man die reale Gefährlichkeit des Virus nicht einschätzen. Man konnte nicht ausschließen, dass es ein hochansteckendes, tödliches Virus war, vergleichbar mit dem Ebola-Virus. Drohte eine neue Pest? Es war verständlich, dass diese Situation große Befürchtungen auslöste. Die Bereitschaft, extreme Schutzmaßnahmen zu ertragen, war groß. Das italienische „Bergamo“ mit seinen überfüllten Krankenhäusern, in denen vielfach vergeblich um das Leben von Menschen gekämpft wurde, und der Abtransport der Toten auf Lastwagen – diese Bilder waren in unseren Köpfen.
Was ist seitdem geschehen? In dem ganzen Gewirr von Ereignissen, Maßnahmen und Erfahrungen kann man zwei große Linien erkennen: Zum einen hat sich das Virus als weniger gefährlich erwiesen, als am Anfang befürchtet wurde. Zum anderen wurden aber die Schutzmaßnahmen nicht im gleichen Maßstab zurückgefahren. Die Corona-Gefahr wurde nicht wieder in die Normalität des Lebens eingefügt. Bis heute finden Wirtschaft, Staat und Kultur, das öffentliche Leben und das menschliche Miteinander nicht zurück zu ihrer Eigenständigkeit und freien Entfaltung. Und auch das Sprechen über Corona findet nicht – trotz des Wissens um die begrenzte Gefährlichkeit des Virus und trotz der Entwicklung gefahrensenkender Impfstoffe – heraus aus der Extrem-Sprache der ersten Wochen. Immer noch werden aus Einzelphänomenen gewaltige „Wellen“ konstruiert, die das ganze Land zu verschlingen drohen. So ist unser Land in ein Corona-Abwehr-Lager verwandelt worden. Wohlstand, Schönheit, Großzügigkeit und Eigeninitiative wurden geopfert. Einige wenige „Experten“ geben nun schon zwei Jahre lang – man mag es kaum glauben – den Takt des ganzen Landes vor.

Das Zusammenschrumpfen des Landes

Eine kleine Liste der Schlagzeilen auf dem Titelblatt der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zwischen dem 1.12.2021 und dem 15.1.2022 kann dies Schrumpfen des Landes verdeutlichen. Aufgelistet sind Tage, an denen die Hauptschlagzeile der FAZ als seriöser „Zeitung für Deutschland“ dem Corona-Thema gewidmet war:
1.12.2021 – „Einigung auf allgemeine Impfpflicht“
4.12.2021 – „Spahn: Trauriger Höhepunkt der Pandemie an Weihnachten“
8.12.2021 – „Scholz: Die Gesellschaft ist nicht gespalten“
10.12.2021 – „Scholz: Notfalls kurzfristig Einschränkungen zu Weihnachten“
11.12.2021 – „Mitarbeiter in Pflegeheimen müssen bis 15. März geimpft sein“
15.12.2021 – „Impfstoffmangel gefährdet Booster-Kampagne“
17.12.2021 – „Lauterbach will Kampagne für Auffrischimpfungen beschleunigen“
20.12.2021 – „Lauterbach: Kein harter Lockdown vor Weihnachten“
21.12.2021 – „Kontaktbeschränkungen für Geimpfte vor Sylvester geplant“
22.12.2021 – „Scholz bittet Bürger um weniger Kontakte an Weihnachten“
23.12.2021 – „Lauterbach verspricht für Januar 30 Millionen Impfungen“
24.12.2021 – „Steinmeier dankt der stillen Mehrheit´ für Impfbereitschaft“
27.12.2021 – „Regierung strebt Impfquote von 80 Prozent bis Ende Januar an“
28.12.2021 – „Buschmann spricht sich gegen Aufbau eines Impfregisters aus“
29.12.2021 – „Behinderte Menschen müssen bei Triage besser geschützt werden“
30.12.2021 – „Lauterbach: Inzidenz zwei- bis dreimal höher als ausgewiesen“
31.21.2021 – „Olaf Scholz: Misstrauen gegen Impfungen aufgeben“
3.1.2022 – „Drosten: Für Ungeimpfte über 60 wird esrichtig gefährlich´“
4.1.2022 – „Lauterbach kündigt neue Quarantäne-Regeln an“
6.1.2022 – „Gesundheitsminister wollen Quarantänezeit verkürzen“
8.1.2022 – „Quarantäne entfällt für geboosterte Kontaktpersonen“
11.1.2022 – „CDU will im Bundestag keinen Antrag zur Impfpflicht vorlegen“
13.1.2022 – „Scholz will `unbürokratische´ Impfpflicht für alle Erwachsenen“
14.1.2022 – „Lauterbach: Nur mit Impfpflicht ist Belagerungszustand zu beenden“

Monotonie und Verdrängung

Die Liste dokumentiert eine erschreckende Eindimensionalität: An mehr als der Hälfte der Werktage war „Corona“ das dominierende Thema. Und nicht nur ein Thema: Die Monotonie der Appell-Überschriften, das Beschwören des Landes durch einzelne Politiker, zeigt die extrem einseitige Formierung der Öffentlichkeit. Vergleichbares gab es wohl nur in Weltkriegszeiten. Aber es ist nicht Weltkrieg. Die berechtigte fundamentale Unsicherheit der ersten Wochen hat sich erledigt. Wir wissen eigentlich, dass wir nur ein begrenztes Problem haben. Wir brauchen keine Umstellung auf eine Kriegswirtschaft, keine Ausrichtung der gesamten staatlichen Infrastruktur auf Verteidigungszwecke, keine Zensur der öffentlichen Meinung.
Aber die Schlagzeilen belegen, dass das Land einfach nicht in seinen Normalbetrieb zurückfindet. Genauer gesagt: Das wird nicht zugelassen. Es herrscht immer noch eine Rhetorik des Ausnahmezustands. Die Schlagzeilen sind ein Zeitdokument: die Reduktion des Landes auf ein einziges Thema. Eine große Gesundheits-Angst verdrängt alle anderen Aufgaben, die sich im Normalbetrieb des Landes inzwischen angehäuft haben. Sie verhindert, dass sich Deutschland rational mit der Inflation auseinandersetzt, mit der Energieknappheit, mit dem zunehmenden Druck auf den Wohnungsmärkten und Verkehrssystemen, mit den Leistungsproblemen im Bildungswesen, mit den Nachwuchsproblemen in der Berufswelt, mit der Fragilität unserer außenpolitischen und außenwirtschaftlichen Aufstellung. Und auf diese Weise wird der rapide angewachsene Schuldenberg verdrängt, der die Zukunft des Landes belastet.
An diesen Fronten fehlt es wahrlich nicht an Ereignissen – doch wo sind sie in den vergangenen Monaten eine Schlagzeile wert gewesen? So ist auch dort, wo es um den Umgang mit Corona geht, nur von der Betroffenheit der einzelnen Menschen die Rede. Der Existenzkampf von Unternehmen und ganzen Branchen, der Ausfall ganzer Jahre regulären Schulunterrichts, das Ausbluten der Kultureinrichtungen und des Vereinswesens – also alles, was den Strukturbestand eines modernen Landes betrifft – findet auf den Titelblättern unserer Leitmedien keinen Platz. Natürlich haben sich Vertreter von Unternehmen, Infrastrukturen und Kultureinrichtungen unzählige Male geäußert – aber niemals wird ihren Aussagen der gleiche Rang wie den Vertretern und Beratern unserer Gesundheits-Regierung eingeräumt.

Der Weg in die Einöde

So ist Deutschland ein eindimensionales Land geworden. Die anfangs schwer einschätzbare Bedrohung hat sich längst relativiert, aber das zieht keine Revision der politischen Entscheidungen und der medialen Wahrnehmung nach sich. Wie ist das möglich? Wie konnte eine solche Schrumpfung des Landes geschehen? Vor allem: Wie ist es möglich, dass die Monotonie so lange aufrechterhalten wird? Eine Antwort wäre: Es gibt in diesem Land beim Thema „Gesundheit“ eine fundamentale Angst, die auch bei begrenzten Anlässen sofort wieder aufflammt. Es herrscht eine Art absolutes Reinheitsgebot in Sachen Gesundheit, das erst erfüllt ist, wenn der Gesundheitsfeind völlig besiegt und definitiv ausgeschaltet ist.
An dieser Erklärung ist sicher etwas dran. Aber dabei wird eine Tatsache übersehen: Deutschland und die Deutschen haben inzwischen eine geschichtlich gebildete und tradierte Erfahrung, dass man mit gravierenden Gefahren für die Gesundheit leben muss und leben kann. Für die Kriegsgenerationen und auch die ersten Nachkriegsgenerationen ist das noch eine eigene Erfahrung. Aber auch spätere Generationen können, wenn sie der neuzeitlichen Geschichte ihres Landes Interesse und Achtung entgegenbringen, viele Beispiele dafür finden, dass diese Geschichte keine Angstgeschichte war, die völlig auf Gefahren und Bedrohungen fixiert war, sondern die mit gravierenden Gefahren und Bedrohungen leben und arbeiten konnte. Es muss also in unserer Gegenwart etwas geben, das uns von diesem nationalgeschichtlichen Erfahrungsschatz entfremdet (und das muss in vielen Ländern der Fall sein).
Und ja, da ist etwas: Es gibt einen verbreiteten Glauben, dass der Krieg gegen den Gesundheitsfeind zu gewinnen wäre. Dass in der Corona-Krise ein absoluter Sieg greifbar nah wäre. Im Namen dieses Glaubens wird erklärt, dass die Festlegung des ganzen Landes auf eine einzige Priorität sinnvoll und geboten sei. Dass deshalb Stilllegungen und Zugangsbeschränkungen sogar ein Zeichen von besonderem „Mut“ seien. Während die Regierenden immer wieder neue lähmende Auflagen für Wirtschaft, Staat und Kultur erfinden, deklarieren sie sich zu einer „Koalition des Aufbruchs“! Das blendet nicht nur die realen Erfahrungen mit der Corona-Krise aus, sondern auch alle geschichtlichen Erfahrungen dieses Landes. Sie kennen keine Vergangenheit mehr, sondern nur noch Zukunft. Diese Zukunft soll alle Siege bereithalten.
Und dies große Endsiegs-Versprechen ist das eigentliche Geheimnis…der Globalisierung. Sie soll auf magische Weise die Ressourcen zum endgültigen Sieg haben, welche die Nationalstaaten nicht hatten. Was für ein naiver Gespenster-Glaube ist da am Werk: Das Handeln muss bloß „global“ sein, um über alle Hemmnisse der Realität erhaben zu sein. Aber mit dieser Naivität löscht die Globalisierung den lebendigen Erfahrungsschatz, den jede Nation in „harten Zeiten“ erworben hat, und der ihr jetzt zeigen könnte, mit welchen Gefahren sie leben kann, ohne sie besiegen zu müssen.

Das Märchen vom „kalten Herz“

Das ist die Lage, in der wir als einzelne Bürger und als Nation – zusammen mit anderen Nationen in ähnlicher Lage – gestellt sind. Es ist viel Verödung und Verlust im Spiel, aber es funktioniert nur, weil ein immenses Sieges- und Heilsversprechen im Raum steht. In mancher Hinsicht erinnert dieser spekulative Tausch von einem greifbaren Leben gegen ein reines Wunschziel an das Märchen vom „kalten Herz“,

Das Siegesversprechen

Der neue Gesundheitsminister zum Amtsantritt (siehe FAZ, 7.12.2021): „Wir werden den Kampf mit der Pandemie gewinnen, und für weitere Pandemien werden wir besser gerüstet sein, als wir es für diese gewesen sind.“
Eben nicht: „Wir“ haben bis jetzt nicht gelernt, uns in der Corona-Pandemie damit zu begnügen, die Gefahr einzuhegen und zu mäßigen. Also hinzunehmen, dass das Land mit diesem Virus auf absehbare Zeit leben muss. Aber solange dies „Wir“ in dieser exemplarischen Krise nicht die Fähigkeit zu einem „kleinen Ziel“ erworben hat, wird sich dies Land auch bei allen weiteren Pandemien wieder in den gleichen hoffnungslosen Kämpfen festfahren.

Die gute Kriegsmüdigkeit

Ein recht großer Teil der Menschen in diesem Lande – Geimpfte und Ungeimpfte – ist mittlerweile schon weiter. Gewiss sind sie sich nicht aller Zusammenhänge bewusst, die in dieser Krise eine Rolle spielen. Das müssen sie auch nicht. Sie sind ganz einfach und mit gutem Recht „kriegsmüde“. Sie sind das endlose mediale Corona-Trommelfeuer leid, die ständig wechselnden Botschaften der Regierenden, das notorische Zurückbleiben der Taten hinter den Worten – die ganze Wichtigtuerei eben. Und hinter diesem Überdruss der Menschen steht die Ahnung, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist.
Vielleicht beschleicht manchen auch noch eine andere böse Ahnung: Wenn die einmütige Siegeszuversicht, mit der in der Corona-Krise ein viel zu hohes Ziel gesetzt wurde, sich nun als irreführend und naiv erweist, muss man da nicht auch bei anderen Krisen Ähnliches befürchten? Weist nicht gerade die ausgerufene „Klima-Katastrophe“ ein ähnliches Muster auf? Hat man sich bei dem folgenreicheren Krieg gegen das CO2 im Namen eines dauerhaft „heilen Klimas“ nicht auch in ein viel zu hohes Ziel verrannt? Und ist die Einmütigkeit, mit der das ganze Land unter das „Klima-Ziel“ gestellt wurde, nicht eher ein schlechtes Vorzeichen?

(erschienen in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“ am 22.1.2022)

Ukraine I – Die törichte Russland-Feindschaft

Ein neues „Sprachgesetz“, das jetzt in der Ukraine in Kraft getreten ist, zeigt den Versuch, alles Russische aus dieser Nation zu tilgen. Dieser Weg führt die Ukraine und Europa in eine Sackgasse.

Ukraine I – Die törichte Russland-Feindschaft

14. März 2022

Es war ein Artikel, den man leicht übersehen konnte – einspaltig im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (18.1.2022) platziert. Aber die Überschrift ließ aufhorchen: „Das Russische abwürgen“ stand da. Die Autorin, Kerstin Holm, von 1991 bis 2013 als Russland-Korrespondentin in Kultur- und Gesellschaftsdingen tätig, berichtete über ein „Sprachgesetz“ in der Ukraine, das bereits 2019 beschlossen wurde und jetzt, nach einer Übergangsfrist, in Kraft getreten ist. Holm schreibt:
„In der Ukraine ist ein Gesetz in Kraft getreten, das im Zuge der Konsolidierung der Nation die Staatssprache schützen und das Russische zurückdrängen soll. Überregionale Zeitungen und Zeitschriften müssen nun auf Ukrainisch erscheinen. Russische Ausgaben sind nicht verboten, doch parallel dazu muss eine ukrainische Version in gleicher Auflage gedruckt werden. Für die Verlage ist das freilich unrentabel.“


So wurde die letzte landesweite russische Tageszeitung „Westi“ vor kurzem auf Ukrainisch umgestellt; andere Zeitungen erscheinen nur noch in digitaler Form. Dazu muss man wissen, dass es sich beim Russischen um eine Sprache handelt, die „von vielen Ukrainern zumal im Osten und Süden des Landes“ als Alltagssprache gebraucht wird, oder mindestens als eine dem Ukrainischen gleichwertige Sprache. Durch das Sprachgesetz werden „traditionell russischsprachige Städte wie Charkiw, Dnipro oder Odessa…vom Westen des Landes kulturell assimiliert“, schreibt Holm. Ausländische Filme, von denen es bisher oft nur eine russische Version gab, müssen nun eine ukrainische Version vorweisen, um öffentlich präsentiert werden zu können. Diese obligatorische Vorbedingung, die im Ergebnis einer Zensur gleichkommt, beschränkt sich nicht auf Filme:
„Auch bei Vorträgen, Shows, Konzertabenden muss der Redner, sofern er russisch spricht, obligatorisch ins Ukrainische übersetzt werden. Leidtragende sind russischsprachige ukrainische Schriftsteller und Wissenschaftler, deren Tätigkeitsfeld stark eingeschränkt wird.“
Sie können nicht mehr öffentlich auftreten, wenn die Mittel für einen Übersetzer nicht aufgebracht werden können. Und auch damit ist es noch nicht genug, denn das Sprachgesetz zielt nicht nur auf wissenschaftliche und künstlerische Veranstaltungen, sondern auf die alltäglichsten staatlichen und privaten Dienstleistungen – und damit elementare Lebensnotwendigkeiten der Menschen:
„Ab sofort sind zudem sämtliche Staatsangestellten, Verkehrspolizisten, Gerichtsdiener, Klinikärzte verpflichtet, die Bürger, sofern diese nicht um eine andere Sprache bitten, auf Ukrainisch anzureden. Das gleiche gilt für Dienstleistungsbetriebe, also Mitarbeiter von Supermärkten, Apotheken, Banken. Verstöße gegen das ‚Recht auf Bedienung in der Landessprache‘ können beim Sonderbevollmächtigten zum Schutz der Staatssprache gemeldet und im Wiederholungsfall mit Geldstrafen geahndet werden.“
Mit dem „Sprachgesetz“ wird also eine tägliche intime Sprach-Überwachung installiert, an der sich auch die Bürger beteiligen sollen. Das kommt einem Stasi-System schon ziemlich nahe.

Eine Vereinseitigung der Sprachkultur

Man könnte vielleicht einwenden, dass es hier um Maßnahmen für eine bedrohte Nation geht, um ihren innerlichen Zusammenhalt zu festigen. Im FAZ-Artikel taucht die Formel „Konsolidierung der Nation“ auf, und das klingt ein wenig nach Rechtfertigung des Sprachgesetzes. Aber dann wird in dem Artikel noch ein „Detail“ des Gesetzes erwähnt, das einem schlicht den Atem verschlägt. Die FAZ-Journalistin Kerstin Holm berichtet:
„Ausgenommen von der Pflicht zur Publikation auf Ukrainisch sind bezeichnenderweise Sprachen ‚angestammter Minderheiten‘ im Land wie der Krimtataren, der Polen, Ungarn, Rumänen, Griechen, Bulgaren, aber auch das Englische sowie alle Sprachen der EU. Auch von der Pflicht ukrainischer Buchläden, mindestens fünfzig Prozent ihrer Bestände auf Ukrainisch anzubieten, gibt es Ausnahmen für die genannten Minderheiten und die EU-Sprachen.“


Hier wird schlagartig klar, dass das Sprachgesetz sich gezielt gegen die russische Sprache richtet. Es ist wirklich so, wie es in der Artikel-Überschrift steht: Das Russische soll „abgewürgt“ werden. Eine flächendeckende kulturelle Säuberung soll stattfinden. Und in der Geschichte fehlt es nicht an Beispielen, wo eine solche Sprach-Säuberung die Vorstufe zu einer ethnischen Säuberung war – zu einer Vertreibung eines bestimmten Bevölkerungsteils. Im gleichen Zug werden Sprachen von den Auflagen befreit, die allenfalls in bestimmten sozialen Milieus gesprochen werden: das Englische und die Sprachen aller EU-Länder. Das Sprachgesetz hat also nichts mit einer inneren Konsolidierung der ukrainischen Nation zu tun, sondern dient dazu, eine neue, einseitige Bindung nach außen kulturell festzuschreiben. Man will die Ukraine, die geschichtlich eine doppelte Bindung – nach Westen und nach Osten – hat, dem Osten entfremden und einseitig verwestlichen.

Das törichte „entweder EU oder Russland“

Dieser kulturelle Einschnitt in die Grundlagen der ukrainischen Nation findet jetzt vor unseren Augen statt. Aber wo wird darüber berichtet? Hierzulande wird die Ukraine-Krise so dargestellt, als habe sie mit einem Aufmarsch russischer Truppen an der Ostgrenze der Ukraine begonnen. Es handele sich also um eine willkürlich vom Zaun gebrochene Aggression von „Putins Russland“. In den westlichen Darstellungen der Ukraine-Krise wird meistens so getan, als gäbe es ein Staatsziel „in Moskau“, die ganze Ukraine russisch zu machen. Doch wer in den Darstellungen nach belastbaren Belegen sucht, wird enttäuscht. Man findet in den Artikeln eher psychologische Spekulationen über „Putin“ oder über einen „imperialen Geist“, der angeblich „von je her“ in Russland regieren würde. Sicher gibt es in diesem großen Land – wie in etlichen Ländern dieser Welt – großnationale Phantasien und Gruppierungen. Aber hat man je einen Plan auf Seiten der Regierung Russlands gefunden, der dem „Sprachgesetz“ der Regierung in Kiew vergleichbar wäre?


Wenn hier der Regierung in Kiew ein schwerer Eingriff in die ukrainische Nation vorgeworfen wird, so soll damit nicht der Politik Russlands in jeder Hinsicht Absolution erteilt werden. Es wäre auch ganz ungerecht, die Autorin Kerstin Holm als „Putin-Versteherin“ zu bezeichnen. Sie hat sehr kritische Berichte zur Entwicklung Russlands geschrieben. In dem hier zitierten Artikel wird keineswegs für eine einseitige Ost-Bindung der Ukraine plädiert, sondern für die Wahrung der kulturellen und gesellschaftlichen Offenheit eines Landes, zu dessen geschichtlich gewachsener Identität sowohl ein westliches als auch ein östliches Element gehört.

Henry Kissingers Warnung

Schon vor Jahren, als ein politischer Wechsel in der Ukraine stattfand und im Westen die „Majdan-Euphorie“ herrschte, gab es mäßigende Stimmen, die davor warnten, die Ukraine vor eine Wahl „entweder EU oder Russland“ zu stellen. Eine Stimme kam vom früheren US-Außenminister Henry Kissinger. Er schrieb am 9.3.2014 in einem Beitrag für die Tageszeitung „Die Welt“:
„Viel zu oft wird der Fall der Ukraine als Showdown dargestellt: ob die Ukraine dem Westen beitritt oder dem Osten. Wenn aber dieses Land überleben und aufblühen soll, dann kann es niemandes Vorposten sein. Nein, die Ukraine sollte eine Brücke sein.“
Und in einer anderen Passage von Kissingers Beitrag wird die Bedeutung des Doppelcharakters der ukrainischen Nation noch weitreichender erklärt:
„Der Westen ist weitgehend katholisch, der Osten russisch-orthodox. Der Westen spricht ukrainisch, der Osten größtenteils Russisch. Jeder Versuch eines Flügels, den anderen zu dominieren, wie es bisher der Fall war, würde zu Bürgerkrieg und Spaltung führen. Missbraucht man die Ukraine für eine Ost-West-Konfrontation, dann wäre für Jahrzehnte jede Chance vertan, Russland und den Westen (und besonders Russland und Europa) in ein kooperatives internationales System zusammenzubringen.“

Vom klugen Gebrauch des Selbstbestimmungsrechts der Nationen

Es ist in diesen Tagen viel vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen die Rede. Es soll der Ukraine gestatten, eine Mitgliedschaft in EU oder NATO frei zu wählen. Dieser plötzliche Enthusiasmus für die Nationen klingt irgendwie schräg, denn wir haben ja gesehen, welche Ressentiments man gegen die Briten mobilisiert hat, als sie den Brexit weg von der EU wählten. Oder gegen die Visegrad-Staaten, als sie sich der EU-Migrationspolitik widersetzten. Ja, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ist ein fundamentales gutes Recht. Man kann es nicht im Namen der Globalisierung für „überholt“ erklären – wenn einem der Weg einer Nation gerade nicht passt.


Doch im Fall der Ukraine gibt es ein Problem, das sich jeder einmal in Ruhe vorlegen sollte: Wie soll man vom Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen, wenn man eine Nation hat, die in sich zwei verschiedene Grundelemente hat – wirtschaftlich, kulturell und politisch? Wenn es geschichtlich zwei Traditionslinien gibt, und geographisch zwei Landesteile? Wie soll man in so einer „binären“ Nation vom Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen? Soll sie ihr Heil in einer einseitigen Festlegung suchen? Ist es klug und weitsichtig, die Zukunft einer solchen Nation nur in einer Richtung zu verorten? Zeugt es von europäischer Größe, wenn die Ukraine vor die Wahl „entweder EU oder Russland“ gestellt wird? Nie und nimmer. Die wirtschaftlichen, kulturellen, menschlichen Verluste einer so bedeutenden Nation wären immens. Und es würde eine tiefe Verbitterung zwischen verschiedenen Bevölkerungsteilen entstehen. Ein verdeckter oder offener Bürger-Krieg würde entstehen, der auf Basis der Einseitigkeit nie einen dauerhaften Frieden finden könnte.

Rüstung gegen Russland als Bewährung deutscher Außenpolitik?

Die „grüne“ Außenpolitik Deutschlands ist peinlich und gefährlich vage. Man ist Anklage-Weltmeister gegen Russland (und viele andere Regierungen in der ganzen Welt). Aber wenn es dann zu blutigen Kämpfen kommt und die Außenpolitik Tote verantworten müsste, erklären uns die edlen Grünen, dass ihre Werte so rein sind, dass sie mit ihrer Durchsetzung auf Erden nichts zu tun haben wollen. Aber was wäre demgegenüber eine vernünftige Außenpolitik? Im Moment landen viele allzu schnell bei der Forderung, man sollte die Regierung in Kiew aufrüsten. Man sollte also die Politik der Einseitigkeit noch stärker bewaffnen. Will man im Ernst die Regierung in Kiew in die Lage versetzen, die östlichen „abtrünnigen“ Provinzen militärisch zu besetzen? Und die ganze Ukraine vom russischen Element – wirtschaftlich, politisch und kulturell – zu säubern? Das Sprachgesetz zeigt ja, in welche Richtung dann die Reise geht. Und in Kiew wird man diese Vereinseitigung der Nation als Herstellung der Einheit der Nation darstellen. In westlichen Ländern gibt es eine Tendenz, Waffenlieferungen an Kiew als Akt freiheitlich-demokratischer Entschiedenheit anzusehen. In Deutschland sucht auch manch einer, dem das Herumeiern der Grünen zuwider ist, die Lösung in militärischer Stärke.

Nie und nimmer

Wir dürfen nicht auf diesen Weg geraten. Diese „Entschiedenheit“ ist eine ganz falsche Entschiedenheit, denn sie übernimmt die verheerende Alternative „Entweder EU oder Russland“ und führt sie in die Nähe eines Krieges. Das bedeutet noch mehr Missbrauch der Kultur, noch mehr sinnlose Zerstörung und noch mehr Negativ-Politik. Als hätten wir in Deutschland nicht schon genug Trümmerlandschaft im Zuge von Corona-Ausnahmezustand und Klima-Feldzug. Die Ukraine-Krise lässt sich nur lösen, wenn man den binären Charakter dieser Nation aufrechterhält, und sei es erstmal durch provisorische Kompromisse. Die Bindungen nach West und Ost müssen gewahrt bleiben, und mit ihnen die Offenheit und innere Vielfalt der Ukraine. Gegenüber der ukrainischen Regierung müssen EU und NATO deutlich machen, dass sie für eine kulturelle und ethnische Säuberung nicht zur Verfügung stehen. Dazu muss sich auch die einseitige Berichterstattung ändern.

(erschienen in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“ am 9.2.2022 und bei „Die Achse des Guten“ am 14.2.2022)

Ukraine II – Ohne Koexistenz kein Frieden

Ein Ausweg aus der Ukraine-Krise ist nicht möglich, wenn man von Prinzipien ausgeht, bei denen es nur Sieger und Besiegte gibt.

Ukraine II – Ohne Koexistenz kein Frieden

14. März 2022

Es ist ein elementarer menschlicher Impuls: Man sieht das Leid und möchte es sofort beenden. Das erscheint in diesen Tagen der Ukraine-Krise als absolut vorrangiges Gebot. Alles andere als die Forderung nach einem sofortigen Rückzug der russischen Truppen erscheint als Billigung des Leids. Jedes Nachdenken darüber, wie eine tragfähige Ordnung für das russisch-ukrainische Verhältnis und die Ostbeziehungen Europas aussehen könnte, erscheint demgegenüber als bloße Besserwisserei. Und es ist ja wahr: Niemand kann wollen, dass dies Leid länger andauert. Am Anfang jeder Betrachtung der Ukraine-Krise sollte der Wunsch stehen, dass diese zerstörerische Auseinandersetzung möglichst schnell ein Ende findet. Jede mystische Überhöhung des Krieges, von welcher Seite auch immer, verbietet sich. Auch jede heimliche Hoffnung, in der militärischen Konfrontation mit Russland würde Europa erstarken, ist fehl am Platz. Diese ganze Konfrontation ist zerstörerisch und sinnlos. Angesichts dieser Erfahrung gibt es einen Impuls der Vernunft, der auch sehr menschlich ist: Viele Menschen fragen sich, wie die Ukraine in diese Situation geraten ist. Bei der Trennung von Russland war die Konfrontation noch nicht gegeben. Wie kann man aus ihr wieder herausfinden? Das ist die einzig weiterführende Frage, die in diesen Tagen in West und Ost gestellt werden muss.


Es muss nicht darüber spekuliert werden, was Russland für ein Staat ist, wobei schon die Verengung auf „Putins Staat“ diffamierend ist. Es muss auch nicht die Trennung der Ukraine von Russland in Frage gestellt werden. Es geht darum, dass diese Trennung eine Wendung ins Konfrontative genommen hat. Die Ukraine ist in den vergangenen Jahren immer mehr in die Rolle eines Frontstaates gegen Russland geraten. Diese Entwicklung war keineswegs vorgezeichnet, als das Land zu einem eigenständigen Staatswesen wurde – weder auf ukrainischer noch auf russischer Seite. Die Abkopplung verlief damals im Konsens. Und sie geschah in der Erwartung, dass die Ukraine ein guter Nachbar sein würde, und nicht ein Gegner, der nur an einem möglichst schwachen Russland interessiert wäre. Das russische Element in der Ukraine war geachtet und es wurde nicht als Feind des europäischen Elements angesehen. Dieser Gründungskonsens war eingebettet in ein beginnendes Vertrauen zwischen den USA, der EU und Russland, insbesondere auch zwischen Deutschland und Russland. Wer behauptet, die heutige Situation wäre damals schon absehbar gewesen und es gäbe so etwas wie ein höheres Gesetz, das die Beteiligten in immer neue Konfrontationen treibt, kann sich jetzt nur einen „Siegfrieden“ vorstellen. Und das heißt: keinen Frieden.


Es geht darum, ein Szenario zu finden, das jetzt aus der bewaffneten Konfrontation herausführt. Und das zugleich ein Grundprinzip enthält, das in einer weiteren Zukunft ausbaufähig ist. Dies Grundprinzip darf nicht zu hohe Erwartungen an eine Harmonie enthalten. Man muss keine „Wertegemeinschaft“ anstreben. Zwischen dem westlichen und dem östlichen Element gibt es beträchtliche Unterschiede – in der Wirtschaft, in der Arbeitswelt, im Verhältnis von Stadt und Land, in der Staatsidee, in der Kultur, in der Religion. Solche Unterschiede gibt es auch im Innern Russlands und ebenso in vielen osteuropäischen Ländern. Es gibt Spannungen, aber sie müssen nicht zur Feindschaft führen. Sie müssen nicht zu dem Versuch führen, den jeweils Anderen zu besiegen und zu verdrängen. Dies Verhältnis kann man mit einem nüchternen Begriff beschreiben: „Koexistenz“.

Über das Prinzip der Koexistenz

Ein Ausweg aus der Ukraine-Krise ist nur möglich, wenn es gelingt, ein Verhältnis der Koexistenz herzustellen. Und diese Koexistenz darf nicht von außen auferlegt sein. Sie hat nur Bestand, wenn sie aus freiem Willen und im Respekt vor dem Anderen eingegangen wird. Nur so besteht eine realistische Chance, aus der gegenwärtigen Konfrontation herauszufinden. Der Gegensatz „Frieden statt Krieg“ ist da zu einfach, zu abstrakt. Es muss nach einem tragfähigen Prinzip für die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen gesucht werden – bei stark unterschiedlichen Seiten. Hier kann man an den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant erinnern: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Gesucht wird also ein Prinzip für das eigene Handeln, das auch dem Handeln des Anderen zugrunde liegen kann. Das von ihm akzeptiert werden kann, weil es auch seiner Lage gerecht wird. Indem Kant verlangt, dass das eigene Handeln eine Maxime enthalten muss, die für ein „allgemeines Gesetz“ geeignet ist, verwirft er jede Ordnungsidee, die nur auf die eigene Seite zugeschnitten ist, und auf ein Zurückdrängen der anderen Seite („roll back“) hinausläuft. Er verwirft ein Handeln, das (ausdrücklich oder insgeheim) davon ausgeht, dass das eigene Land „die Zukunft“ sei, während das andere Land „historisch überholt“ ist. Denn dann wäre das „allgemeine Gesetz“ gar nicht allgemein, sondern einseitig hegemonial. Kants Imperativ zielt auf eine Koexistenz des Unterschiedlichen.

Eine fundamentale Herabsetzung Russlands

Genau hier liegt der wunde Punkt der gegenwärtigen Ukraine-Krise. Hier tritt eine Neigung zutage, den Gegner zu einem möglichst extremen Feind zu stilisieren und sein Land fundamental herabzusetzen. Er soll geächtet und aus der Weltgemeinschaft ausgeschlossen werden. Wer den Rahmen der Worte (den „Diskurs“) betrachtet, in den im Augenblick die Ukraine-Krise gestellt wird, bekommt den Eindruck, dass hier ein Ausweg möglichst schwer gemacht werden soll. Schrille Töne und Anklagen gibt es auf beiden Seiten, aber das, was in diesen Wochen im Westen über Russland verbreitet wird, ist fundamentaler. Es zielt auf eine Ächtung des Landes und auf seinen Ausschluss aus der Weltgemeinschaft.


Es heißt, Russland wolle sich die Ukraine einverleiben, und dies sei nur der Auftakt zu einer generellen Verschiebung der Grenzen in Europa. Angeblich befinden wir uns an der Schwelle zu einem dritten Weltkrieg. Und das alles wird einem russischen Wesen zugeordnet: Es gebe da einen „imperialen Kern“, wird behauptet, eine fundamentale russische Aggressivität und Unterwürfigkeit, ein ewiges Zarentum und einen ewigen Untertanengeist. So ist man dabei, eine europäische Erbfeindschaft gegen Russland aufzubauen – und merkt gar nicht, wie man damit Europa klein und engherzig macht.
Und man ist auch im Tun fundamental. Man versucht, Russland von der Weltkarte der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, sportlichen, sozialen Beziehungen zu löschen, und man exekutiert das am einzelnen Menschen. An Musikern, an Sportlern, an jedem, den man russisch sprechen hört. Und dann die Wirtschaftssanktionen: Sie sollen das Land möglichst nachhaltig zerrütten. Der deutsche Finanzminister erklärt öffentlich, es müsse darum gehen, das russische Wirtschafts- und Finanzsystem „maximal zu schädigen“. Das heißt konkret: Er will dafür sorgen, dass in Russland Millionen Menschen hungern; dass das Gesundheitssystem zusammenbricht und die Verkehrsverbindungen. Viele Orte in den Weiten Russlands sollen von jeglicher Versorgung abgeschnitten werden. Ja, die Menschen in der Ukraine machen schwerstes Leid durch und niemand kann dem gleichgültig gegenüberstehen. Aber auch die „Sanktionen“, mit denen man Russland aushungern will, bedeuten Leid. Und dies Leid ist auf Jahrzehnte angelegt.

Aufgaben der Anerkennung (I)

Hier zeigt sich, dass das Prinzip der Koexistenz keine leichte Lösung ist, die sich gleichsam von selbst ergibt. Es stehen Feindbilder im Raum, von denen man Abstand nehmen muss, um zur Koexistenz in der Lage zu sein. Es ist eine geschichtliche Wahrheit, dass Russland aus eigener Einsicht aus der imperialen Rolle als kommunistische Weltmacht herausgefunden hat. Es sieht sich heute nicht mehr als das Weltzentrum, das alleine „auf der richtigen Seite der Geschichte“ steht. Dieser Wandel Russlands war im Umfeld von 1989 und bis weit in die 1990er Jahre auch international anerkannt – in den USA, in EU-Europa und auch in Deutschland. Es gab ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber Russland. Aber inzwischen wird eine ganz andere Erzählung verbreitet: Russland soll seine Politik damals bloß aus Schwäche geändert haben. Weil seine Wirtschaft so „marode“ war. Weil es musste, und nicht, weil es wollte. Damit war die ursprüngliche Anerkennung für Russland in ihr glattes Gegenteil verkehrt: in eine Geringschätzung Russlands, und bald auch in die niederträchtige Behauptung, es hätte keine produktiven Fähigkeiten und neige deshalb zu Gewalt und Krieg.
Es liegt nun am Westen, von dieser Erzählung wieder Abstand zu nehmen.

Aufgaben der Anerkennung (II)

Die Erzählung von der ewigen Rückständigkeit Russlands verkennt die Tatsache, dass auch dies Land Fortschritte macht und große Aufbauleistungen aufzuweisen hat. Es ist Teil der modernen Zivilisation, auch wenn seine Fortschritte langsamer sind und nicht die ganze Weite des Landes gleichermaßen erfassen. Es hat Arbeits- und Lebensformen hervorgebracht, die mit der Härte der dortigen Bedingungen zu tun haben. Dazu gehört eine größere Fähigkeit, Widrigkeiten des Klimas zu ertragen, karge Landschaften, Einsamkeit, Monotonie, kurzes Glück. In dieser Feststellung ist eine weitergehende Frage enthalten, die ich (ich bin kein Russland-Kenner) nicht zu beantworten weiß: Gibt es vielleicht eine eigene russische Ausprägung der Moderne? Gibt es etwas, was die Motivationsgrundlage im Westen nicht zu Wege bringt? Weil er eine solche Grundlage in seinem milderen, zugänglicheren Umfeld nicht entwickeln musste und konnte. Oder weil er sie geschichtlich schon so lange hinter sich gelassen hat. Fakt ist, dass das „marode“ Russland Lebens- und Arbeitssituationen aushält (ohne Bittermiene und Abgestumpftheit), für die in westlichen Gesellschaften kaum jemand zu motivieren ist. Hierzulande tut man sich gegenwärtig ja schon schwer, unter viel leichteren Bedingungen ein Berufsleben in Industrie, Handwerk oder Landwirtschaft einzugehen. Es wäre also wichtig, dort noch einmal genauer hinzusehen, wo unsere neuere Russland-Erzählung nur „autokratische“ Unterdrückung zu sehen vermag. Ist das russische Element mehr als nur eine ewig rückständige Moderne? Ist es eine eigene Pionierleistung, moralisch, ästhetisch, und das Tag für Tag? Eventuell steht daher auch hinter der „Konsolidierung“, die Russland (bis vor kurzem noch) von vielen Beobachtern bescheinigt wurde, eine bedeutende Leistung.
Es liegt nun am Westen, seine Vorstellung von der Welt so weit zu öffnen, dass auch Länder mit anderen Bedingungen und Prioritäten darin Platz finden.

Ostbindung und Westbindung

Dieser Beitrag ist ein Plädoyer für eine dauerhafte verlässliche Ostbindung. Im Bewusstsein der Unterschiede, also als Koexistenz. Aber diese Koexistenz soll mehr sein als ein „Tolerieren“ des Anderen, mehr als ein bloßes „Ertragen“. Sie sollte von einem tieferen Respekt für Russland und das russische Element im Osten Europas getragen sein. Doch was bedeutet das für die Westbindung Europas und Deutschlands? Es mag den ein oder anderen Leser geben, der diesen Beitrag als Bestätigung seiner Ressentiments gegen die USA und überhaupt gegen den Westen versteht. In unserer Zeit gibt es ja einen Trend, sich von 500 Jahren moderner Zivilisationsentwicklung zu verabschieden. Aber das ist ein Trend, der nicht im Osten entstanden ist, sondern im Westen. Es ist eine Selbstdemontage des Westens. Russland braucht eine solche Negativ-Erzählung nicht, um seinen Weg zu gehen. Und jemand, der im Westen aufgewachsen ist und darauf stolz ist (wie der Autor dieses Beitrags), kann zugleich großen Respekt vor dem Osten haben. Die Westbindung der Bundesrepublik hatte anfangs unvermeidlich einen konfrontativen Zug gegen den Osten, weil dort nicht einfach Russland stand, sondern ein System mit kommunistischen Weltherrschafts-Ansprüchen. Aber in der Westbindung war damals auch mehr enthalten als Konfrontation. Sie gab Deutschland einen inneren politischen, wirtschaftlichen und politischen Freiheitsschub. Die Errungenschaften dieses Schubs sind es wert, auch heute verteidigt zu werden. Doch geht die Bedrohung heute nicht von einem neuen Feind im Osten aus – sondern von einer selbstzerstörerischen Tendenz, die im Innern der westlichen Moderne entstanden ist.

Die Negativ-Spirale

Für einen beträchtlichen Teil westlicher Gesellschaften ist unsere Moderne ein übles Projekt mit böser Autoindustrie, Agrarindustrie und „Kulturindustrie“, voller „Rassismus“, „Kolonialismus“ und „Sexismus“. In diesem einflussreichen Sektor unserer Gesellschaft regiert das große „Nein“. Und jetzt wird versucht, den Kampf gegen die „Klima-Katastrophe“ mit dem Kampf gegen „Putins Russland“ zu verknäulen. Ein doppeltes „Nein“ also: Unsere westlichen Errungenschaften und unsere Beziehungen zum Osten werden zugleich aufs Spiel gesetzt. Wir befinden uns in einer Negativ-Spirale, die sich jeden Tag schneller dreht. Da hilft nur ein doppeltes „Ja“ – Ja zu unserer westlichen Erfahrung und Ja in Richtung Osten.

Was bedeutet „die Ukraine“ heute?

Es ist in diesen Tagen vieltausendfach die Fahne der Ukraine zu sehen. Doch über das Land selber erfährt man wenig. Die heutige Ukraine ist offensichtlich nicht mehr die Ukraine, die im Dezember 1991 nach einem Referendum mit 90,3 Prozent Zustimmung ihre staatliche Unabhängigkeit erlangte. Seit der „Majdan-Revolution“ 2014 wurden politische Entscheidungen getroffen, die das Land einseitig nach Westen orientieren. Seit Februar 2019 steht in der Verfassung, dass die Ukraine die Mitgliedschaft in EU und NATO anstrebt. Ein Sprachgesetz (s. Text „Ukraine I“) diskriminiert den Gebrauch der russischen Sprache. Wie hat sich das Land überhaupt entwickelt? Man wüsste gern etwas über das Alltagsleben in städtischen und ländlichen Regionen, über Aufbauleistungen, demokratische Fortschritte, lebendige Traditionen. Welche Unterschiede sind gewachsen und welche nicht? Doch die Berichte, die man in Deutschland zu lesen bekommt, bieten da kaum etwas. Es herrscht ein merkwürdiges Schweigen.
Haben wir eine Ukraine-Solidarität, die sich gar nicht für die Realitäten und Möglichkeiten dieses Landes interessiert? Dabei wäre es wichtig, genau hinzuschauen. Ein Land, das die beiden Elemente – westliche und östliche – in sich hat, kann einen ganz eigenen Reichtum haben. Die Verbindung dieser Elemente kann eine Brücke sein. Doch wenn das Land als Vorposten in einer Konfrontation aufgestellt wird, wird es leicht zum ersten Opfer aller Spannungen. Oder es wird zur bloßen Peripherie in dem Machtsystem, dem es sich einseitig angeschlossen hat. Eine Ukraine, die nur noch ein Bestandteil der EU ist, wird im Räderwerk des EU-Systems leicht an den Rand gedrängt. In der Brüsseler Regelungs-Maschine zieht es den Kürzeren. Man denke an die zahlreichen Konflikte, die osteuropäische Länder mit der EU haben. Oder an die Unfähigkeit der EU, in den Ländern Ex-Jugoslawiens etwas zu bewegen. Für die Ukraine könnte es da ein böses Erwachen geben.

Erste Schritte

Angesichts der großen Opfer in diesem Land darf man nicht erwarten, dass die beiden Seiten in nächster Zeit zu einem wirklichen Frieden finden. Es kann am Anfang nur ein sehr schroffes, verletztes und misstrauisches Nebeneinander geben. Kaum mehr als einen Waffenstillstand. Aber schon das wäre viel: Eine Grenze, an der gegenseitige Übergriffe zu Halten gebracht werden. Und an der auch die großen Feind-Erzählungen etwas von ihrer Macht verlieren. In der vergangenen Woche blitzte kurz eine Entschärfung der Situation auf. Von russischer Seite wurde erklärt, dass man nicht das Ziel habe, die Ukraine zu besetzen oder die Regierung zu stürzen. Und von Seiten der ukrainischen Regierung wurde erklärt, man könne auf eine Nato-Mitgliedschaft verzichten.
So ähnlich könnten erste Schritte zur Koexistenz aussehen.

(erschienen im Rahmen meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“ am 20.3.2022)