Groß-Berlin und Klein-Berlin

Eine moderne Großstadt funktioniert nur als gut erschlossene Stadtregion. Deshalb ist die Feindschaft gegen den Autoverkehr und der Angriff auf den Verbrennungsmotor so kurzsichtig und verheerend. 

Groß-Berlin und Klein-Berlin

28. März 2023

Der mit großem Aufwand betriebene Volksentscheid „Berlin klimaneutral 2030“ ist krachend durchgefallen. Er scheiterte an der geringen Beteiligung der Berliner – und mehr noch daran, dass von denen, die sich beteiligten, sehr viele ausdrücklich mit „Nein“ gestimmt haben. Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die sich schon bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus abzeichnete: Eine Wählerbewegung, die vor allem in den äußeren Bezirken der Stadt stark war, führte das Ende der rot-grün-roten Koalition in Berlin herbei. Die Stadtmitte ist offenbar nicht mehr ausschlaggebend für die politische Mehrheitsbildung in der Metropole. 

Das sollte Anlass sein, den Blick auf die Stadt zu erweitern und den Beitrag des Außenraums zur Gesamtbilanz Berlins genauer ins Auge zu fassen. Ein solcher Blick zeigt erhebliche Unterschiede zur Innenstadt-Vorstellung von Urbanität: eine produktive Stadt, in der nicht nur fertige Güter verteilt und verbraucht werden, sondern auch die Güter-Herstellung eine Rolle spielt. Eine physische Stadt, in der viel stofflicher Austausch mit der Umwelt stattfindet, auch stoffliche Wiederverwertung wie beim Wasser und beim Müll. Eine offene Stadt, die als Gewerbe- und Wohnstandort ein viel breiteres soziales Spektrum bietet als die exklusive Innenstadt. Und schließlich zeigt dieser Blick auch eine „Stadt der langen Wege“, die oft kreuz und quer durch den Raum führen. Ohne deren zügige und zuverlässige Bewältigung könnte Berlin gar nicht stattfinden. 

Die Bedeutung des Autoverkehrs 

Auf Grundlage einer umfangreichen Verkehrs-Untersuchung aus dem Jahr 2009, die im Auftrag der Landesregierungen von Berlin und Brandenburg durchgeführt wurde (Titel: „Gesamtverkehrsprognose 2025 für die Länder Berlin und Brandenburg“), lassen sich die Anteile der verschiedenen Verkehrsträger in verschiedenen Teilzonen der Stadtregion errechnen. Zunächst der Zustand im Jahre 2006: In der Kernstadt-Zone betrug der Anteil des Automobils 44,1%, der Anteil von Bus&Bahn 45,4%, der Anteil von Fuß&Fahrrad 10,5%. In der Außenstadt-Zone waren die entsprechenden Anteile: 60,1% – 30,6% – 9,3%. In der Umland-Zone (identisch mit dem Land Brandenburg) war der Anteil des Automobils 81,8%, der Anteil von Bus&Bahn 11,7% und der Anteil von Fuß&Fahrrad 6,5%.

In der Prognose für das Jahr 2025 sehen die Anteile so aus: In der Kernstadt-Zone für das Auto 39,1%, für Bus&Bahn 47,8%, für Fuß&Fahrrad 14,1%. In der Außenstadt sind es 54,5% für das Auto, 32,6% für Bus&Bahn und 12,9% für Fuß&Fahrrad. Und für das Umland wird für das Auto ein Anteil von 75,1% prognostiziert, für Bus&Bahn 15,7%, für Fuß&Fahrrad 9,2%. Die Untersuchung ist schon etwas älter, aber die heutigen Realzahlen unterscheiden sich nicht viel von dem, was damals für 2025 prognostiziert wurde. Es zeigt sich, dass die Anteile des Automobils hoch sind, selbst im Kernbereich Berlins. Je weiter der Raum wird, umso größer wird dieser Anteil. Es gibt ein gewisses Wachstum der Anteile von Bus&Bahn und von Fuß&Fahrrad, aber eine Ersetzung des motorisierten Individualverkehrs durch diese Verkehrsträger ist nicht einmal annähernd in Sicht.  

Dabei ist ein Punkt wichtig. Bei diesen Zahlen wird die Messgröße „Verkehrsleistung“ (in Kilometer) zugrunde gelegt, und nicht die Messgröße „Verkehrsaufkommen“, bei der nur die Zahl der Wege erfasst wird. Bei „Verkehrsleistung“ wird also die bewältigte Distanz erfasst – und damit das Entfernungsproblem, dass für die Menschen ganz entscheidend für ihre Wahl des Verkehrsmittels ist. So ergab die Untersuchung des Ist-Zustandes 2006 bei Fuß & Fahrrad bei der Kilometer-Leistung in Berlin (Kernbereich und Außenbereich zusammen) einen Anteil von 10,1%. Wenn nur die Wege-Zahl betrachtet wird, und dann auch jeder kleine Weg zählt, den man unternimmt, steigt der Anteil von Fuß & Fahrrad auf 39,7%. Bei dieser Betrachtung wird die spezifische Leistung des Automobils stark unterschätzt und die Möglichkeiten eines Auto-Verzichts stark überschätzt.  

Die spezifische Leistung des Automobils

Wenn etwas hartnäckig so ist, wie es ist, sollte man davon ausgehen, dass es dafür gute Gründe gibt. Man sollte also die weiterhin hohen Auto-Anteile nicht auf irgendeinen „Autowahn“ zurückführen, sondern ruhig davon ausgehen, dass da sehr vernünftige Menschen am Werk sind. Im Leistungsspektrum der Verkehrsträger hat das Automobil eine Mittelstellung: Im Vergleich zu Fuß & Fahrrad ist es schneller, belastbarer, geschützter; im Vergleich zum Bus und besonders zur schienengebundenen Bahn ist es kleiner, flexibler, weniger aufwendig. Das bedeutet eine ziemlich breite Abdeckung von Mobilitätsaufgaben, aber auch das Auto ist natürlich kein Alleskönner. In einem Metropolenraum wird man einen beträchtlichen Teil des Verkehrs finden, der durch Bahn & Bus besser bewältigt werden kann, ebenso einen beträchtlichen Teil, der durch das Fahrrad und natürlich zu Fuß geschafft werden kann. Manchmal wird auch eine Kombination von Bahn & Rad eine Lösung sein. Aber es gibt einen beträchtlichen Teil von Mobilitätsanforderungen, bei denen die Einseitigkeiten des Verkehrsmittels Bahn sich als unüberwindbares Hindernis erweisen. Für eine flächenmäßige Erschließung ist der Schienenverkehr im Außenraum von Großstädten und im ländlichen Raum zu aufwendig – nicht nur in Geld gemessen, sondern auch in dem Aufwand an Material und Raum. Auch das Fahrrad hilft nicht weiter, wenn man größere Distanzen schnell überwinden muss oder größere Einkäufe, Werkzeuge, Freizeit-Ausrüstungen zu transportieren hat. Eine Kombination Rad & Bahn hilft auch nicht weiter, wenn die Wartezeit lang oder der Umlade-Aufwand groß ist. Und was passiert, wenn Wetter- oder Gesundheits-Probleme das Fahrradfahren unmöglich machen, oder wenn die Bahn durch eine Streckenstörung oder einen Streik blockiert ist? Wenn es dann kein Auto gibt, fehlt jede Ausweichmöglichkeit. In den Innenräumen einer Metropole gibt es solche Möglichkeiten, aber im Außenraum geraten die Menschen ohne Auto in eine fundamentale Abhängigkeit. Gewiss liegt die Lösung nicht in einem einzigen Verkehrsmittel, sondern nur in einem ganzen Spektrum von verschiedenen Verkehrsträgern.  Keinesfalls aber darf das Auto aus dem Spektrum der großen Verkehrsträger wegfallen.  

Das Automobil ist als Verkehrsträger aktueller denn je 

Die spezifische Leistungsfähigkeit des Autos ist alles andere als „überholt“. Im Außenbereich unserer Großstädte spielen zwei große Faktoren eine Rolle: Zum einen geht es um die Kosten. Die Mieten und Kaufpreise für Wohnungen sind in der Kernstadt immens gestiegen. Um diesen Kosten auszuweichen, ziehen viele Menschen in die Peripherie. Sie nehmen die längeren Wege in Kauf, wenn sie dadurch eine bezahlbare Wohnung finden, eventuell etwas mehr Wohnfläche oder sogar ein Gartenstück für die Vergrößerung der Familie. Das könnte zu mehr Bahnverkehr führen, aber die Orte mit Anschluss für S-Bahn und Regionalbahn sind ihrerseits auch schon relativ teuer. So verteilt sich die Ausweichbewegung noch stärker in die Fläche, wo sich die Bahn und Bus nicht mehr hinterherbauen lassen. 

Der zweite Grund für die Bedeutung des Automobils ist die neue Vielfalt der Arbeits- und Lebens-Beziehungen. Denn der „Pendler“, der nur morgens zur Arbeit in die Kernstadt kommt, und abends wieder nach Hause fährt, ist gar nicht mehr das typische Bewegungs-Modell. Die Menschen fahren oft mehrere Stationen an, von denen viele wiederum in der Peripherie liegen. Eine Bewegungskarte heutiger Berufstätiger zeigt oft ein komplexes Kreuz und Quer. Und das gilt auch für die vielfältigen Beziehungen, die die Männer, Frauen, Kinder eines Haushalts haben – zum Einkaufen, zur Schule, für die Gesundheit, für kulturelle und sportliche Aktivitäten, für Ausflüge und Reisen. Auch hier ist aus dem „one to one“ zwischen Wohnung und Arbeit ein „many to many“ geworden, das sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert. 

Natürlich kann das nicht bedeuten, dass nun alles flexibilisiert wird. Man kann nicht bei jedem Arbeitswechsel eine neue Wohnung suchen. Man kann auch nicht für jeden Weg das hochspezialisierte, beste Verkehrsmittel in Reserve haben. Es muss also in der Vielfalt auch Dinge geben, die verschiedene Aufgaben bewältigen und Kontinuität im Wechsel bieten – sonst gerät man in völlig zerrüttete Zustände. Das Automobil gehört zu diesen Dingen, die vieles können und Kontinuität bieten. 

Der weiterhin starke Autoverkehr hat also mit den neuesten Veränderungen der Lebensformen zu tun. Deshalb ist das Auto alles andere als ein Auslaufmodell. Es hat eine große Zukunft vor sich.

Elektro-Autos? Warum nicht einfachere, sparsamere Verbrenner?  

Diese Betrachtung zeigt auch, dass es nicht irgendwelche Luxus-Bedürfnisse sind, die heute das Auto für die meisten Menschen interessant macht. Es ist nicht als Mittel zur Selbstdarstellung gefragt, sondern aus praktischen Gründen – Gründe, die in den Werbespots der großen Autohersteller nicht mehr vorkommen. Für die große Mehrheit der Autofahrer muss ihr Fahrzeug reale Mobilitätsprobleme lösen. Ihnen ist das Preis-Leistungs-Verhältnis wichtig. Auf diese Grundlage wurde das Automobil in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zum Massenverkehrsmittel. Durch industrielle Fertigung wurde es für breite gesellschaftliche Schichten erschwinglich. Dazu gehörte die Entwicklung von sparsamen Klein- und Mittelklasse-Wagen – und von entsprechenden Verbrennungs-Motoren. Im Laufe der Jahrzehnte hat diese Wagenklasse hohe Standards bei Haltbarkeit, Sicherheit und Umweltschutz erreicht. Wenn heute noch mehr Umweltschutz verlangt wird, wäre eigentlich naheliegend, an einem Angebot für einfachere, noch sparsamere Automobile zu arbeiten und einen Umstieg weg von den Wagen in den oberen Fahrzeug-Klassen zu fördern. Damit könnten Energieverbrauch und Emissionen noch einmal signifikant gesenkt werden. 

Doch es geschieht etwas ganz Anderes. Mit der Elektrifizierung des Automobils wird der schon bestehende Trend zu immer aufwendigeren, teureren Wagen weiter fortgeschrieben und bis ins Absurde gesteigert. E-Mobile sind gewaltige Fahrzeuge mit hohem Gewicht (nicht zuletzt wegen der großen, schweren, teuren Batterie) und aufwendiger Ausstattung – nur in SUV-Größe lohnt sich die Geldausgabe. In den unteren Fahrzeugklassen ist die E-Technologie gar nicht darstellbar. So wird das Automobil als Massenverkehrsmittel abgeschafft und wird wieder zum Luxus-Gut. Für dies Minderheits-Gut aber wird eine gigantische Lade-Infrastruktur aufgebaut. 

Der Angriff auf das Auto schlägt auf das Siedlungssystem durch

Wichtiger noch als die Kritik dieser absurden Entwicklung ist ein Blick auf das, was durch die der Abschaffung des Autos als Massenverkehrsmittel bewirkt wird. Dann würde nämlich für einen großen Mobilitäts-Bereich keine Lösung mehr zur Verfügung stehen. Oder nur noch Lösungen mit einem immensen Aufwand an Geld, Zeit und Anstrengung, die nicht lange durchzuhalten wären. Das aber würde auf das gesamte Siedlungssystem unseres Landes durchschlagen: Bekanntlich hat sich im vergangenen Jahrzehnt das Wohnen in der Mitte der Großstädte stark verteuert. Viele Menschen sind diesem Kostendruck ausgewichen und sind in den Außenbereich der großen Stadtregionen (oder in kleinere Städte und ländliche Räume) ausgewichen. Wenn aber nun das Autofahren so teuer wird, dass es für diese Menschen nicht mehr bezahlbar ist, dann wissen sie nicht mehr ein noch aus. Ein Teil von ihnen muss um jeden Preis wieder eine zentralere Wohnung suchen. Oder eine Wohnung nahe an den Haltepunkten der Schnellbahn-Trassen. Die Wohnungsmärkte werden noch enger werden. Es wird zu einer Auseinandersetzung um knappen Wohnraum kommen, von denen die heutigen Verhältnisse nur ein moderates Vorspiel sind. Fällt also das Auto als Massenverkehrsmittel aus, wird eine neue Preiswelle an den Wohnungsmärkten ausgelöst, die man sich gar nicht vorstellen mag. 

Das beschlossene Aus für den Verbrennungsmotor wird also nicht nur das Leben „ein bisschen teurer“ machen. Es wird einen großen Teilraum, der für Wohnungen und Arbeitsstätten eine Kostenentlastung bedeutete, brachlegen. Millionen Wohnungen und Arbeitsstätten werden wertlos, weil sie nicht mehr täglich erreichbar sind. Wenn bisher im Zuge der „Energiewende“ Kraftwerke stillgelegt wurden, war das für die betroffenen Beschäftigten und Orte schon schlimm genug. Aber jetzt werden die Grundfesten der Gesellschaft angetastet. Bisher war es möglich, Freiräume für die eigene Lebensgestaltung zu haben, und dabei spielte die Möglichkeit, den Kosten und dem knappen Raum der Innenstädte „nach außen“ auszuweichen eine wichtige Rolle. Die offene Gesellschaft hatte also im erweiterten Siedlungssystem der Großstädte einen adäquaten Ausdruck gefunden – mit dem Automobil als einem wichtigen Verkehrsmittel. Diese offene Gesellschaft steht jetzt auf dem Spiel.     

Die kalte Abwicklung ist schon im Gange  

Die Bedrohung ist ernst. In der Feindschaft gegen den Autoverkehr und in der Rücksichtslosigkeit gegenüber der Peripherie ist mehr im Spiel als die Willkür von Politikern. Es ist eine tiefe soziale Verachtung am Werk. Eine gehobene Mittelschicht, die sich im Alleinbesitz von Wissen und Moral glaubt, hat sich in der Mitte unserer Städte gut eingerichtet. Wo es vorher zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft ein Mindestmaß an gegenseitigem Interesse gab, gibt es für diese Schicht nur noch sie selbst. Alle anderen Daseinsformen sind nun „überholt“ und „überflüssig“. Selten in der Geschichte hat man eine solche Verbindung von „tonangebend“ und „ignorant“ bei einer sozialen Schicht gesehen. Aber sie ist da. Der gehobene Mittelstand, einst eine sehr respektable Schicht, ist in unserer Gegenwart zu einer Kraft der kalten Abwicklung geworden. Er hat in Deutschland bereits gezeigt, zu welch kaltem Wegsehen er fähig ist, als man mit ein paar „Maßnahmen“ Millionen Existenzen im Osten in den Untergang laufen ließ. Und scheint er bereit, das Ganze in einem viel größeren Maßstab durchzuziehen. Wieder gibt es ein paar knappe Maßnahmen „wird verboten“ oder „läuft aus“ – von einem „Europaparlament“, das keinerlei Bindung zur Lebenswirklichkeit in Stadt und Land hat. Welcher Berliner weiß schon von „seinem“ Europa-Abgeordneten, wofür er votiert hat und für welche Konsequenzen in seinem Wahlkreis er einsteht. Mit herablassender Geste „Ist ja bloß ein Motor“ wird die einzig bezahlbare Version des Automobils abgeschafft, und dann sieht man gleichgültig zu, wie die Leute in ganz Europa nicht mehr Aus und Ein wissen.   

Groß-Berlin und Klein-Berlin

Aber da liegt auch die strategische Schwäche einer gehobenen Mittelschicht, die ihre Welt als allgemeine Welt durchsetzen will. Sie ist nur in einem sehr kleinen Teil der Wirklichkeit präsent. Selbst in den Großstädten, die angeblich die Träger der grünen Wende-Zukunft sind, bestimmt diese Schicht nur den kleineren Teil des Raums – die privilegierte Stadtmitte. Das reale Leben im Außenbereich der Großstädte und auf dem Land hält diese Schicht gar nicht aus. Es kommt also darauf an, dass sich die Peripherie bewusst wird, dass sie ein eigenes Zukunftsmodell schon darstellt – ganz ohne „Wende“. Und dass sie eine eigene Macht hat, von der die verwöhnte Stadtmitte in vieler Hinsicht abhängig ist. 

Wichtig wird dabei sein, dass die Arena, in der die Dinge der großen Städte geregelt werden, erweitert wird. In Berlin gibt es dazu einige gute Voraussetzungen. Das politische Stadtgebiet umfasst 891 Quadratkilometer, und damit auch einen großen Außenbereich. Bei einem regionalen Gesamt-Einzugsgebiet von 6,2 Millionen Menschen wohnen 3,7 Millionen in diesem politischen Stadtgebiet. Zum Vergleich: In Paris regiert die Bürgermeisterin nur über ein Gebiet von 105 Quadratkilometer mit 2,1 Millionen Einwohnen – bei einem Einzugsgebiet von circa 12,5 Millionen Einwohnern. Die Außenbezirke sind also in Berlin politisch-gesellschaftlich viel präsenter als in Paris. 

Dies Groß-Berlin ist schon längere Zeit eine Realität, die gute Dienste geleistet hat. Der Begriff geht auf die 1920er Jahre zurück, als Berlin durch Eingemeindungen – begleitet durch erweiterte Infrastrukturen bei Wasser, Energie und Verkehr – zu seiner heutigen Fläche wuchs. Diese „Größe“ hat daher nichts mit dem „Germania“-Wahn des NS-Regimes zu tun, und auch nichts mit dem Babylon-Stadtbild des Films „Metropolis“. Eine andere Entwicklungsdynamik setzte sich geschichtlich durch. Sie führte immer deutlicher zu einer abgestuften, vielgliedrigen Stadt-Landschaft. „Berlin“ stand nun für eine Stadt mit Haupt- und Nebenzentren, mit Haupt- und Nebenachsen des Verkehrs, mit verschiedenen Lebens-Räumen und Verkehrs-Geschwindigkeiten. Und damit stand Berlin keineswegs allein da. Es gab ähnliche Entwicklungen in vielen Großstadt-Regionen dieser Welt. Die Geschichte der Moderne führte also nicht in monotone Betongebirge und Marschkolonnen im Gleichschritt. Eine größere und zugleich gelockerte Ordnung des urbanen Raums zeichnete sich ab. Vor diesem Hintergrund eröffneten sich am Ende des 20. Jahrhunderts der wiedervereinigten deutschen Hauptstadt neue Möglichkeiten, die Geschichte von Groß-Berlin fortzuschreiben. 

Doch die Entwicklung, die Berlin in den beiden vergangenen Dekaden genommen hat, ging in eine andere Richtung. Sie war ein Rückschritt, der die Stadt enger gemacht hat. Der Maßstab, nach dem die Grundentscheidungen für die Stadt getroffen wurden, und der bei der Pflege und Entwicklung der Infrastrukturen angelegt wurde, schrumpfte. Es regierte Klein-Berlin. 

Und das schien lange Zeit ganz unangefochten zu sein. Demgegenüber ist das Wahlergebnis vom 12. Februar 2023, mit dem die äußeren Wahlbezirke sich so deutlich zu Wort gemeldet haben, eine positive Überraschung. Und auch das deutliche Scheitern des Volksentscheids „Berlin klimaneutral 2030“ könnte ein Zeichen sein, dass die Regentschaft von Klein-Berlin wackelt. Zumindest hat sich ein Fenster zu anderen Optionen für die Stadtentwicklung geöffnet. 

(erschienen in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“ und bei der „Achse des Guten) 

Wenn Grün verliert, gewinnt die Stadt 

Die CDU-Gewinne in Berlin und die Abkehr der SPD von der rot-grün-roten Koalition sind nur ein erster Schritt. Doch schon jetzt zeigt sich, wie wenig das selbsternannte „Großstadt-Milieu“ mit den Grundaufgaben einer großen Stadt zu tun haben will. 

Wenn Grün verliert, gewinnt die Stadt 

22. Februar 2023

Bei der Betrachtung der Ergebnisse der Wahlen in Berlin ist man zunächst geneigt, die SPD als große Verliererin anzusehen. Sie verlor von den 26 Direktmandaten, die sie bei der (ungültigen) Wahl 2021 gewonnen hatte, sage und schreibe 22. Die Grünen verloren nur 3 ihrer bisherigen 23 Direktmandate. Aber ihre Mandate liegen alle in den Wahlkreisen der Kernstadt, in denen sie auch vorher stark waren. Der Wahlsieger CDU, der seine Direktmandate von 21 auf 48 steigerte, gewann diese im gesamten übrigen Raum Berlins, der an Fläche und Bevölkerung die Kernstadt deutlich übertrifft. So bildet das grüne Votum eine Art Insel inmitten eines schwarzen Groß-Berlin. Für die Grünen ist diese räumliche Begrenzung ihrer Mehrheiten auf ein Klein-Berlin eine folgenreichere Niederlage als es die großen Verluste für die Sozialdemokratie sind. Denn man muss die Begrenzung an dem kolossalen Anspruch der Grünen messen. 

Sie waren angetreten als die Zukunftspartei, die vorgab, die richtungweisende Vision für eine „große Transformation“ Berlins zu haben und zu verkörpern. Und diese Vision sollte für die Gesamtstadt gelten, das heißt für die sehr große Fläche des Berliner Stadtgebietes, das sich von anderen Metropolen wie zum Beispiel Paris, dessen Bürgermeister nur über einen Bruchteil der Großraumbevölkerung regiert, deutlich unterschiedet. Nun ist dieser Großanspruch der Grünen von den Berlinern deutlich geschrumpft worden. Nur knapp 280.000 Bürger (von 2.431.772 Wahlberechtigten) haben der grünen Zukunft ihre Stimme gegeben. Und räumlich ist dies Votum weitgehend auf einen engen, besonders gut ausgestatteten Binnenraum der Stadt beschränkt. Die Erfolge der Grünen in diesem Binnenraum sind also Pyrrhussiege: Das Wahlergebnis lässt die Tatsache, dass die Grünen eine Partei der Bessergestellten sind, noch deutlicher hervortreten. Von der Schwäche der SPD haben die Grünen nicht profitieren können. Die große Wählerbewegung fand ganz ohne sie statt. Die Wähler hatten andere Sorgen. Die räumliche Konzentration der Grün-Votums auf das Stadtinnere ist im Grunde eine Kapitulation vor den viel größeren Herausforderungen der Gesamtstadt. Und „Grün“ steht jetzt für einen Schonraum, in dem man sich gemütlich verbarrikadieren kann. 

Die Volkspartei SPD muss nun erkennen, wie verheerend ihr strategisches Bündnis mit den Grünen für sie war. Die Grünen haben die Sozialdemokraten in eine Politik gelockt, die sie in weiten Teilen der Stadt nicht mehr wählbar machte. Die grüne Stadtpolitik macht einen Großteil der Stadtbevölkerung zu Verlierern, und so machte sie auch die Volkspartei SPD zur Verliererin. Sie wurde von den Grünen hingehalten, gelähmt, blockiert – so, wie die tragenden Gesellschaftsschichten des „grünen Zukunftsprojekts“ die Lebensformen der Mehrheit der Berliner Bürger mit Gleichgültigkeit und Geringschätzung behandeln. Insofern ist es konsequent und richtig, wenn sich die SPD jetzt diesem grünen Sog zu entziehen versucht. 

Erst die Stadt, dann die Parteien

Am Tag nach der Wahl stand in der Berliner Zeitung, die alles andere als ein „rechtes“ Blatt ist, ein Leitartikel von Moritz Eichhorn unter dem Titel „Der Anfang vom Ende“. Dort konnte man lesen:

„…auch wenn es keinen Wechsel gibt, ist diese Wahl doch der Beginn des Endes von Rot-Grün-Rot. Denn die Probleme beim Bauen, Wohnen, im Verkehr, bei der Bildung und der Sicherheit, deretwegen die Regierungsparteien abgestraft wurden, werden nicht kleiner. Ganz im Gegenteil: Es wird schlimmer werden. Es wird auch mit Enteignungen weniger Wohnraum geben, die Verkehrssituation wird dank Straßensperrungen chaotischer werden, die Sicherheitslage wird sich nicht bessern. Noch immer stand kein einziger Sylvester-Randalierer vor Gericht, geschweige denn, dass einer verurteilt wurde. Die Regierungsparteien haben kein Rezept gegen den Bildungs-Gau, den knappen Wohnraum und die Gewalt. Es sind ja gerade die Entscheidungen aus 20 Jahren SPD, Grünen und Linken, die uns genau dorthin geführt haben, wo wir uns jetzt befinden.“ (Berliner Zeitung vom 13.2.2023)

Das sind bemerkenswerte Sätze. Das Berliner Wahlergebnis (und neuere Wahlergebnisse in anderen großen Städten) signalisieren einen tieferen Stimmungswechsel. Die seit der Jahrtausendwende dominierenden Zukunftsvisionen verlieren an Zugkraft. Die Vision „ökologische und soziale Stadt“, die auf den ersten Blick alles zu bieten schien, was Politik in großen Städten sein kann, hat ihre Bannkraft verloren. Die Wähler haben gemerkt, dass eine solche „ganzheitliche Vision“ nicht im Geringsten garantiert, dass die Stadt dann auch funktioniert. Und Berlin ist das krasse Beispiel: In dieser Stadt können die elementarsten Funktionen (Termine für Personalpapiere, Führungszeugnisse, Eheschließungen, KFZ-Anmeldungen; die Sicherheit im öffentlichen Raum; der Verkehrsfluss auf den großen Verbindungsachsen; die Lernergebnisse der Schulen) immer weniger gewährleistet werden. Zwischen den Stadt-Visionen, die in bestimmten sozialen Milieus und dem Regionalsender RBB gepflegt werden, und dem realen Berlin gibt es heute einen tiefen Bruch.  

In der Berlin-Wahl hat sich dabei nicht nur eine vage „Angst“ oder „Wut“ geäußert. Nein, hier wurde ein Urteil über den Zustand der Stadt gesprochen. Dies Urteil steht nun im Raum, für die ganze kommende Legislatur-Periode. Jede Regierungskoalition wird daran gemessen werden, ob es ihr gefällt oder nicht. Und auch den Massen-Medien wird es nicht gelingen, dies Urteil aus dem Gedächtnis der Berliner zu löschen. Es gibt den guten Grundsatz „Erst das Land und dann die Partei“. Er sollte auch so verstanden werden, dass der Wähler kein bloßer Parteigänger ist, sondern bei den Wahlen eine gewisse Idee des Landes – hier: der Stadt – vor Augen hat, die seinen Erfahrungen und Interessen entspricht. „Interesse“ muss nicht nur den eigenen Geldbeutel bedeuten; es enthält immer auch eine Idee des Ganzen der Stadt.  

„Die Stadt muss funktionieren“

Die Tatsache, dass die CDU erhebliche Stimmgewinne zu verzeichnen hat, liegt nicht an einer bestimmten Parteisicht, zu der andere Parteien nicht fähig wären. Eher hat die CDU mit ihrem Leitmotiv „Die Stadt muss funktionieren“ einen elementaren konstruktiven Anspruch erhoben, und die Stadt zum sachlichen Maßstab der Politik gemacht. Der Satz mag wie eine Selbstverständlichkeit klingen, aber so ist die Lage in Berlin eben nicht. Damit hat die CDU einen Nerv der Berliner getroffen. Auch vieler Berliner, die die CDU nicht wählen wollten und eventuell auch aus Verdruss und Resignation der Wahl fernblieben. Im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg betrug die Wahlbeteiligung nur 50%. Der Satz „Die Stadt soll funktionieren“ trifft die verschiedensten und teilweise schon langjährigen Erfahrungen der Berliner: Man will nicht auf endlosen Warteschleifen verwiesen werden, wenn man im zuständigen Amt dringend einen Termin braucht. Wenn man eine neue Wohnung braucht, will man nicht vom Zufall, von der Zugehörigkeit zu bestimmten Klientelgruppen oder von „Beziehungen“ abhängen. Man will nicht hilflos in irgendeiner Straßenblockade festsitzen oder im Notfall um das rechtzeitige Eintreffen von Notarzt oder Feuerwehr bangen müssen. Man will nicht vor der Gewalt im öffentlichen Nahverkehr oder in Parks Angst haben müssen, und nach Anbruch der Dunkelheit von vielen öffentlichen Orten praktisch ausgeschlossen sein. Und während die Berliner so feststellen müssen, dass in ihrer Stadt die elementarsten, alltäglichsten, eigentlich schon vor langer Zeit errungenen Standards nicht mehr gewährleistet sind, hören sie ständig von allen möglichen wohlklingenden, außergewöhnlichen und aufwendigen „Projekten“. Vor diesem Hintergrund hat der Satz „Die Stadt muss funktionieren“ seine besondere Sprengkraft bekommen. Er ist der Anspruch, der nach dieser Wahl sozusagen auf alle Mauern geschrieben steht.   

Die Leistung der modernen Stadt-Maschine  

Betrachtet man das Funktionieren und Nicht-Funktionieren der Großstadt näher, ist das meistens nicht einfach eine Frage von mehr oder weniger Personal. In den meisten Fällen geht es um das sachgerechte Funktionieren und um sachliche Bestände in Gestalt verschiedener Infrastrukturen. Eine moderne Großstadt ist eine ungeheure Anhäufung von solchen Infrastrukturen. Die Versorgung mit Energie muss ständig und ohne Unterbrechung gewährleistet sein, ein Ausfall, eine ständige Unzuverlässigkeit würde die Gesamtleistung der Stadt stark herabsetzen. Gleiches gilt für die Versorgung und Klärung von Wasser. Und für die Entsorgung und Wiederverwendung von Müll, für die Pflege des öffentlichen Raums. Das Verkehrssystem muss für eine große Bevölkerung und ein relativ weites Einzugsgebiet Pünktlichkeit garantieren. Der Zeitverlust beim Zusammenarbeiten wäre sonst immens. Große Veranstaltungen wären nicht mehr zu bewältigen. Feuerwehr und Rettungswagen brauchen eine flächendeckende Verteilung in der ganzen Stadt. Und das gilt natürlich für die Polizeikräfte und den Schutz vor Gewalt und Raub. 

Das alles sind Aufgaben, die ständig erfüllt werden müssen und für die es auch Reservekapazitäten geben muss. Eine große Stadt kann man nicht auf der Basis von „Einzelstudien“ und „Projekten“ betreiben. Der Zustand der Infrastrukturen ist der kritische Maßstab, auch wenn sie oft wenig sichtbar sind und in den Medien selten vorkommen. Erst wenn es Ausfälle gibt, wird ihre immense Bedeutung plötzlich spürbar. Bei Infrastrukturen zählt nicht eine einmalige Maximalleistung, sondern ein gehobenes, breites Niveau, das auch bei verschiedenen und wechselnden Anforderungen der Menschen und Veränderungen der Umweltbedingungen aufrechterhalten werden muss. Als Maßstab der Infrastrukturen ist daher „Tragfähigkeit“ wichtiger als „Output“. Auch diese Tragfähigkeit ist ein striktes Effizienzkriterium. Auch hier geht es um Wertschöpfung, nur eben anders als bei einem Produktionsbetrieb. Auch eine moderne Großstadt ist eine „Maschine“. Aber sie dient nicht direkt zum Herstellen einzelner Güter und Dienste, sondern zum Tragen einer Vielfalt von Betrieben, Einrichtungen und Haushalten. 

Die Verdrängung der Fachleute aus der Führung der Stadt 

Wenn man diesen Maßstab anlegt, und dann anschaut, welche Vorstellung von „Urbanität“ das Berlin-Bild der letzten Jahre und Jahrzehnte dominiert, wird eine riesige Lücke sichtbar: Die Infrastrukturen kamen in diesem Berlin-Bild eigentlich gar nicht mehr vor. Ihre vermittelnde Rolle verschwand in einem Modell, das in „das Soziale“ einerseits und „das Ökologische“ andererseits zerfällt. Man hört und liest immer, dass Berlin so „vielfältig“ sei. Und dann herrscht Schweigen – so als ob sich die Vielfalt von selber tragen würde. Dass eine Stadt nur leben kann, wenn sie Mensch und Natur in einem Dritten zusammenbringt, das produktiv und tragfähig ist, haben die tonangebenden politisch-medialen Milieus unserer Gegenwart völlig aus den Augen verloren. So auch in Berlin. Die deutsche Hauptstadt zehrt immer noch von den großen technischen Leistungen und Investitionen, die sie in länger zurückliegenden Jahrzehnten erbracht hat. In jenen Zeiten fanden Infrastrukturaufgaben und die Fachleute, die sie lösen konnten, Aufmerksamkeit und Respekt. Das heutige Gerede von „arm, aber sexy“, von der „Fahrrad-Hauptstadt Berlin“, von hoch subventionierten „start ups“ zeigt eine fundamentale Verschiebung bei den gesellschaftlichen Milieus, die die Entwicklung Berlins prägen. Die praktische Wissenschaft und Ingenieurkunst haben ihren Einfluss weitgehend verloren. Gewiss sind die Fachleute, die in einem bestimmten Bereich ein präzises und erprobtes Fachwissen haben, noch da. Aber dies Fachwissen ist fundamental entwertet, wenn eine „ganz neue“ Zukunft ausgerufen wird – von einer Führungsschicht, die nur in spekulativen und emotionalen „Erzählungen“ zu glänzen weiß. 

In einem Leitartikel, der gleichfalls in der „Berliner Zeitung“ (14.2.2023) erschienen ist, findet, spricht Harry Nutt von den „mittleren Ebenen der Kompetenz“ in der Berliner Stadtverwaltung, die „weitgehend entmündigt“ worden seien – was er der SPD unter dem Regierenden Bürgermeister Wowereit ankreidet, aber nicht nur ihr. „Ein Wandel muss her“ steht über dem Leitartikel. Der Autor plädiert ganz offensichtlich für eine strukturelle Rückbesinnung in der Regierungsweise der Stadt. 

Eine große Korrektur, die nur schrittweise durchzusetzen ist 

In den letzten Jahrzehnten sind in Berlin wichtige Errungenschaften und Fähigkeiten einer Großstadt verloren gegangen. Die große Stadt Berlin ist dadurch kleiner geworden – sie hat sich sozial und räumlich verengt. Diese Entwicklung hat sich so weit verfestigt, dass sie nicht in einem großen „Ruck“ korrigiert werden kann, sondern nur in einem allmählichen Prozess, bei dem kleine Schritte und Verschiebungen wertvoll sind – wenn sie erste fühlbare Verbesserungen bringen und wenn sie den Bürgern Orientierungspunkte für die weitere Entwicklung der Gesamtstadt bieten.  

Sowohl Dringlichkeit als auch Perspektive sprechen dafür, dass die CDU konstruktiv eine Koalition für einen Wechsel in der Stadtregierung sucht. Die Tatsache, dass CDU und SPD sich zu Koalitionsverhandlungen entschlossen haben, ist ein gutes Zeichen. Es ist eine Chance, dass sich die Berliner Politik weg von den großen „Stadtvisionen“ und hin zur Stadtrealität bewegt. Allerdings sollten CDU und SPD den Bürgern diese Koalition erklären: Sie ist eine Pflichtkoalition angesichts der prekären Lage Berlins. Es geht darum, eine weitere Verwahrlosung der Stadt aufzuhalten und ein elementares Funktionieren der Stadt sicherzustellen. Beide Parteien sollten sich davor hüten, diese Koalition großsprecherisch als „die Hauptstadt-Wende“ oder ähnliches zu verkaufen. Wir stehen erst am Anfang einer Rehabilitation der modernen Großstadt. Eine neue Stadtregierung sollte den Bürgern Zeit geben, um nüchterner und gründlicher über das Bewahren und Verändern in Berlin nachzudenken. Man muss hier ja auch bedenken, dass insgesamt in Deutschland noch die große Erzählung von der „Zeitenwende“ regiert. Die großen Städte im Lande müssen einen Großteil dieser Wende-Suppe auslöffeln und werden so in unhaltbare Zustände getrieben – siehe Energiewende, siehe Verkehrswende, siehe Massenmigration. 

Eine kämpferische große Koalition?

Grün verliert. Die Entzauberung dieser ganzen Denkrichtung wird sich fortsetzen. Aber man darf nicht erwarten, dass sich die Sozialschichten, die diese Richtung tragen, sich ändern. Man darf auch nicht darauf hoffen, dass sie aus den Städten verschwinden werden. Man muss damit rechnen, auf längere Zeit mit diesen geschworenen Feinden einer für alle Bürger funktionierenden Stadt zu tun zu haben. Schon jetzt ist in Berlin sichtbar, wie die verschiedensten Kräfte alles versuchen, um die Arbeit einer CDU-SPD-Stadtregierung zu lähmen. Sie wollen nicht abwarten und die Regierung erstmal ihre Arbeit aufnehmen lassen. Sie schaffen es nicht, die Bürger einmal selber auf den Gang der Dinge blicken zu lassen, sondern müssen sofort vorgeben, was man von der neuen Stadtregierung zu denken hat. Sie werden auch versuchen, ihre bisherige Politik einfach weiter durchzudrücken und ohne Rücksicht auf neue Mehrheiten in einer Grauzone Fakten zu schaffen. Hier hört meine eine Argumentation, die aufhorchen lässt: Eine andere Koalition als die bisherige sei in Berlin unmöglich, heißt es, weil „die Partei-Basis“ da nicht mitmachen würde. So, so. Eine „Partei-Basis“ soll also ausschlaggebend sein, damit eine Koalition, die nach dem Ergebnis der allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen möglich wäre, doch nicht möglich ist. Die Grünen sind ja sehr findig, wenn es darum geht, sich einen Souverän herbeizureden, der sozusagen „von Natur aus“ ihrer Sache zugeneigt ist. So wird bei grünen Projekten immer die „Zivilgesellschaft“ beschworen, die – im Unterschied zur Gesamtgesellschaft – exakt das träumt, was die Grünen auch träumen. Oder es ist von der „Stadtgesellschaft“ die Rede, die merkwürdigerweise nicht in den Teilen der Stadt wohnt, wo man CDU, FDP oder AFD wählt. Auch Franziska Giffey wird nun wohl aus der „Stadtgesellschaft“ ausgebürgert. Und wenn es zu Straßenblockaden kommt, gibt es den Ehrentitel des „Aktivisten“, für den der gute Zweck alle Mittel heiligt. Man sieht, die Rede von der „Parteibasis“ ist alles andere als unschuldig. Wer heute ihren Widerstand beschwört, wir morgen mit „sozialen Unruhen“ drohen, wenn eine Koalition von CDU und SPD ihre ersten Maßnahmen trifft.   

Eine große Koalition in Berlin wird also kämpfen müssen, aber mit Sorgfalt in der Rede und Beharrungsvermögen in der Sache.    

(erschienen am 25.2.2023 in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“, und am 13.3.2023 bei „Die Achse des Guten“)

Wo bleibt das Gewaltmonopol des Staates? 

Die Silvesterereignisse haben gezeigt, dass man sich auf der Straße nicht mehr auf den Schutz der Polizei verlassen kann. Die folgende „politische Debatte“ zeigte dann, dass die Regierenden diesen Schutz auch gar nicht mehr wollen. 

Wo bleibt das Gewaltmonopol des Staates? 

20. Januar 2023

Die Bilanz der vergangenen Silvesternacht ist verheerend.  Die zahlreichen Berichte, die inzwischen vorliegen, zeigen eine erschreckende Herrschaft der Gewalt. Ihr Schauplatz war der Straßenraum. Diese Gewalt zielte direkt auf Leib und Leben von Bürgern, Feuerwehr, Rettungskräften. Sie suchte das Duell mit den Polizeikräften, sie lockte sie in Hinterhalte und zwang sie oft auch zum Rückzug. Diese Gewalt hatte ihre eigene Organisation: Sie erfolgte aus der Deckung von Zusammenrottungen heraus und zog sich bei Bedarf wieder in ihren Schutz zurück. In bestimmten Teilgebieten unserer Großstädte war sie in der Lage, eine Übermacht herzustellen. Die Polizeikräfte wirkten demgegenüber oft wehrlos. Sie waren nicht mehr Herr der Lage, sondern Getriebene. Über dem ganzseitigen Bericht auf Seite 3 der „Berliner Zeitung“ am 2.Januar stand ein höhnisches Zitat aus den Reihen der neuen Machthaber: „Die Polizei hat hier nichts mehr zu melden“ Das Gewaltmonopol des Staates war in der deutschen Hauptstadt schwer angeschlagen.    

Aber noch verheerender als diese Bilanz der Silvesternacht ist die Bilanz ihrer „politischen Aufarbeitung“. Wer gedacht hatte, dass man sich nun ernsthaft mit der Niederlage befasste, die das Gewaltmonopol des Staates auf der Straße erlitten hatte, hatte sich getäuscht. Wer von den Regierenden hören wollte, welche Maßnahmen nun ergriffen werden, damit diese offene Wunde im Lande möglichst schnell geschlossen wird, ging leer aus. Denn anstatt zu fragen, welche Gegengewalt nun aufgeboten werden muss, damit der Straßenfriede wiederhergestellt wird, wurde eine spekulative Debatte eröffnet. Alle möglichen Psychologen und Soziologen beugten sich über die Täter und gaben vor, auf diese Weise sogenannte „tieferen Ursachen“ der Gewalt zu finden. Und mit dieser Ursachenforschung war ein kolossales Versprechen verbunden: Eine weitere Ausbaustufe von „Sozialarbeit“ könnte etwas leisten, was die Polizei und überhaupt das staatliche Gewaltmonopol niemals erreichen würde. Damit könnte die Gewalt nachhaltig aus der Welt geschaffen werden – indem die „Sozialarbeit“ eine Art Selbstbefriedung der Gesellschaft herbeiführt. Das Gewaltmonopol des Staates wäre also im Grunde überflüssig.   

Die Erfüllung der Schutzaufgabe wird verschoben 

Dabei verschwieg man freilich ein kleines hässliches Problem dieser Strategie. Sie hilft erstmal auf der Straße nicht weiter. Sie tastet die willkürliche Gewalt nicht dort an, wo sie nun einmal da ist Sie schlägt sie nicht auf derselben Straße zurück, auf der sie ausgeübt wird. Die Psycho- und Sozial-Strategie läuft darauf hinaus, dass die Bürger es erstmal hinnehmen müssen, dass sie auf der Straße nicht mehr sicher sind. „Erstmal“ sollen die Bürger solche Straßen halt meiden. Genauso sollen sie in der Nacht die Durchquerung einer städtischen Parkanlage oder die Benutzung bestimmter U-Bahnhöfe vermeiden. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung gilt also „erstmal“ nur noch eingeschränkt. Während die Regierenden über „die Jugendgewalt“ debattieren und optimistische Perspektiven ausmalen, bleibt ihre eigentliche Botschaft an die Bürger ungesagt: „Erstmal“ müsst ihr damit leben, dass Eure Freiheiten nicht mehr geschützt werden. 

Wehret den Anfängen 

Die Gewalt lässt sich nicht aus der Welt schaffen, insbesondere nicht in den Großstädten dieser Welt. Hier leben Menschen auf engem Raum zusammen, ohne dass es ein näheres Einander-Kennen und ein miteinander Vertraut-Sein gäbe. Die „solidarische Großstadt“ ist ein Trugbild, das als politisches Ziel nicht taugt. Umgekehrt ist aber auch die wehrlose Großstadt, die zwangsläufig zu einer neuen Barbarei führt, ein Trugbild. Die Tendenz zu Verwahrlosung und Gewalt muss nicht die Oberhand gewinnen. Ihre Macht kann eingehegt werden – wenn ihr rechtzeitig handfest begegnet wird. Das ist ein Eckstein moderner Großstadt-Politik. Die heute in Politik und Massenmedien dominierende Rede von „Urbanität“, will davon nichts mehr wissen. Sie singt das hohe Lied auf „Vielfalt“ und „Offenheit“ – und fällt dann aus allen Wolken, wenn Verwahrlosung und Gewalt auf einmal die Macht ergreifen. Wird der Kurs geändert? Nein, auch diesmal dauerte es nur ein paar Tage, bis die alten Utopie-Experten wieder die Mikrophone besetzten und zum x-ten Mal „ganz neue Ansätze“ der Psycho- und Sozialbetreuung in Aussicht stellten. Unterdessen geht das willkürliche Wuchern der Gewalt weiter. 

Das Gewaltmonopol des Staates muss operativ sein 

Heute hat sich in vielen Großstädten, nicht nur in Deutschland, ein soziales Gemisch gebildet, das in der Lage ist, bestimmte Territorien in Beschlag zu nehmen und punktuell eine Herrschaft der Gewalt zu errichten. Was bringt es da, sich nun über einzelne sozialen Gruppen oder Individuen zu beugen, und rückblickend zu erforschen, was sie auf diesen Weg gebracht hat. Es genügt ein realistisches Menschenbild, das skeptisch gegenüber der „Besserung“ des Menschen ist, und das davon ausgeht, dass die Gewalt-Drohung ganz einfach da ist. Und dass sie dort geschlagen werden muss, wo sie zur Tat schreitet. Das waren ja die ersten, intuitiv richtigen Fragen nach den Silvester-Ereignissen: Wie kommt man aus der ohnmächtigen Lage heraus, in der sich Bürger, Feuerwehr, Rettungskräfte im Angesicht der Gewalt befanden? Wie wird insbesondere die Schwäche der Polizeikräfte auf der Straße überwunden? 

Da ist ja die Schlüsselsituation, ohne deren Bewältigung jegliche Einhegung der Gewalt eine Illusion bleibt. Zu Recht wird gefordert, dass es harte Strafen für die Täter geben muss, und dass die Bestrafung schnell erfolgen muss. Aber damit ist noch nicht die Straße befriedet. Wenn das staatliche Gewaltmonopol nicht nur eine Theorie sein soll, sondern ein praktisch wirksames Dispositiv, müssen die Täter schon im Moment der Tat den Gegenschlag des Staates spüren. Gewiss kann der Staat nicht gleichzeitig überall sein. Aber er muss dort, wo er eingreift, in der Lage sein, den Angriff der Gewalt zurückzuschlagen und die Täter unschädlich zu machen. Zu Recht wird gefordert, Polizeibeamte mit Kameras am Körper auszurüsten, um Straftaten und Täter zu identifizieren. Aber in der Silvesternacht wurden Polizei und Rettungskräfte aus der Menge heraus mit Distanzwaffen angegriffen – mit Steinen, Molotow-Cocktails, Pyrotechnik und wohl auch mit Schusswaffen. Mehrfach waren Polizeikräfte gezwungen, sich vor einem Mob zurückziehen, der offenbar auch vor Angriffen auf das Leben der Beamten nicht zurückscheute. Da helfen die Body-Cams wenig. 

Lösungsvorschläge, die um den heißen Brei herumtappen 

Man muss sich immer wieder die dramatischen Berichte und Bilder vor Augen führen, die unmittelbar im Anschluss an die Silvesternacht zirkulierten, zum Beispiel beim Berlin-Brandenburgischen Sender BBR. Aber nicht nur in der deutschen Hauptstadt fanden solche Auseinandersetzungen statt, für die die Bezeichnung „Kampf um die Macht“ nicht übertrieben ist. In einem Bericht der FAZ vom 2. Januar wird aus Bochum berichtet:

„In Bochum wurden Polizisten von rund 300 Personen eingekesselt und unter anderem mit illegalen `Polenböllern´ beworfen. Es grenze an ein Wunder, dass niemand zu Schaden gekommen sei, sagte ein Polizeisprechen. Die Polizisten hatten zuvor einem 26 Jahre alten Mann und einem 17 Jahre alten Jugendlichen eine Waffe abgenommen, mit der diese zuvor Feuerwerkskörper auf Passanten abgefeuert haben sollen. Danach wurden die Beamten von der Menge umzingelt.“ (FAZ, 2.1.2023)

Sicher gibt es polizeiintern eine Diskussion über die prekäre Situation der Polizei angesichts der wuchernden Straßengewalt. Sicher kommen dabei auch die Bewaffnung und der Waffengebrauch der Polizei zur Sprache. In der Öffentlichkeit ist das noch ein Tabu-Thema. Es wäre schon viel gewonnen, wenn das anders würde. Der Rechtsstaat kann nur bestehen, wenn er sich gegen jede Tendenz zur Ausbreitung willkürlicher Gewalt wendet. Dazu muss er selber zu einer Gewalt werden. Das Gewaltmonopol des Staates wird zwar hier und da in Worten beschworen. Aber es ist gegenwärtig offenbar nicht hinreichend operativ. Die konkreten Maßnahmen, die sich daraus ergeben, werden nicht benannt. Die Lösungsvorschläge tappen um den heißen Brei herum. 

Eine Politik ohne Staat? 

Ja, dieser Beitrag ist eine Forderung nach „mehr Staat“. Die Vorstellung, alle Probleme dieser Welt könnten durch die Selbsttätigkeit „der Gesellschaft“ (oder neudeutsch: „der Zivilgesellschaft“) gelöst werden, führt in die Irre. So sind wir heute auf dem Weg zu einer Politik ohne Staat, bei der die Politiker vor allem in den Medien unterwegs sind und alles Mögliche „fordern“ – so als hätten sie gar kein Regierungsamt und keine Verantwortung für Maßnahmen. Politik ist dann nur noch eine Art „Gesellschaftsbegleitung“, bei der es darauf ankommt, die jeweiligen Trends aufzugreifen und nirgendwo anzuecken. Eine solche Politik kennt keine festen Rechtsbestände mehr, und keine festen Sach- und Wissensbestände mehr. Sie regiert das Land ohne bestimmte fachliche Qualifikation. Sie kennt keine Bilanzpflicht für ihre Entscheidungen. Stattdessen erklärt sie, zu einer „ganz neuen“ Zukunft unterwegs zu sein – und der größte Schuldenberg wird im Handumdrehen zur „Zukunftsinvestition“. Eine solche Politik ohne Staat ist deshalb auch eine wuchernde Politik. So hat man auch die Silvester-Gewalt auf das weite Feld der „Jugendprobleme“ geleitet – als würde man dadurch der Einhegung der Gewalt auch nur einen Flohsprung näherkommen.

Das Beharren auf dem Gewaltmonopol des Staates ist demgegenüber eine ziemlich harte Lösung, und sie liegt in den Händen einer von der Gesellschaft „abgehobenen“ Institution, der Polizei. Aus der Sicht unserer Gesellschafts-Moderatoren ist das ein ziemlich unfreundlicher Vorschlag. Er hat allerdings einen Vorzug: Er grenzt das Gewalt-Problem sachlich ein und bearbeitet es direkt also solches. Hier geht es um eine Vorne-Verteidigung. Die Lösung „Gewaltmonopol“ versucht nicht, die Persönlichkeit der Beteiligten in ihrer ganzen Tiefe zu beeinflussen. Sie will nicht ihr ganzes Verhalten und Denken ändern. Diese Gewalt ist keine erziehende Gewalt. Auch keine ächtende Gewalt, die den Stab über ganze Menschen oder Menschengruppen bricht. Sie befasst sich nicht mit Biographien, mit Herkunft, Geschlecht, Alter. Sie gilt nur einem bestimmten, vorliegenden Tatbestand. Das Gewaltmonopol des Staates wird ohne Ansehen der Personen ausgeübt. Aber es wird wirklich und sichtbar ausgeübt. Es wird nicht durch einen Schein der Fürsorglichkeit verdeckt. Es ist nicht verhandelbar. Dies Monopol verlangt keine Bekenntnisse. Es tabuisiert nicht bestimmte Worte. Es bringt Andersdenkende nicht zum Schweigen. Es zerstört keine Denkmäler. Es löscht keine historischen Straßennamen.  

Indem das Monopol des Staates prosaischer und äußerlicher Gebrauch von der Gewalt macht, begrenzt es sie. Nur in Händen des Staates kann diese Verwandlung der Gewalt geschehen. Jede „Rückverteilung“ der Gewalt an die Gesellschaft ist ein Irrweg, der in den Krieg aller gegen alle führt.    

(erschienen am 26.1.2023 in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick online“)

Die eigene Größe des Sports  

Deutschland ist sang- und klanglos bei der Fußball-WM ausgeschieden, und niemand hat ihm eine Träne nachgeweint. Die Krise unseres Landes ist auch eine Sportkrise.  

Die eigene Größe des Sports  

Gerd Held, 20. Dezember 2022

Es ist noch gar nicht so lange her, da begeisterte eine deutsche Fußball-Nationalmannschaft in einem internationalen Turnier und schaffte es bis ins Finale. Ja, das geschah im Juli 2022 in England bei der Europameisterschaft der Frauen. Was war es eigentlich, das bei dieser Mannschaft so begeisterte? War es nur das Resultat, also das Erringen der Vize-Europameisterschaft? War es eine Überlegenheit, die clever ausgespielt wurde? Mitnichten. Diese Frauen-Nationalmannschaft war keine Übermannschaft. Sie hatte gleichwertige Gegner. Sie musste in den Spielen Phasen überstehen, in denen die Gegner ihr hart zusetzten und Niederlagen drohten. Aber diese Mannschaft hielt dagegen. Sie warf ihre Kräfte wirklich in den Kampf. Und sie war auch torgefährlich, denn sie hatte den Mut, vor dem Tor direkt draufzuhalten, ohne lange zu fackeln und den Ball nur hin und herzuschieben – man denke nur an die Kopfball-Tore von Alexandra “Poppy“ Popp, Und es war nicht nur einzelne Spielerinnen, die mit ihrem Einsatz erstaunten und die Zuschauer mitrissen. Es war die ganze Mannschaft – im Sturm, in der Abwehr und im Mittelfeld. So eine National-Mannschaft hatten wir im deutschen Fußball – ob bei Männern oder Frauen – in den letzten Jahren bitter vermisst. Doch in diesem Sommer war sie da. Und noch ein Merkmal soll hier nicht unerwähnt bleiben: Die Auftritte dieser Nationalmannschaft kamen ganz ohne politische Mission aus. Ohne Armbinden-Protest. Ohne Distanzierung vom Gastland. Keine sportfremde Agenda wurde den Spielerinnen aufgedrückt. Sie haben sich ihr Ansehen in einer strikt sportlichen Arena erworben.       

Qatar: Ein gutes Fußball-Turnier, ein peinlicher deutscher Auftritt

Wie peinlich fällt dagegen die sportliche Bilanz des deutschen Auftritts bei der Fußball-WM in Qatar aus. Das Turnier begann mit einer Niederlage gegen Japan. „Ich glaube, es ist noch nie ein einfacheres Tor bei einer Weltmeisterschaft erzielt worden.“ sagte der Mittelfeldspieler Ilkay Gündogan nach dem Spiel. Er meinte das Tor, das zum 2:1 für Japan führte und die deutsche Niederlage besiegelte. Man muss sich die Situation vorstellen: Die deutsche Mannschaft führte lange Zeit mit 1:0 und wähnte sich überlegen. Dann hatten die Japaner plötzlich den 1:1-Ausgleich erzielt. Eine Niederlage drohte und wäre zur Hypothek für das ganze Turnier geworden. In einer solchen Situation kann eine intakte Mannschaft den Hebel umlegen. Sie versucht, mit hoher Konzentration und robustem Einsatz das Ruder herumzureißen. Aber die deutsche Nationalelf hatte diese sportliche Qualität nicht. Sie ergab sich beinahe kampflos. Man hatte den Eindruck, dass sie sich gar nicht zusammen auf das Geschehen auf dem Platz fokussieren konnte. Es gab kein „hier und jetzt“. Sie ließ die Dinge weitertreiben. Gündogans Kritik trifft diesen Punkt. Auch Bastian Schweinsteiger, der das Spiel mit kommentierte, unterstrich die völlig fehlende Gegenwehr, als die Japaner ihren Druck auf das deutsche Tor erhöhten. „Es ist enttäuschend, dass wir so ein Spiel verlieren. Aber es zeigt auch, wo wir stehen. Die Fehler, die wir heute gesehen haben, sind kein Zufall. Die hatten wir auch in den anderen Spielen.“ Auch im Sturm fehlte die Entschlossenheit, bei kleineren Öffnungen den Weg zum Tor zu suchen und draufzuhalten. Stattdessen wurde der Ball immer wieder hin und hergeschoben, wohl in der Erwartung, durch solches Kalkulieren eine noch bessere – sprich widerstandsfreie – Situation zu bekommen. Das ist eine falsche – im Grunde arrogante – Erwartung in einem Weltmeisterschafts-Turnier. Eigentlich passt sie überhaupt nicht zum Charakter des Fußballs: Das Spiel wird nicht im Kopf entschieden, sondern auf dem Platz – in jenen umkämpften Situationen, im Nahbereich auf Meter und Zentimeter, wo Widerstände überwunden werden müssen und ein unübersichtliches, überraschendes Geschehen zur Normalität gehört. Es sind diese offenen, antagonistischen Situationen, die den Reiz des Fußballs – und überhaupt des Sports – ausmachen.  Die weitere Entwicklung des deutschen WM-Auftritts in Qatar ist bekannt. Unser Land schied ohne größere Gegenwehr schon in der Vorrunde aus. Die Nationalelf war nicht in der Lage, das Ruder herumzureißen. Eine andere Mannschaft, die auch ihr Auftaktspiel verlor (gegen Saudi-Arabien), gelang das – auch in mancher Drucksituation in den folgenden Spielen. Sie wurde Weltmeister: Argentinien.  

Eine sportliche Krise 

Das Problem ist nicht neu. Es ist in den vergangenen Jahren im deutschen Fußball immer wieder aufgetreten – bei der Nationalmannschaft und bei prominenten Vereinsmannschaften. Es geht nicht einfach um „Fehler“, sondern um eine Entfremdung von wesentlichen Eigenschaften des Fußballs, vielleicht des Sports überhaupt. Es ist ja unübersehbar, dass der deutsche Sport in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten einen Rangverlust in der Welt erfahren hat. Daran hat ein erhöhter Aufwand an Beratern, Psychologen, Teammanagern etc. nichts ändern können. Die verbale Betreuung wurde ausgebaut, aber die Erwartung, dass daraus stärkere Sportler mit größerer Einsatzbereitschaft erwachsen würden, erwies sich als trügerisch. So ist das Umfeld des Sports über die Jahre ständig gewachsen, aber der innere Kern der Sportkrise wurde gar nicht berührt. Das Umfeld war nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.   

Ein Disput zwischen Bastian Schweinsteiger und Hansi Flick kann das verdeutlichen. „Wo bleibt das Brennen? Wo ist das Feuer, die Gier?“ hatte Schweinsteiger nach dem Japan-Spiel gefragt und diesen Zustand der Mannschaft bitter vermisst. „Das ist absoluter Quatsch“, hat Flick darauf geantwortet. Die Mannschaft habe Fehler gemacht, aber er sehe nicht, dass die Mannschaft nicht brenne: „Sie hat gewollt“. Der Bundestrainer merkt offenbar gar nicht, dass er auf Schweinsteigers Frage gar nicht geantwortet hat. Denn das „Brennen“, von dem der frühere Kapitän der Nationalmannschaft spricht, ist keine Frage des Wollens oder Wissens.  Es geht hier nicht um eine „Einstellung“, die die Spieler sich im Kopf zusammenschrauben, um sie dann auf dem Platz „umzusetzen“. Brennen ist ein Zustand, den man mitbringt. Dieser Zustand geht durch einen ganzen Spieler und eine ganze Mannschaft hindurch. Die geistige Aufgabe besteht dabei darin, allzu komplizierte Erwägungen, die von der Fokussierung auf das Spielgeschehen und die Auseinandersetzung mit dem Gegner ablenken, wegzuräumen. Das Nächstliegende muss freigelegt werden: Das nächste Spiel, der nächste Spielzug, die nächsten Meter und Zentimeter auf dem Platz. Athleten sprechen hier oft vom „Tunnelblick“, der erforderlich ist, um in ihrer Disziplin etwas zu erreichen. 

Eine politische Krise 

Beim kurzen Auftritt in Qatar hatte man den Eindruck, dass die Nationalmannschaft gar nicht wirklich auf dem Platz stand. Das ganze Turnier schien ihr von Anfang an fremd zu sein, und das blieb es auch. Und hier ist nicht nur eine sportliche Krise im Spiel, sondern auch eine politische Krise. Denn die Nationalelf wurde in eine schändliche Rolle getrieben: in eine Feindschaft zum Weltfußballverband FIFA und in eine Feindschaft zum Gastgeberland Qatar. Der Sport wurde für politische Zwecke instrumentalisiert. In einem Artikel von Michael Horeni in der FAZ (5.12.2022) finden sich dazu überraschend kritische Aussagen: 

„Das begann mit der irrigen und vom neuen DFB-Präsidenten Bernd Neuendorf befeuerten Vorstellung, die Nationalelf in Qatar als gesellschaftspolitische Speerspitze positionieren zu können. Dass das vorrangige Interesse des DFB-Präsidenten der Politik und der Sportpolitik gilt, und nicht dem Fußball, ist für den größten Fußballverband der Welt schon keine Auszeichnung. Als schwerwiegender erweist sich aber die Tatsache, dass auch der ehemalige Kapitän der Nationalelf (gemeint ist Oliver Bierhoff, GH) in den Querelen um die `One Love´-Binde nicht erkannte, wann der Sport bei einer WM an erster Stelle zu stehen hat. Zumal wenn sich, wie die ARD berichtet, nur zwei Spieler (Neuer, Goretzka) für die `Mund halten´-Geste vor dem Spiel gegen Japan ausgesprochen haben sollen. Der Rest der Mannschaft wollte demnach die Dinge auf sich beruhen lassen, wie die anderen Nationalteams. Und sich auf Fußball konzentrierten.“

Solche Sätze hätte man gerne schon im Vorfeld des Turniers gelesen, aber der Sportteil der FAZ – wie der Mainstream des Sportjournalismus in Deutschland – sah Wochen und Monate lang seine Aufgabe darin, die FIFA und das Gastgeberland auf die Anklagebank zu setzen. 

Der Moral-Weltmeister 

Wer wird das Bild vergessen, wie sich die deutsche Innenministerin beim Japan-Spiel auf der Ehrentribüne mit demonstrativem Desinteresse auf ihrem Sessel herumflegelte? Sie stellte – ebenso taktlos wie risikolos – die `One Love´-Binde zur Schau. Die Regierungsvertreter des Qatar und sehr viele Zuschauer im Stadion oder am Bildschirm haben das als Affront empfunden. Zu Recht, denn das Tragen der Binde auf der Eröffnungsfeier sollte eine Anprangerung von angeblich schlimmen Zuständen im Gastgeber-Land sein. Zustände, die man bei wirtschaftlichen Beziehungen stillschweigend hinnimmt oder sogar benutzt, wie die gebaute Infrastruktur. Dann ist oft das (richtige) Argument zu hören, das Veränderungen nur allmählich erfolgen könnten und auch erfolgen würden. Warum sollte dies „allmählich“ nicht ebenso gelten, wenn eine internationale Sportveranstaltung an ein Land wie Qatar vergeben wird? In diesem Sinn hat die FIFA die WM-Vergabe begründet und in diesem Sinn ist das Turnier dann auch wirklich von einer großen Mehrheit der nationalen Fussballverbände unterstützt worden. Auch nach dem Ende der WM wird diese Entscheidung in weiten Teilen der Welt als positiv angesehen.  

Der FIFA-Präsident hat sehr richtig unterstrichen, dass der Weltfußballverband etwas Universales sei: „Wir müssen Themen finden, mit denen sich jeder einverstanden zeigt.“ Damit denkt er weiter als die deutsche Innenministerin. Auch weiter als der FAZ-Sportjournalist Christian Kamp, der scheinheilig fragt: „Das symbolträchtige Farbspektrum der LGBTQ-Gemeinschaft ist also nicht universal?“ (FAZ, 21.11.2022) Natürlich ist das „Farbspektrum“ nicht universal. Es ist das Markenzeichen einer bestimmten „Community“, die für ihre besonderen sexuellen Präferenzen wirbt. Damit ist sie keineswegs Repräsentant „der“ Menschenrechte in ihrer Allgemeinheit. Wenn sich diese Community als eine Art Prüfstein für die Menschenrechts-Lage in jedem Land darstellt, ist das eine Anmaßung. Eine törichte Anmaßung, denn ein solcher Prüfstein erhöht die Eintrittsschwelle. Viele weltweite Veranstaltungen verdanken ihre Offenheit ihren jeweiligen, einzelnen Berührungspunkten, ob es nun um Musik, Malerei, Theater, Mode, Literatur, um eine wissenschaftliche Disziplin oder um eine technische Branche geht. Durch diese Berührungspunkte leisten die Veranstaltungen schon sehr viel für einen freiheitlichen Zusammenhalt unterschiedlicher Menschen und Völker. Würde die Teilnahme an solchen Weltveranstaltungen zusätzlich von Erfüllung bestimmter „Werte“ abhängig gemacht, würden sie schnell zum exklusiven „Klub“. Viele kostbare Begegnungen und Erfahrungen kämen gar nicht erst zustande. 

Die Bundesregierung und der DFB haben sich in dieser Frage, auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, besonders verbohrt verhalten. Dadurch haben sie unser Land in eine unselige Isolation gebracht. Die Folgen wird der deutsche Sport nicht so leicht wieder loswerden. Das gilt auch für den Ruf Deutschlands als Gastgeberland. Denken wir zurück an die wunderbare Stimmung im Jahr 2006, als Deutschland Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft war. Das war ein reales „Sommermärchen“, mit viel Großzügigkeit und zugleich mit viel Schwarz-Rot-Gold. Auch mit einer begeisternd kämpfenden Nationalelf. Wie bitter schmeckt heute diese Erinnerung. Wie fern von alledem sind die deutschen Zustände im Jahr 2022. 

Der Weltfußball rollt weiter 

Qatar hat gezeigt, dass die Fundamental-Kritik an der FIFA ins Abseits führt. Also heraus aus dem Schmollwinkel und noch einmal genauer auf die sportliche Seite der Qatar-WM geschaut. Hier hat sich ein interessantes Turnier entwickelt – mit vielen faszinierenden Momenten, mit aufsteigenden Fußballnationen und mit etablierten Nationalmannschaften, die sich zu behaupten wussten. Man konnte Veränderungen in der Spielweise beobachten: Weniger Ballbesitz-Fußball und mehr schnelles Umschalten zwischen Abwehr und Angriff. Mehr Zweikampf-Situationen als Ball-Geschiebe. Mehr Mut vor dem Tor, auch wenn mancher Versuch natürlich schiefging. Mehr Dagegenhalten in der Abwehr. Dabei war das Turnier ein relativ faires Turnier. Die Verlegung der WM in einen anderen Kulturkreis hat nicht dazu geführt, dass es mehr Gehässigkeiten (oder mehr Gleichgültigkeit) gegeben hat. Der ungewohnte Austragungsort hat weder zu größeren Gesundheitsproblemen geführt, noch tat er der Begeisterung für den Fußball Abbruch. Was war in dieser Hinsicht nicht alles prophezeit worden! Aber in Qatar traten die sportlichen Dinge in den Vordergrund, und auch deutsche Kommentatoren ließen sich davon inspirieren. Bastian Schweinsteiger konnte als Experte für die ARD sehr detailliert die Besonderheiten einer Spielszene und die Veränderungen in der Spielanlage einer Mannschaft darstellen. „Ich empfinde es als Geschenk, als Reporter hier dabei sein zu dürfen“ sagte er schon beim spannenden Achtelfinale zwischen Argentinien gegen Australien. Das war seine Antwort auf den peinlichen Auftritt und Abgang des deutschen Fußballs.  

Den Eigenwert des Sports rehabilitieren 

Um die Krise des deutschen Fußballs, die seit dieser WM nicht mehr ignoriert werden kann, zu überwinden, reicht es nicht, seine politische Instrumentalisierung zu kritisieren. Der Sport selber muss eine neue innere Stärke gewinnen. Er muss seine Eigenheit und seinen wichtigen Beitrag für dies Land wiederentdecken. Er ist nicht bloß ein „Thema“ und ein Lieferant von „Erzählungen“, sondern ein Ort gesteigerter physischer Präsenz und Bewährung. Über Fußball wird viel geredet und der beschlossene „Expertenrat“ wird dem auch nur mehr Text hinzufügen. Das wird aber nicht dazu führen, dass eine Konzentration auf die „Wahrheit auf dem Platz“ stattfindet. Es wird nicht dazu führen, dass mehr junge Leute Fußball spielen und das Reservoir an Talenten im Inland größer wird. Fußball gehört ja nicht zu den Dingen, die in der Mitte unserer Gesellschaft besonders hoch in Kurs stehen. In einem Land, das von den höheren Bildungsschichten dominiert wird, kann der Sport keine große kulturelle Prägekraft haben. Das konnte man sehr praktisch erfahren, als während der Corona-Epidemie alle möglichen Aktivitäten als „kritische Infrastruktur“ unterstützt wurden, aber der Sport (mit dem großen Unterbau der Sportvereine) übergangen wurde. 

Man kann die tiefe Sportferne des heutigen Deutschlands auch an den Bildwelten erkennen, die das öffentliche Leben prägen. Wir leben in einem Land, in dem man ohne Ende mit Bildern gefüttert wird, auf denen Leute irgendetwas in Mikrophone labern und sich mit wichtigen Gesichtern Mahnreden anhören, auf denen ständig irgendeine Gruppenbesprechung stattfindet und auch abends noch auf „Talkshows“ herumgeredet wird. Bei einer Fußball-Übertragung wird man erst eine Dreiviertel-Stunde lang zugetextet, bevor das Spiel angepfiffen wird. In so einer Welt kann der Sport nur als etwas Sekundäres erscheinen, und mit ihm überhaupt die Bedeutung physischer Präsenz. Um die Intensität der sportlichen Situation zu erfahren und ihren Wert ermessen zu können, braucht es Nähe und aktive Teilnahme. Auch das Bild – man denke an die Intensität von Nahaufnahmen und Zeitlupen – kann hier oft mehr vermitteln als ein Text. In den 1950er und 1960er Jahren war die „Sportillustrierte“ ein Blatt, das vielen jungen Leuten Vorbilder geliefert hat.

Wem also wirklich der Sport am Herzen liegt, der wird der verbreiteten Kritik an der FIFA oder an großen Sportereignissen misstrauen. Wollen die Kritiker wirklich besseren Sport? Aber warum lehnen die gleichen Leute dann Olympische Spiele in Hamburg, München oder Berlin ab? Sie können auffällig wenig zur Eigenart und zum Wert des sportlichen Wettkampfes sagen. Viele Nationen dieser Welt sind gerade dabei, den Sport für sich zu entdecken. Doch in Deutschland herrscht der fromme Glaube, wir könnten allein durch die richtigen Worte satt werden und uns bewähren.  

Die verlorene Unschuld der „Klimarettung“ 

Klebe-Straßenblockaden können Menschenleben gefährden. Sie sind ein Angriff auf kritische Infrastrukturen dieses Landes. Sie sind ein Mittel, um direkt ein bestimmtes Regierungshandeln zu erzwingen. Demokratische Entscheidungsfreiheit erkennt die Gruppe „Letzte Generation“ nicht mehr an.     

Die verlorene Unschuld der „Klimarettung“ 

Gerd Held, 8. November 2022

Am 31. Oktober ist es durch eine Klebe-Straßenblockade der Gruppe „Letzte Generation“ dazu gekommen, dass der schwere Bergungs-LKW der Feuerwehr nicht schnellstmöglich bei einem schwerverletzten, eingeklemmten Unfallopfer sein konnte. Eine Bergung des Opfers, einer Radfahrerin, gelang dann ohne schweres Hebegerät, doch verstarb die Frau später im Krankenhaus. Es ist kaum bestreitbar, dass die Straßenblockade der „Klimaaktivisten“ eine Mitschuld an diesem grässlichen Todesfall trifft. Klebe-Straßenblockaden, die sich nicht sofort aufheben lassen, sondern eine Straße für längere Zeit unbrauchbar machen, gehören ausdrücklich zur Strategie der Gruppe „Letzte Generation“. Auf die Gefahr dieses Straßenkampfs für die Rettungs-Infrastruktur der Stadt hatten Fachleute frühzeitig hingewiesen. Die Gruppe hat diese Warnungen ignoriert und ist auch nach dem Geschehen am 31. Oktober nicht bereit, ihre Blockaden zu beenden. Hier steht ein Machtanspruch im Raum, der auch Todesopfer in Kauf nimmt. Dies Datum wird im kollektiven Gedächtnis Berlins haften bleiben – als Tag, an dem die sogenannte „Klimarettung“ ihr totalitäres Potential zeigte. 

Was die Gruppe „Letzte Generation“ zu dem Geschehen sagt

Carla Hinrichs, Sprecherin der Gruppe „Letzte Generation“, verschickte am 31. Oktober eine Erklärung, in der es heißt (siehe Berliner Zeitung vom 1.11.2022):   

„Es bestürzt uns, dass heute eine Radfahrerin von einem LKW verletzt wurde. Wir hoffen inständig, dass sich ihr Gesundheitszustand durch die Verspätung nicht verschlimmert hat. Bei all unseren Protestaktionen ist das oberste Gebot, die Sicherheit aller teilnehmenden Menschen zu gewährleisten.“

Diese Sätze sollte man genau lesen. Bestürzt ist die Gruppe nur darüber, dass „ein LKW“ eine Radfahrerin verletzt hat. Sie spricht von einer Hoffnung, dass sich der „Gesundheitszustand“ der Radfahrerin „durch die Verspätung nicht verschlimmert“ hat. Der Vorgang wird so hingebogen, dass die Straßenblockade möglicherweise gar keine verschlimmernde Folge hatte. Und um jegliche Schuld aus der Welt zu räumen, denkt sich Hinrichs noch eine Formel aus: Es sei bei den Aktionen der Gruppe das oberste Gebot, die Sicherheit „aller teilnehmenden Menschen“ zu gewährleisten. „Oberstes Gebot“ hört sich sehr moralisch an. Doch sind keineswegs alle von der Blockade betroffenen Menschen „teilnehmende Menschen“. Die blockierten Menschen und die Menschen, die irgendwo im angrenzenden Stadtgebiet vielleicht dringend auf Rettungskräfte warten, kommen in dem „obersten Gebot“ gar nicht vor. In der Erklärung von Hinrichs heißt es auch, dass die Gruppe „Letzte Generation“ bei ihren Straßenblockaden sorgfältig auf das Einhalten von Rettungsgassen achte. Das ist eine Verhöhnung der Berliner. Denn jeder, der sich in dieser Stadt auf der Straße bewegt – mit privaten oder öffentlichen Verkehrsmitteln – weiß, dass es völlig ausgeschlossen ist, vom Ort eines Verkehrshindernisses aus im ganzen Stauraum rückwärts die Einhaltung von Rettungsgassen zu gewährleisten. An vielen Stellen ist auch gar kein Platz für die Bildung einer Rettungsgasse.  

Die Errichtung einer Zwangsgewalt

In der Berichterstattung über die Vorgänge in Berlin wird immer wieder, bedenkenlos und gedankenlos, der Begriff „Protestaktion“ verwendet. Die Blockaden wichtiger Straßen der Hauptstadt wären demnach einfach „Demonstrationen“, die “Aufmerksamkeit“ erreichen wollten. Sie seien also im Grund nur Redebeiträge, die Einfluss auf die Meinungsbildung ausüben wollen. Auch hier lohnt es sich, genau hinzusehen. Das Kampfmittel dieser Gruppe besteht darin, sich auf einer verkehrswichtigen und verkehrsreichen Straße festzukleben. Sie fixieren sich so auf der Fahrbahn, dass sie nicht leicht zu entfernen sind. Bei der „Klebe-Blockade“ handelt es sich also nicht um eine vorübergehende Beanspruchung des Straßenraums, wie sie durch eine Demonstration – gedeckt durch das Demonstrationsrecht – geschieht. Nein, es geht hier um physische Gewalt, die den Straßenraum für andere Zwecke unbrauchbar macht. Es geht nicht um ein Zeigen, sondern um ein Zwingen. Das „Kleben“ ist also kein harmloses Symbol eigenen Engagements, sondern die Ausübung physischer Gewalt gegen Andere. Es ist extra darauf angelegt, dass die Blockade nicht leicht wieder beseitigt werden kann. Eine Straße soll für längere Zeit unpassierbar gemacht werden. Große, langandauernde Staus sollen entstehen. Sie sind nicht nur ein beiläufiger Nebeneffekt der Aktionen, sondern ihr Hauptzweck. Nur dadurch entsteht ja der Druck, den die Gruppe „Letzte Generation“ beim normalen Demonstrieren und Protestieren vermisst. Das nennt man Nötigung. 

Die Aktionen richten sich gegen Gemeingüter

Man ist zunächst geneigt, hier eine privatrechtliche Auseinandersetzung zu sehen: eine Nötigung von Autofahrern durch Klimakämpfer. Eine Nötigung von einzelnen Bürgern durch andere Einzelbürger. Entsprechend wurde vorgeschlagen, ein Portal aufzubauen, dass es Geschädigten erleichtert, ihre Schadensfälle vor Gericht zu bringen. Das ist sicher nicht falsch, aber es verfehlt das viel größere Gut, um das es hier geht. Der Straßenraum ist kein Privateigentum von einzelnen Nutzern und Nutzergruppen. Er ist eine öffentliche materiell-technische Infrastruktur. Damit ist er ein Gemeingut. Dies Gut darf nicht für einzelne Zwecke, die andere Zwecke ausschließen, in Beschlag genommen werden. 

Das Straßensystem einer Großstadt, und insbesondere seine Verbindungsachsen ersten und zweiten Ranges sind sensible, kritische Teile des Verkehrssystems. Von ihrer Tragfähigkeit hängen die Versorgungsleistung und die Produktivität einer Stadt (und ihres Umlandes) ab. Dazu gehört auch die Leistungsfähigkeit des Gesundheits- und Bildungswesens. Ebenso das kulturelle Leben und die Möglichkeit der Bürger, sich als Publikum zu versammeln. Die Klebe-Blockaden stellen also einen Anschlag auf Gemeingüter einer Stadt dar – einen Anschlag auf unser Gemeinwesen. 

Das Gemeingut des Straßensystems hat noch eine Dimension, die durch die Ereignisse am diesem 31. Oktober 2022 deutlich geworden sind. An der ständigen Durchlässigkeit des Straßensystems hängt das Rettungssystem einer Großstadt – im Fall von Unfällen, medizinischen Notfällen, Bränden, Unwettern, Terroranschlägen. Die Stationierung der Rettungskräfte – insbesondere der Feuerwehr und der Notrettung – ist so organisiert, dass die Zeit, die es dauert, bis ein Einsatzwagen an einem Einsatzort ist, auf die Minute kalkuliert ist. Stellt man Lücken in diesem Raum-Zeit-Netz fest, wird nachjustiert. Fast jede große Stadt hat schon kritische Diskussionen erlebt, wenn eine Verschlechterung der Anfahrtszeiten zu beobachten war. Deshalb gab es auch sofort, als die Klebeaktionen der Gruppe „Letzte Generation“ begannen, Warnungen von Fachleuten. Die Gruppe hat die Warnungen in den Wind geschlagen, aber auch Politik und Medien glaubten, sie auf die leichte Schulter nehmen zu können. Nun ist der Ernstfall da, und diesmal ist dabei ein weitreichender Machtanspruch im Spiel.    

Ein unverhohlener Machtanspruch

Der materielle Eingriff in den Betrieb und das Alltagsleben der deutschen Hauptstadt, den die Gruppe „Letzte Generation“ als Kampfmittel einsetzt und auch weiterhin einsetzen will, hat Folgen: Indem immer wieder an wechselnden Orten Chaos produziert wird, wird ein Klima der Unsicherheit geschaffen. Jeder Bürger, der ins Auto oder den Bus steigt, muss mit der Möglichkeit rechnen, in einen Blockade-Falle zu geraten. So wird – durchaus mit Absicht – eine Stimmung der Hilflosigkeit erzeugt. Die Gruppe „Letzte Generation“ macht die Stadt-Gesellschaft zu Geiseln ihrer Zwecke. Und sie erhebt ganz unverhohlen einen Machtanspruch.  Sie will direkt ein bestimmtes Handeln von Regierung und Parlament erzwingen. 

Das ist jetzt auch aktenkundig: Angesichts der Vorgänge am 31.Oktober gab Aimée van Baalen, gleichfalls Sprecherin der Gruppe „Letzte Generation“, ein Statement ab (siehe der Berliner „Tagesspiegel“ vom 1.11.2022). Ich zitiere die ganze Passage, die die Zeitung dem van-Baalen-Statement widmet:

„Man unterbreche mit den Blockaden den Alltag nicht leichtfertig, sagte Aimée van Baalen, ebenfalls Sprecherin der Gruppe, laut einer Mitteilung. `Wir haben uns für dies Mittel des Protests entschieden, da alle zuvor gelagerten Mittel wie Demonstrationen und Petitionen nicht den notwendigen Erfolg gebracht haben.´ Sobald die Regierung erste Maßnahmen gegen den drohenden `Klimakollaps´ ergreife, werde man alle Protestaktionen sofort beenden, hieß es weiter.“

Damit wird ganz unverhohlen gesagt, dass die Gruppe ihre Aktionen erst beendet, wenn die Regierung „erste Maßnahmen“ im Sinne der Gruppe beschließt. Das bedeutet nichts anderes, als dass hier ein bestimmtes Handeln der Regierung erzwungen werden soll. Das ist kein einmaliger Ausrutscher. In der „Berliner Zeitung“ (6.11.2022) findet sich ein weiteres Zitat aus der Berliner Gruppe „Letzte Generation“:  

„Die Bundesregierung soll unseren Protest beenden – jetzt, indem sie die Krise in den Griff bekommt. Bis dahin geht der Widerstand weiter“. 

Sie geht nicht nur rücksichtslos über die Ereignisse am 31.Oktober hinweg, sondern sie stilisiert sich zu einer Gegenmacht gegen die Regierung. Sie sieht sich im „Widerstand“. Erst wenn die Regierung der Gruppe zu Willen ist und die Resultate liefert, die die Gruppe anstrebt, ist die Gruppe bereit, ihre Aktionen zu beenden. Das hat mit „Protest“ nichts mehr zu tun. Mit dem Chaos und dem Klima der Hilflosigkeit, das die Aktionen in der deutschen Hauptstadt erzeugen, sollen die Institutionen des Staates zu einem bestimmten Handeln gezwungen werden – ohne Rücksicht auf demokratische Wahlen und Mehrheiten. Was hier geschieht, ist eine politische Nötigung.  

Der Tatbestand „Nötigung von Verfassungsorganen“

Die Nötigung von Verfassungsorganen ist in Deutschland ein Straftatbestand. Dieser Tatbestand ist im § 105 des Strafgesetzbuches geregelt und zählt zu den politischen Straftaten. Der § 105 StGB lautet im Absatz 1:

„Wer 1. Ein Gesetzgebungsorgan des Bundes oder eines Landes oder eines Landes oder einen seiner Ausschüsse, 2. Die Bundesversammlung oder einen ihrer Ausschüsse oder 3. Die Regierung oder das Verfassungsgericht des Bundes oder eines Landes, rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt nötigt, ihre Befugnisse nicht oder in einem bestimmten Sinn auszuüben, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.“

Der Absatz 2 lautet: „In minder schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sehchs Monaten bis zu fünf Jahren.“

Die zitierten Erklärungen aus der Gruppe „Letzte Generation“ müssen sofort zu einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren führen. Auch wenn nicht im Einzelnen geklärt ist, welchen Anteil die erschwerte Bergung der Radfahrerin an ihrem Tod hat, ist die Möglichkeit, dass die Klebe-Blockaden tödliche Konsequenzen haben können, wirklich nicht mehr wegzureden. Doch in den Statements der Gruppe nach diesen Ereignissen gibt es keinerlei Innehalten. Kein neues Abwägen wird in Aussicht gestellt. Die Statements zeigen eine finstere Entschlossenheit, auch jetzt noch mit ihren Aktionen weiterzumachen. Mit diesem rücksichtslosen Weiter-So will sie den Druck auf die Regierung offenbar noch erhöhen. Der Machtanspruch der Gruppe ist offenbar so groß, dass sie bereit ist, tödliche Konsequenzen in Kauf zu nehmen.  

Das extremistische Potential der „Klimarettung“ 

Die Gruppe „Letzte Generation“ ist sehr klein. Ist eine Anklage „Nötigung von Verfassungsorganen“ nicht übertrieben? Kann man nicht erwarten, dass sich das bald von selbst erledigt? Nein, denn es gibt einen größeren Zusammenhang, in dem die Radikalisierung, die hier zu beobachten ist, angelegt ist. 

Wenn man nämlich daran glaubt, dass es nur noch wenige Jahre sind, bis die Entwicklung des Weltklimas einen „Kipppunkt“ erreicht, von dem es nur noch eine Einbahnstraße in den Weltuntergang gibt, dann ist man schnell dabei, das Land in einem Ausnahmezustand zu reden. Und es wächst die Neigung, für sich Ausnahme-Rechte zu beanspruchen. Denn hier herrscht eine ultimative Logik: Wenn wir dem drohenden „Klimakollaps“ nicht zuvorkommen, geht alles zugrunde. Vor diesem absoluten Abgrund relativieren sich alle rechtsstaatlichen Normen und alle Institutionen der Verfassung. Diese ultimative Logik hat die Gruppe „Letzte Generation“ in ihren Namen aufgenommen. Sie nimmt sich, als Vertreter einer Generation, die angeblich allein die ganze Klima-Wahrheit besitzt, das Recht, Straßen außer Betrieb zu setzen und Menschenleben zu gefährden, um die angeblich einzig richtige Klima-Rettung zu erzwingen. 

Aber die „Letzte Generation“ hat diese ultimative Logik nicht erfunden. Sie ist schon in der großen Erzählung von der Klimakrise enthalten. Gewiss hat nicht alles, was zum Klimawandel gesagt wird, hat diese extreme Logik. Aber wenn es heißt „Wir sind auf der Autobahn Richtung Klimahölle und haben den Fuß noch auf dem Gaspedal“, dann wird das Szenario eines „letzten Auswegs“ gemalt. Ein eigenes demokratisches Abwägen von Zielen und Opfern wird hier ausgeschlossen. So gibt es keine rote Linie mehr, die die Güter und Rechte eines freiheitlich-demokratischen Landes vor Übergriffen schützt. Die Klima-Rettung regiert aus eigener Ermächtigung. Das Auftreten der Gruppe „Letzte Generation“ zeigt, wie wichtig es ist, dass diese rote Linie jetzt gezogen wird. 

Der verheerende Leichtsinn der „Großen Krise“

Die Krisen, die sich in diesem Herbst zu einem ganzen Krisenkomplex auftürmen, sind kein Schicksal. Sie beruhen auf falschen Entscheidungen. Die Opfer, die jetzt gefordert werden, sind im Grunde sinnlose Opfer. 

Der verheerende Leichtsinn der „Großen Krise“

Gerd Held, 20. Oktober 2022

In diesem Herbst 2022 gibt es nicht nur eine gravierende Einzelkrise im Energiebereich, sondern es überlagern sich eine ganze Reihe von neueren und älteren Krisen. Sie bilden einen großen Krisen-Komplex, der das Land und seine Bürger gewissermaßen von allen Seiten umstellt. Und ein Ende ist nicht abzusehen. 

Es ist ein unlösbares Szenario: Die Klimakrise wird durch Ukraine-Krise noch einmal verstärkt. In der Corona-Krise wird keine Entwarnung gegeben. Die willkürliche Massenimmigration übertrifft die Zahlen von 2015. Und auch die Schuldenkrise ist wieder da, auf einem viel höheren Niveau: Wenn man die verschiedenen Schattenhaushalte hinzurechnet, erscheint es völlig unmöglich, dass diese Schulden aus dem realen Bruttosozialprodukt jemals wieder abgebaut werden können. Alles ist irgendwie hoffnungslos, und das liegt daran, dass man auf eine Rettungspolitik vertraut hat, die die Krisen erst richtig groß gemacht hat. Die großen Auswege täuschten eine falsche Leichtigkeit vor: der „Abschied“ von den fossilen Energieträgern, der „Ausstieg“ aus der Kernenergie, der „Sieg über Putins Russland“, der „Sieg“ über das Covid-Virus, die „Bekämpfung der Migrationsursachen“, die Politik des billigen Geldes zur „Euro-Rettung“ – alles hat die Belastungen und Opfer nicht verringert, sondern erhöht. Dieser Rettungskurs verspricht auch für die nächsten Jahrzehnte keine realitätstüchtige Lösung. Die Doktrin einer globalen Krise, aus der es nur einen radikal-globalen Ausweg gibt, hat sich als unerfüllbar erwiesen – wirtschaftlich, politisch und kulturell. 

So ist in diesem Herbst 2022 im Grunde nur eine Negativ-Botschaft geblieben: Die Bürger sollen drastische Einschnitte bei ihrem Lebensstandard, bei ihren kulturellen Aktivitäten und bei ihrer Sicherheit hinnehmen. Deutschland soll zu einem Land des kollektiven Verzichtens werden. Es soll im Dauermodus von Energielücken, von fehlenden Gütern und Arbeitskräften, von Betriebsschließungen, von ständigen Störungen der Infrastruktur und einer unaufhaltsamen Ausbreitung von Gewalt leben. Betroffen sind nicht nur die Armen und Schwachen, sondern vor allem diejenigen, die über Jahre und Jahrzehnte viel geleistet haben und heute noch täglich leisten. Die Gegenleistung dafür wird jetzt gekürzt – und zwar in einem historischen Ausmaß. Viele Güter und Aktivitäten, die die erreichte Freiheit markierten, werden unerreichbar. Der über Jahrzehnte gewachsene Gesellschaftsvertrag zerbricht.   

Ein Rückschritt, der nicht notwendig ist

Und nun kommt der entscheidende Punkt: Man könnte ja vielleicht vermuten, dass ein großes Unglück über Deutschland, Europa oder die ganze Welt hereingebrochen wäre. Hat uns plötzlich eine fremde Gewalt von außen überfallen? Ist vielleicht ein Meteorit eingeschlagen oder hat sich eine dämonische Macht irgendwo festgesetzt? Haben unsere Wissenschaftler plötzlich ein ganz neues Naturgesetz entdeckt, nach dem unser Planet viel kleiner ist, als jahrhundertelang angenommen wurde? Nein, die immer neuen Krisen, die in den letzten Jahren auf uns herniedergekommen sind, und die sich nun zu einem Konglomerat „große Krise“ auftürmen, sind nur gedankliche Konstruktionen: Aus einzelnen Phänomenen werden höchste Bedrohungen konstruiert. Und es sollen akute Bedrohungen sein, die unmittelbar vor der Tür der Weltgeschichte stehen. In der Sache ist dieser Krisen-Modus gar nicht zwingend. 

Das ist auch schon indirekt zugegeben worden. Am 29.August 2022 erschien in der Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung ein Artikel, der ein Argument für die Corona-Maskenpflicht vorbrachte, das mit der Realität der Corona-Epidemie gar nichts zu tun hat. Man solle, so der Artikel, die Maskenpflicht als „…Parabel darauf lesen, wie zukünftig mit einschneidenderen Herausforderungen umgegangen wird – man denke an die Energiekrise, den Klimawandel und geostrategische Fragen“. Der Autor, der Soziologie-Professor Armin Nassehi, sagt hier ganz unverblümt, dass die Bedrohung durch das Virus längst zweitrangig geworden ist, und es darum gehe, die Maskenpflicht als Vorbild für eine generelle Krisen-Formierung der Gesellschaft zu sehen: „Die meisten Sorgen muss man sich wohl nicht um die Pandemie machen, sondern eher um den mit der Pandemie sichtbar werdenden Modus des Umgangs mit kollektiven Herausforderungen.“   

Der Ausdruck „sich Sorgen machen“ bedeutet nicht, dass Nassehi den Einschränkungen kritisch gegenübersteht. Er betrachtet sie vielmehr als gute und legitime Vorübungen für kommende Krisen mit noch größeren Einschränkungen. Andreas Rosenfelder, Ressortleiter des Feuilletons der Zeitung „Die Welt“, kommentierte den Nassehi-Artikel Anfang September 2022 klarsichtig: „Nassehi bringt hier ein seit Beginn der Pandemie verbreitetes Argument auf den Punkt. Schließlich war schon im Frühjahr 2020 in der linksliberalen Intelligenzija unverhohlene Begeisterung zu spüren: Na also, geht doch! Wenn wir wegen einer Atemwegserkrankung das wirtschaftliche und soziale Leben von heute auf morgen herunterfahren können, schaffen wir das auch in Zukunft, um die kapitalistische Wachstumslogik zu überwinden.“

Rettungspolitik als „große Erzählung“ 

Am Ende des 20. Jahrhunderts war Deutschland noch ein ziemlich gut funktionierendes Land. Und auch die erste Reaktion auf begrenzte, reale Krisenerscheinungen – die Agenda-Politik des Kanzlers Gerhard Schröder – zeigte, dass dies Land noch gute Reflexe hatte. Doch dieser Realitätsbezug wurde dadurch ausgehebelt, dass ein ganz neuer Typ von „Krise“ auf die gesellschaftliche und politische Bühne gehoben wurde: Es wurden große Bedrohungs-Erzählungen in die Welt gesetzt, mit denen man das Land einschüchtern konnte. Das Welt-Retten sollte „alternativlos“ sein. Und die Bürger sollte nur noch passive Zuschauer eines höheren Geschehens sein. Man muss hier immer bedenken, dass die Folgen dieser „Erzählung“ keineswegs nur „theoretisch“ sind, sondern ganz handfest und brutal. Durch die große Teuerung, die jetzt durchs Land geht, werden den Menschen Dinge weggenommen, die für ihr Leben existenzielle Bedeutung haben. Während „unabhängige“ Ökonomen in ihren Instituten von „Preissignalen“ und „Anreizen“ säuseln, werden in Wirklichkeit Güter unerschwinglich. Betriebe und Haushalte werden in den Ruin getrieben. Die Preis-Signale stellen in Wahrheit eine Preis-Mauer dar.     

Doch zur Wahrheit gehört auch: Die Erzählung der großen Bedrohungen und Rettungen, die das Land in seinem Bann hält, ist keine realgeschichtliche Erfahrung der Gesellschaft. Sie ist eine rein gedankliche, hypothetische Konstruktion, die im Kopf eines begrenzten gesellschaftlichen Sektors entstanden ist. Dieser Sektor umfasst vor allem die gehobene, akademische Mittelschicht in den Städten, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte in Führungs-Dienstleistungen, Wissenschaft, Kunst, Kirchen, Massenmedien so stark angewachsen ist, dass sie heute in einer weitgehend geschlossenen Sonderwelt lebt. Sie erfährt die Wirklichkeit nur aus zweiter Hand – was sie nicht daran hindert, die Öffentlichkeit mit einer Schwemme an Bildern und Geschichten über die angeblich „aus den Fugen geratene“ Welt in Beschlag zu nehmen. Diese „Narrative“ haben im Verlaufe der vergangenen Jahrzehnte immer mehr den Charakter eines Pflichtkanons angenommen. Dafür wird gerne das Wort „Herausforderung“ benutzt. Doch das „Heraus“ führt nicht ins Wirkliche, sondern ins Luftige. Und die Moral-Industrie des Rettens ist eine Industrie des bloßen Zeichen-Setzens. Ihre Produkte sind leichtgewichtige Konstruktionen, wie auch die Arbeits- und Lebensumstände ihrer gehobenen sozialen Trägerschicht recht leichte Bedingungen sind. Vom jetzt verkündeten „großen Verzicht“ ist diese Schicht noch am wenigsten betroffen – doch als große Mahner kann sie sogar auf soziales Prestige und gut bezahlte Posten hoffen. 

Ein exklusiver Sonder-Gesellschaftsvertrag 

Während der Gesellschaftsvertrag der Mehrheit zerbricht, nimmt sie für sich einen neuen, sehr vorteilhaften und exklusiven Sonder-Gesellschaftsvertrag in Anspruch. Diese Kombination von Ahnungslosigkeit und Machtstreben wird natürlich in Gestalt der „Grünen“ besonders sichtbar. Aber diese Kombination ist weder von den Grünen noch irgendeiner anderen politischen Partei erfunden worden. Nein, diese Fehlentwicklung ist schlimmer, denn sie geht tiefer. Sie wurzelt in der Gesellschaft. Hier hat sich ein Sektor ausgebildet, der den Zwängen der Realität enthoben ist und daher weder willens noch fähig ist, angesichts gravierender Krisenfolgen den Kurs des Landes zu überprüfen und zu korrigieren. Das Korrektiv der Realität besteht für diesen Sektor gar nicht, weil „das Land“ als ein bestimmter, begrenzter Raum für ihn gar nicht existiert. Ein für die ganze Gesellschaft geltender und bilanzfähiger Gesellschaftsvertrag existiert für diese „Gesellschaft in der Gesellschaft“ gar nicht. Hier bewegt sich ein exklusiver Sektor nur in den eigenen Erzählungen. Und er ist bereit, all das, was für ihn nicht dazugehört, aufs Spiel zu setzen. Die Bürger müssen lernen, dass ihnen da – aus ihrer Gesellschaft heraus – ein wahrer Todfeind erwachsen ist.

Der Wert der modernen Dinge 

Angesichts dieser Lage könnte man vielleicht den Schluss ziehen, es ginge um eine „Entlarvung“ bestimmter Personen oder Personengruppen. Aber ist wirklich eine personale Macht das Problem? Ja und Nein. Die jetzige Energiekrise offenbart ja, wie sach-blind und welt-fern die globalen Drohungs- und Rettungs-Erzählungen sind. Die Bilder- und Textflut ist gewaltig, aber ihre Resultate sind erbärmlich. Die erneuerbaren Energien können nicht liefern. Auch auf anderen Feldern – Arbeitskräftemangel, Massenmigration, geopolitische Konfrontation mit anderen Systemen – überzeugt die Doktrin der „großen Rettungen“ immer weniger in der Sache. Aber die personale Präsenz des sozialen Sektors, der diese Narrative zu verantworten hat, erscheint nach wie vor übermächtig. Es ist ihm offenbar bisher gelungen, die Öffentlichkeit insgesamt in seinem Erzählmodus zu halten. Die Gesellschaft kann sich aus diesem Bann nur befreien, wenn es gelingt, in der Öffentlichkeit die Sachebene viel stärker zur Geltung zu bringen. Der Modus der Sach- und Weltbezogenheit ist ja eigentlich der Clou der Moderne und ihrer bürgerlichen Gesellschaft. An diesem Punkt gibt es offenbar in unserer Gegenwart eine erhebliche Schwäche. Es gelingt nicht, die neuzeitlichen Errungenschaften überzeugend zu verteidigen. Insbesondere gelingt es nicht zu zeigen, wie kulturelle Größe und Leidenschaft mit Wohlstand, Arbeit und Frieden zusammenhängen. In diese klaffende Lücke stößt gegenwärtig die Erzählung „Ein bisschen Verzichten kann doch jeder“. Sie macht aus Wohlstand bloßen „Konsum“, aus Arbeit „sinnlose Betriebsamkeit“ und aus Frieden „naive Unterwürfigkeit“. Von allem etwas weniger? Geht doch! So müssen wir täglich zusehen, wie die Errungenschaften der Moderne zu gewöhnlichen, langweiligen oder bequemen Dingen herabgewürdigt werden. Ist unsere Zivilisation und ihre Institutionen erstmal auf diese Weise banalisiert, setzt man sie leicht auch ganz aufs Spiel. Gehörte dieser Leichtsinn nicht zur Vorgeschichte der deutschen und europäischen Katastrophe von 1914? Es gibt also gute Gründe, diese Entwertung nicht hinzunehmen, sondern beharrlich für eine neue Sachlichkeit zu streiten und zu leben.  

Die Worte und die Dinge

Der Ernst der Lage, den Deutschland jetzt zu spüren bekommt, geht auf rücksichtslose Eingriffe in die Produktivität der Betriebe und die Tragfähigkeit der Infrastrukturen zurück. Aber der dominierende Diskurs der Gegenwart ist gar nicht in der Lage, diese Realität zu begreifen.   

Die Worte und die Dinge

10. Oktober 2022

Deutschland erlebt eine Teuerungswelle, wie sie bisher nur aus Kriegs- und Nachkriegszeiten bekannt war. Aber in der medial dominierenden Darstellung und Erörterung dieser bedrohlichen Entwicklung herrscht eine merkwürdige Oberflächlichkeit. Man spricht von „Inflation“ und versteht darunter einen Effekt der „Geldpolitik“, der durch eine Kurskorrektur der Zentralbanken zu beheben sei. Man dringt also gar nicht zu der realwirtschaftlichen Verteuerung der Herstellungskosten vor. Auch nicht zu der realstaatlichen Verschlechterung der Tragleistungen der Infrastruktur. Diese Kostenerhöhungen gehen auf materielle Eingriffe zurück: Auflagen, Zusatzabgaben, Stilllegungen. Aber diese ganz Sphäre, die Sphäre der materiellen Bedingungen und Arbeitsprozesse, kommt im laufenden Gebrauch des Wortes „Inflation“ eigentlich gar nicht vor. Die Sphäre der Dinge wird krass unterschätzt und, mehr noch, sie wird von vornherein ausgeblendet. Und dabei spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Da die Worte nicht orter-zwangsläufig mit den Dingen identisch sind, können sie sich von den Dingen entfernen. Und sie können die Sprechenden und Schreibenden daran hindern, die Wirkungszusammenhänge der Dinge wahrzunehmen. Sie können auch dazu führen, dass die materiellen Eingriffe, die die Teuerung bewirken, verharmlost werden. Es lohnt sich daher, die Sprachwendungen näher zu betrachten, in denen uns die Teuerungswelle präsentiert wird. Und in denen überhaupt der ganze Krisenkomplex, der sich in diesem Herbst 2022 vor uns auftürmt, verpackt wird. 

„Herausforderungen“ und „ehrgeizigen Ziele“

Mit solchen Wendungen, die wir aus der „Klima-Krise“, der „Ukraine-Krise“ oder auch der „Migrations-Krise“ kennen, werden die Vorgänge und Entscheidungen gleichsam in eine höhere Sphäre verlagert. Die materiellen Verschiebungen, die mit der Politik der großen, globalen „Rettungen“ verbunden sind, werden in ein vornehmes moralisches Kleid gesteckt. Der tiefe Einschnitt in den erreichten Stand der modernen Zivilisation, den die Stilllegung jeglicher Energiegewinnung aus fossilen Energieträgern („Klimaneutralität“ genannt) bedeutet, wird dann gar nicht mehr näher betrachtet. Und auch die nachhaltigen Folgen, die die Politik der prinzipiellen Ächtung und Isolation Russlands hat, werden gar nicht ernstgenommen. 

Aber bleiben wir bei „unserem Klimaziel“. Das Mittel der CO2-Emissions-Bepreisung ist schon länger in der Diskussion. Im Laufe des Jahres 2021 wurde begonnen, diese Bepreisung, die es für Kraftwerke und bestimmte Industrieanlagen schon gab, stark auszudehnen. Dieser „zweite Preis“ sollte nun, schrittweise, für Gebäude und Straßenverkehr erhoben werden. Das ist keine „Geldpolitik“, sondern eine realwirtschaftliche Kostenerhöhung. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hat sich, wie die meisten größeren Blätter in Deutschland, für diese Kostenerhöhung positioniert. So konnte man vor einem Jahr im Wirtschaftsteil in einem Kommentar (Hendrik Kafsack, „Sozialer Emissionshandel“, FAZ 26.8.2021) folgendes lesen:

„Der zu Jahresbeginn eingeführte CO2-Preis für Benzin, Diesel und Heizöl hat in Deutschland zu einer heftigen Debatte über die sozialen Folgen geführt. Nun droht der von der Europäischen Kommission im Juli vorgeschlagene Emissionshandel für Gebäude und Straßenverkehr an der gleichen Frage zu scheitern. Doch führt an der Ausweitung des Emissionshandels kein Weg vorbei.“ 

Herr Kafsack hält die (politische) Energie-Verteuerung also für ein Gebot, an dem „kein Weg vorbei“ führt. Wie begründet er eine so absolute Aussage? Hier findet sich im Text eine erstaunlich kurz-angebundene Wendung: 

„Wenn der Ausstoß von Gebäuden und Verkehr nicht mit einem Preis versehen wird, kann die EU ihre ehrgeizigen Klimaziele nüchtern betrachtet kaum erreichen.“ 

Die Wendung „ehrgeizige Klimaziele nüchtern betrachtet“ ist wahrlich eine Perle der Wort-Verdrehungs-Kunst. Denn es werden ja nicht die Klimaziele nüchtern betrachtet und mit ihren Opfern abgewogen, sondern sie bleiben als unbedingte Ziele unantastbar. Die „nüchterne Betrachtung“ beschränkt sich ganz und gar auf die Erfüllung des Klimaziels. Wo „unser Klimaziel“ regiert, gibt es kein Abwägen mehr. 

Ein „Markt“, der von politischen Vorgaben beherrscht wird

Beim Ausdruck „Emissionshandel“ kann der Eindruck entstehen, dass es sich um eine marktwirtschaftliche Lösung handelt. „Der Markt“ soll die Energie-Verteuerung quasi naturwüchsig hervorbringen. Das ist ganz falsch. Diese Verteuerung entsteht durch politische Vorgaben. Wenn Kafsack schreibt, dass der Ausstoß von Gebäuden und Verkehr mit einem Preis „versehen“ wird, beschreibt er nichts anderes als eine solche Vorgabe. Die Teuerung entsteht durch Emissionszertifikate, die der Staat ausgibt und deren Erwerb für den Betrieb von Produktionsstätten, Gebäuden, Verkehrsmitteln verpflichtend ist. Der Handel dieser Zertifikate ist nur ein nachgeordneter Schritt, der Markt ist hier bloß ein Instrument, ein Mittel zum politischen Zweck. Er ist der Knecht der Politik. Wenn es der Politik gefällt, kann sie den Preis bis ins Unbezahlbare steigen lassen – bis es keine Käufer mehr gibt. An einem wirklichen Markt würden dann die Preise sinken, aber politisch gewollte Preise sinken nicht. Oder genauer: Sie sinken erst dann, wenn man die politischen Vorgaben zurücknimmt. Und wenn eine Demokratie den „ehrgeizigen Zielen“ ihre Unantastbarkeit nimmt. Aber davon sind wir weit entfernt.     

Beschönigung und soziale Verachtung

Stattdessen werden die zerstörerischen Folgen der Teuerung erharmlost. Derselbe Herr Kafsack schreibt im Frühjahr 2022 (FAZ, 18.5.2022):

„Die Lösung liegt auf der Hand. Die EU muss den Verbrauch von Heizöl, Benzin oder Diesel mit einem CO2-Preis versehen. Wer den nicht zahlen will, kann in eine neue Heizung oder die Dämmung der Wohnung investieren, ein E-Auto kaufen oder Bus und Bahn fahren.“

Man beachte den lässigen Tonfall: Wer den CO2-Preis nicht zahlen will, kann ja in eine neue Heizung investieren, ein E-Auto kaufen oder mit Bus und Bahn fahren. Wer das eine nicht zahlen will, kann doch einfach etwas anderes kaufen – kostet bloß halt ein bisschen mehr…Der Betrug liegt auf der Hand: Es wird verschwiegen, dass der Automarkt insgesamt auf einem höheren Preisniveau ankommt. Ein Luxus-Niveau, das sich der Normalbürger nicht leisten kann. Und wie leicht sich so etwas hinschreiben lässt! In dieser Allein-Herrschaft der Worte findet eine tiefe soziale Verachtung ihren Platz. 

Hendrik Kafsack

Ich erlaube mir eine persönliche Anmerkung, wohlwissend, dass ich damit keineswegs der ganzen Person gerecht werde und auch nicht dem ganzen Journalisten Hendrik Kafsack. In einer Broschüre der FAZ aus dem Jahr 2019, in der alle Journalisten des Hauses mit einer Kurzbiographie vorgestellt werden. Bei Hendrik Kafsack findet sich hier das folgende biographische Stichwort:

„Früh die Liebe zum geschriebenen, gesprochenen und ins Bild gesetzten Wort entdeckt.“

Das Automobil als Ding

Glücklicherweise gibt es in der FAZ noch die Beilage „Technik und Motor“. Und dort kann man in eine ganz andere Welt eintauchen, eine Welt der Dinge, eine Welt mit Hand und Fuß. In der Beilage vom 14.9.2021 zitiert Holger Appel unter der Überschrift „Die Basis“ einige Angaben aus der Automobilbranche zu den Herstellungskosten eines E-Automobils:

„Die Produktion eines Antriebsstrangs mit Akku sei derzeit etwa viermal so teuer wie die eines Verbrennungsmotors. In zehn Jahren sei mit einer Halbierung zu rechnen, dann sei der Akkuantrieb noch doppelt so teuer. Weil die Politik aber den Verbrennungsmotor in all seinen Facetten immer teurer macht, werden sich Kosten, und wohl auch Preise, über die Zeit annähern. Nur eben auf höherem Niveau. Einen VW Up mit Benzinmotor gibt es heutzutage 14000 Euro an, einen Polo ab 16000 Euro.“

So viel zur Realität der Kostensteigerung, die mit der erzwungenen Umstellung auf E-Automobile verbunden sein wird. De facto bedeutet diese Umstellung, dass das Automobil, wenn ein Ende des Verbrennungsmotors angeordnet wird, für die Normal-Gesellschaft nicht mehr zu den bezahlbaren Gütern zählt. Das bedeutet einen Rückschritt in die 1950er Jahre. Und es bedeutet nicht nur ein bisschen weniger Bequemlichkeit, sondern eine Isolation weiter Teile des Landes; einen Eingriff in die dortigen Lebensformen, die von einer individuellen, motorisierten und bezahlbaren Mobilität abhängen. Es bedeutet eine Einschränkung der Möglichkeit, mit der Familie in Urlaub zu fahren, auch eine Einschränkung des Reisens als physisch-sinnlicher Weltzugang.     

Das „Preis-Signal“

Nach einem Bericht der Tageszeitung „Die Welt“ (7.10.2022) beträgt der Durchschnittspreis von E-Automobilen in Europa gegenwärtig 55821 Euro. In den USA sind es (umgerechnet) 63864 Euro. Das „Preis-Signal“ ist in Wahrheit eine „Preis-Mauer“    

Die Geschichte vom „Innovationstreiber“

Wir schalten ein Jahr zurück. Da war im September-Bundestagswahlkampf. Und eine gewisse Annalena Baerbock gehörte zu den Kanzler-Kandidaten. Ein Artikel in der FAZ (14.9.2021) berichtet von einer Fernsehrunde der (drei) Kandidaten, in der Frau Baerbock – im Zusammenhang mit dem beschlossenen Aus für den Verbrennungsmotor – den folgenden Satz sprach: „Jedes Verbot ist auch ein Innovationstreiber.“ Der Satz bedeutet: Wenn wir auf einem Technikfeld nur Lösungen haben, die unerwünschte Nebenwirkungen haben, soll man diese „alten“ Lösungen schon verbieten, auch wenn alternative Lösungen mit vergleichbarer Leistung nicht zur Verfügung stehen. Denn das Verbot wird das Finden der alternativen Lösungen („Innovationen“) antreiben. Also sollte man ruhig eine Notlage herstellen, frei nach dem Motto „Not macht erfinderisch“. Der Baerbock-Satz wurde in der Kandidaten-Runde gar nicht problematisiert, aber im Nachhinein dann doch. Der FDP-Vorsitzende Lindner erklärte „Freiheit ist der Innovationstreiber“. Der Direkter des Max-Planck-Instituts für Innovation und Wettbewerb sprang der grünen Kanzler-Kandidatin bei und sagte: „Prinzipiell hat Baerbock recht. Politische Regulierung und Verbote rufen auch innovative Antworten hervor“. Womit er zeigte, wie leicht man heutzutage in den „unabhängigen“ Wissenschaftskreisen dazu neigt, den Menschen ihre einzig verfügbaren Güter wegzunehmen. Und sie dazu zu verurteilen, hilflos auf die Wissenschaft zu blicken und zu hoffen, dass sie etwas liefert. Diese Rolle der Wissenschaft sollte man sich merken, wir kommen weiter unten darauf zurück.  

Die Teuerungswelle als Innovationstreiber?

Mit der Story vom Innovationstreiber kann man auch der Teuerungswelle ganz neue Seiten abgewinnen. Wenn die CO2-Bepreisung das Autofahren so teuer machen, dass viele es sich nicht leisten können, könnte man behaupten, dass das zu Innovationen führt, die alles besser machen. Bei bestimmten Preiserhöhungen, die dazu führen, das die Menschen ein Gut nicht mehr kaufen, spricht man ja von „prohibitiven“ Preisen – als von Preisen, die wie Verbote wirken. Auch die prohibitiven Preise laufen auf eine Situation hinaus, in der erstmal nichts da ist, um dann auf dieser tabula rasa das Neue völlig freihändig zu erfinden. Die Logik der Tabula rasa als Innovationstreiber ist auch bei der CO2-Bepreisung am Werk. Und der „Vorteil“ der prohibitiven Preise gegenüber einem schlichten Verbot besteht darin, dass die tabula rasa hier quasi „von selbst“ entsteht. Niemand muss dafür direkt die Verantwortung übernehmen. Die Wirkungs-Wege der CO2-Bepreisung durch Emissions-Zertifikate sind verschlungen. Die Spuren der willkürlichen Zertifikate-Setzung am Anfang in den Preisen am Ende lassen sich leicht unterschlagen. 

Es fällt ja auf, dass selbst angesichts einer Teuerungswelle, die durch den Wirtschaftskrieg gegen Russland noch einmal gesteigert wurde, an der CO2-Bepreisung festgehalten wird – und dieser „zweite Preis“ auch aus der öffentlichen Debatte herausgehalten wird. Und es fällt auf, dass es einen beträchtlichen Teil der Ökonomen und auch die offiziellen „Liberalen“ dabei mitmachen. Umwelt-Institute und Wirtschafts-Institute spielen sich die Bälle zu. Und Und hier finden sich auch Grüne und FDP zum trauten Stelldichein. 

Der Liberalismus verlässt die bürgerliche Gesellschaft

Eigentlich sollte man erwarten, dass die Wirtschaftsteile der Zeitungen, die sich als bürgerlich verstehen, angesichts einer Teuerungswelle von historischen Ausmaßen besonders aufmerksam für die Nöte der Betriebe und Haushalte sind. Aber das geschieht nicht, und es geschieht sogar das genaue Gegenteil. Das zeigt sich in den Stellungnahmen zu den sogenannten „Hilfspaketen“ und „Entlastungsprogrammen“. Man kann an diesen Maßnahmen mit Fug und Recht kritisieren, dass sie die eigentlichen, fundamentalen Preistreiber ausklammern. Keine der Grundentscheidungen, zum Beispiel „die Klimaneutralität bis 2045“ sollen überprüft und gegebenenfalls revidiert werden. Nein, die „bürgerlich-liberalen Blätter möchten die Sparzwänge, die sich aus der Teuerung ergeben, möglichst ungeschmälert zur Wirkung kommen lassen. Sie stimmen also ein in den Chor des „großen Verzichtens“. 

Auch Wirtschafts-Journalisten wie Heike Göbel, die sich als Liberale versteht, stößt in dieses Horn. Sie hat – zum Beispiel in einem Kommentar unter der Überschrift „Voreiliger Schockdämpfer“ in der FAZ vom 25.3.2022 – gegen die damaligen ersten Entlastungsmaßnahmen der Regierung Stellung genommen. Und sie hat das nicht getan, um die tieferen Ursachen der Teuerung ins Visier zu nehmen, sondern sie kommt auf geradezu bizarre Weise auf die Erzählung von den Bürgern, denen es gut geht, zurück:  

„Viele, wenn nicht gar die Mehrheit der nun begünstigten Bürger, dürfte staatliches Geld (noch) gar nicht nötig haben. Sie verfügen – teils wegen des unterbliebenen Konsums in der Pandemie – über private Reserven, um den Energiepreisschock aufzufangen, notfalls unter Einschränkungen des übrigen Konsums.“

Will die Autorin wirklich nach den immensen Opfern der Pandemie-Bekämpfung, die alle größeren Aktivitäten (Reisen, Sport, Musik, Festlichkeiten…) trafen, nun das noch verfügbare Geld für die Energierechnung in Beschlag nehmen? Dies Geld wird ja für eine Rückkehr zum modernen Leben dringend gebraucht, und das ist mehr als verdient. Und was ist das überhaupt für eine Wirtschaftslehre, die für die Rolle der Bürger nur das arme Wörtchen „Konsum“ übrighat? Diese Verbraucher-Ökonomie ist eine fundamentale Missachtung der aktiven Arbeitsleistung, auf der dies Land beruht und die täglich neu erbracht wird. Und es ist auch eine fundamentale Verkürzung der modernen Dingwelt, die nicht begreifen kann, welcher kulturelle Reichtum aus dieser Dingwelt erwächst.

Die „unabhängige Wissenschaft“

Johannes Pennekamp ist einer der führenden Journalisten im Wirtschaftsteil der FAZ. In einemKommentar unter Überschrift „Scheinheilig“ (FAZ 23.4.2022) hat er sich auf die Seite derer gestellt, die zu diesem frühen Zeitpunkt ein sofortiges Öl- und Gasembargo gegen Russland forderten. Er wandte sich dabei ausdrücklich gegen die Warnungen vor einer Industriekrise, die Unternehmensverbände und Gewerkschaften damals in einem gemeinsamen Brief ausgesprochen hatten, falls ein solches Energie-Embargo verhängt würde. Pennekamp wendet sich gegen die Regierung, die sich gegen ein Embargo zu diesem Zeitpunkt ausgesprochen hatte – mit dem Verweis auf die dann drohende Massenarbeitslosigkeit und Armut:

„Sie (die Regierung, GH) hat es bislang versäumt, diese Zenarien mit belastbaren Analysen zu untermauern. Das muss sie dringend nachholen, wenn sie nicht endgültig in den Ruf gheraten will, Warnungen von Vorstandschefs und Gewerkschaftsvertretern mehr Glauben zu schenken als der unabhängigen Wissenschaft. Schweigt die Regierung weiter, wirkt ihre vorsichtige Haltung immer scheinheiliger: Sie ist nicht bereit, einen hohen, aber verschmerzbaren Preis zu zahlen, um Putin den Geldhahn abzudrehen.“

Herr Pennekamp tritt also als feuriger Anhänger des Embargo-Kriegs auf und schwingt gegen die Embargo-Skeptiker die moralische Keule („scheinheilig“). Vor allem aber ist bemerkenswert, auf wen er sich dabei beruft. Nicht „Unternehmenschefs und Gewerkschaftsvertreter“ sollen die Lage beurteilen, sondern die „unabhängige Wissenschaft“. Damit outet sich Pennekamp als Verachter der Sozialpartnerschaft. Und als Verachter des Arguments, das Unternehmer- und Arbeitnehmer-Vertreter dichter der Realwirtschaft dran sind und deshalb Probleme viel ernster nehmen als Leute, die die Dinge nur von Ferne und nur in theoretischen Modellen wahrnehmen und verarbeiten. Doch für diese Realitätsferne kennt Pennekamp ein Zauberwort: „Unabhängig“ soll der Standpunkt der Wissenschaft sein. Bei der Frage, wo denn der Standort ist, der eine solche „Unabhängigkeit“ gewährleistet, hält sich unser Medienmann bedeckt. Aber eine Agenda ist hier doch erkennbar: Die Wissenschaft soll als neue höchste Instanz der Volkswirtschaft installiert werden. Und auch der Wirtschaftsteil der FAZ soll wohl für sich eine höheren Weisheit beanspruchen können – wenn er sich denn „verwissenschaftlicht“. Wobei es das Signum „Die Wissenschaft sagt“ in modernen Zeiten eigentlich gar nicht gibt, da in unserem Zeitalter wissenschaftliche Wahrheiten immer nur vorläufige und auch umstrittene Wissensstände sind.

Zwischenbemerkung

Das Datum dieses Kommentars und überhaupt der frühe Zeitpunkt dieser Embargo-Debatte ist wichtig. Schon im April 2022, also lange vor den Einschränkungen der Gaslieferungen aus Russland, gab es eine im Westen verbreitete Forderung, einen radikalen Energiekrieg gegen Russland zu führen. Dafür gab es auch in Deutschland Anhänger. Der Westen hat also den ersten Stein des „Energiekriegs“ geworfen – und tut nun so, als ob „Putin“ diesen Krieg erfunden und angefangen hat.   

In der Debatte vom April 2022 behaupteten die Anhänger des radikalen Energiekriegs, ein heftiger, aber kurzer Einschnitt würde die Ukraine-Krise verkürzen. Das „schmerzvoll, aber kurz“ erinnert an die „Zero-Covid-Strategie“, die zum Umgang mit der Corona-Epidemie noch im Winter 2021/2022 propagiert wurde. Auch von manchem Wirtschafts-Wissenschaftler, der sich als „liberalen Marktwirtschaftler“ versteht. .  

Pennekamp, zum Zweiten

Johannes Pennekamp hat im Politikteil der FAZ (4.10.2022) ein Porträt von Veronika Grimm geschrieben. Sie ist die Vorsitzende der Kommission, die für die Bundesregierung eine Vorlage für die „Gaspreisbremse“ erarbeiten soll. Pennekamp führt Frau Grimm als „eine der einflussreichsten Frauen im Land“ ein. Wie sie ihren Einfluss gelten machen wird, weiß der Journalist genau – aber die folgende Aufgabenbeschreibung für Grimm ist natürlich kein Porträt mehr, sondern ein geschicktes Unterbringen eigener Positionen: 

„Die Preise für Privatverbraucher und die Unternehmen müssen zwar sinken, damit alle halbwegs über die Runden kommen. Sie dürfen aber nicht zu tief fallen, damit genug Gas gespart wird.“ 

Das „nicht zu tief fallen“ ist eine Aussage von kurioser Rücksichtslosigkeit. Denn es gibt niemanden auf der Welt, der Preise auf ihr altes Niveau oder gar darunter subventionieren könnte. Indem Pennekamp für Privathaushalte und Unternehmen die herablassende Formel übrighat, dass sie „halbwegs über die Runden kommen“ sollen, signalisiert er, dass eine erhebliche Zahl von ruinierten Haushalten und Unternehmen durchaus als Nebeneffekt des „Sparens“ akzeptabel ist. Jedenfalls versucht Pennekamp die Universitäts-Ökonomin Grimm gegen die Vertreter von Unternehmen und Gewerkschaften in der Kommission in Stellung zu bringen, die angeblich nur an der Verminderung des Teuerungsdrucks interessiert sind. Er zitiert Frau Grimm mit der Aussage, dass es ihr wichtig sei, „die Perspektive der Wissenschaft einzubringen“. Es wird aber nicht klar, ob zu dieser Perspektive auch gehört, die klimapolitischen und geopolitischen Vorgaben, die die Preissteigerungen wesentlich und langfristig bestimmen, ins Visier zu nehmen. 

Das Porträt schlägt einen ganz anderen Weg ein, indem es Veronika Grimm als Vertreterin einer ganz neuen „Generation von Forschern“ vorstellt: „Sie gehört zu einer Generation von Forschern, der Daten und Modelle mehr bedeuten als ideologische Glaubenssätze.“ Mit anderen Worten: Die vorherigen Generationen sind irgendwie ideologieverdächtig, während man, sofern man auf „Modelle und Fakten“ setzt, gegen Ideologien immun sein soll. Auf die Idee, das die „Modelle und Fakten“ selbst hochgradig ideologieanfällig sind, kommt Pennekamp, der sich wohl auch selber dieser „new generation“ zugehörig fühlt, nicht in den Sinn. Aber liegt die Gefahr gerade in der „Unabhängigkeit“ einer höheren Standpunkts, der an die Neutralität von „Modellen und Fakten“ glaubt und dabei zu ignoranten Urteilen und verheerenden Entscheidungen kommt – weil er von der Härte der Dinge nicht weiß, und von der Leistung, mit dieser Härte zu arbeiten, nichts wissen will. 

Doch halt, auch Pennekamp versucht, Frau Grimm noch eine Portion Bodenständigkeit zu gewähren: „Man glaubt der Mutter von drei Kindern, dass sie Herausforderungen liebt: Im Urlaub wandert sie auf anspruchsvollen Pfaden.“ Das ist super, aber der Abstand zwischen solchen „anspruchsvollen Pfaden“ und den Ansprüchen der alltäglichen Arbeitswelt ist doch beträchtlich. 

Pennekamp, zum Dritten

Manchmal ist es ein einzelnes Wort, das mehr über einen Standpunkt verrät, als lange Zitate. Johannes Pennekamp hat sich in einem Kommentar (FAZ 6.7.2022), für „eine schnelle Weitergabe der Preise“ ohne abfedernde Maßnahmen größerer Art ausgesprochen. Pennekamp kritisiert den Plan, dass „Arbeitnehmer mit einer steuerfreien und kaum zielgenauen Einmalzahlung der Arbeitgeber von 1500 Euro (`Scholz-Bonus´) gepampert werden sollen.“ Da steht das Wort: „gepampert“. Die Absicht, die in diesem Wort enthalten ist, ist deutlich zu spüren. Wer einen Ausgleich für die Reallohn-Verluste fordert, soll als Schwächling gelten. Als Hosenscheißer. Wie wäre es, wenn unserer Medienmann seinen Pamper-Satz einmal auf einer Betriebsversammlung vorträgt?

Die Worte und die Dinge (I)

Johannes Pennekamp ist gewiss nicht irgendeine besonders finstere Gestalt oder gar Teil einer Verschwörung. Die hier zitierten Beiträge sind eher ein Indiz für eine tiefere gesellschaftliche Verschiebung. Aber diese „Normalität“ macht sie nicht weniger zerstörerisch. Insgesamt belegen die Zitate, welcher Abgrund inzwischen die Welt der Worte und die Welt der Dinge in Deutschland trennen. Zur Verortung dieses Abgrundes würde ich nicht die Erzählungen von der „Spaltung zwischen arm und reich“ oder von der „Spaltung zwischen mächtig und abhängig“ empfehlen. Vielmehr geht es um den Verlust einer grundlegenden Eigenschaft der Ära der Moderne: ihr Weltbezug und die Eigenständigkeit der Dinge und dinglichen Wirkungszusammenhänge. Nur so konnte die über Jahrzehnte und Jahrhunderte aufgebaute Spannweite von Staat, Wirtschaft und Kultur entstehen. Doch jetzt ist dieser Weltbezug in einer tiefen Krise, die ganz unterschiedliche Schichten betrifft, ganz unabhängig von ihrem Vermögen oder Einkommen, und ganz unabhängig von ihrer Macht. Die strukturelle Verschiebung, die in dieser Krise wirksam ist, lässt sich meines Erachtens am treffensten als Verschiebung zwischen im Verhältnis von Worten und Dingen beschreiben. Am Ursprung der Neuzeit stand eine Hinwendug zur Welt und eine Aufwertung ihrer Gegenständlichkeit, und mit ihr war der Aufstieg des Bürgertums und der Arbeiterschaft (in einem weiten Sinn des Begriffs) verbunden. Die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte kann dann als zunehmende Entwertung dieser Grundlage verstanden werden, und als eine zunehmende Abkopplung und Willkür verbaler Diskurse. Eine Kunstwelt der Worte, die zunehmend um sich selbst kreist. Wir stehen ja heute oft fassengslos vor der Erfahrung, was alles nicht mehr funktioniert, ohne dass irgendein gleichwertiger Ersatz zur Verfügung steht. Und mehr noch: Vor der Unfähigkeit, solche Verluste ernstzunehmen.  

Die Worte und die Dinge (II)

Es gab frühe Warnungen vor diesem Szenario, wenn man etwa an Helmut Schelskys „Die Arbeit tun die Anderen“ aus dem Jahr 1975 denkt, das den Untertitel trägt: „Klassenkampf und die Priesterherrschaft der Intellektuellen.“ Aber Schelsky ging noch davon aus, dass es einen starken realwirtschaftlichen Sektor gab, den die „Priesterherrschaft“ nicht gänzlich übergehen und zerstören könnte. 

Und es gab Daniel Bells Buch „Die nachindustrielle Gesellschaft“ (Erstausgabe in den USA 1973), deren Aufkommen er im Grunde positiv als Fortentwicklung verstand. Aber seine Untersuchung arbeitete scharf heraus, dass die Wissenschaft, die sich anschickte, zum neuen Machtzentrum der Gesellschaft zu werden, keine praktische technische Wissenschaft war, sondern eine theoretische Wissenschaft, die auf eine Metaebene der Gesellschaft zielte. Heute würde man sagen: Sie produzierte „Narrative“. Daniel Bell sah auch eine harte Grenze für das ständige Wachstum dieses Sektors: Er erhöht die Produktivität nicht, sondern lastet auf ihr. Der dann folgende Marsch in die postindustrielle Gesellschaft hat dann tatsächlich zu einem ständigen Sinken der Produktivitätszuwächse geführt. Und die jetzige Krise könnte in vielen Ländern sogar eine Periode der Produktivitätsverluste einläuten.

Anhang:

Erinnerung an die „Gelben Westen“ in Frankreich 

Vor drei Jahren nahm in Frankreich die Bewegung der „Gelben Westen“ ihren Anfang.Hier war die Verteuerung von Benzin und Diesel durch Klima-Rettungs-Abgaben der Auslöser. Es war eine Bewegung, die in der Peripherie unseres Nachbarlandes – also außerhalb der großen Ballungsräume entstand, und die dort auch immer ihre Seele hatte. Die Bewegung wuchs rasch an, und zwar nicht auf Grund einzelner extremer und spektakulärer Gewaltaktionen, sondern durch die Einfachheit der Mittel. Die Gelbe Westen, die zunächst bei Kurzblockaden an den für Frankreich typischen Kreisverkehren sichtbar wurden, waren bald in jedem zweiten Auto in vielen Ortschaften zu sehen. Die Gelbe Weste sagte mehr als tausend Worte.   

Dann geschah noch etwas Unerwartetes. Es wurde massiv und von einem vielstimmigen Chor aus politischen Amtsträgern, namhaften Intellektuellen und prominenten Medienleuten versucht, die “gelben Westen“ sozial verächtlich zu machen. Man hätte es in den Kommentaren und Stellungnahmen dabei belassen können, den Forderungen der Bewegung zu widersprechen, aber es wurde immer etwas hinzugefügt – ein Kultur- und Moralurteil wurde über die Beteiligten gefällt. Sie wurden abqualifiziert und verächtlich gemacht. Es war erstaunlich, was da alles in den Urteilenden geschlummert hatte und offenbar nur darauf gewartet hatte, endlich einmal in die Tasten und in die Mikrophone abgelassen zu werden. Dumm seien die Protestierenden und roh, arbeitsscheu und aggressiv, erbärmliche Elendsgestalten und hoffnungslose Sozialfälle. Der Regierungssprecher sprach von „Kettenrauchern und Dieselfahrern“, die „nicht das 21. Jahrhundert verkörpern, das wir wollen“. Und immer war da auch der Hinweis, dass da „Ungebildete“ sich eine Rolle anmaßten, die ihnen nicht zustand. Da sprach nicht nur ein kleine abgehobene „Elite“, sondern ein ganzer Mittelstand – aber von der gehobenen, akademisch-urbanen Sorte, wo man es gewohnt ist, die Welt durch höheres Wissen zu bewältigen. Und die inzwischen alle jene Tätigkeiten und Lebensformen, bei denen die physische Realität der Dinge im Vordergrund steht, aus ihrem Weltbild ausgelagert haben – entweder in die Peripherie des Landes oder in andere Teile der Welt. 

In dem Versuch, diese Bewegung verächtlich zu machen, ist eine krasse Ignoranz gegenüber den Lebens- und Arbeitsformen, die außerhalb der großen Metropolen zu finden sind, zu Tage getreten. Bernhard Pudal schrieb in „Le Monde diplomatique“ Nr. 3-2019:

„Es ist das fehlende politische und soziale Gespür für den wichtigen Platz, den das Automobil im Alltagsleben großer Teile der unteren Schichten einnimmt, gegen die sich die Gelbwesten-Bewegung formiert hat. Vervielfachung der Radarkontrollen, Geschwindigkeits-Begrenzung auf Landstraßen auf 80 Stundenkilometer, Preiserhöhungen für Benzin, eine `ökologisch´ genannte Steuer auf Brennstoffe, schärfere und teurere Überprüfungen der technischen Fahrzeug-Sicherheit, Abkehr von der Diesel-Technologie – indem die Mächtigen so die Freiheit der Mobilität einschränkten, haben sie – ohne sich dessen bewusst zu sein – eine ganze Art des Wirtschaftslebens, der Freizeitgestaltung, der Geselligkeit, wie sind insbesondere in ländlichen Gebieten entwickelt worden war, die materielle Grundlage entzogen.“ 

Es geht also nicht nur um „sozial Schwache“, zu denen man sich mitleidig herunterbeugen kann und nachsichtig ihre „mangelnde Bildung“ belächeln kann. Hier sprach ein Peripherie, die sich in den vergangenen Jahre auf ihre Weise weiterentwickelt hatte und ihre eigenen Lebensmodelle entwickelt hat. Der Angriff auf das Automobil machte mit einem Schlag deutlich, wie gleichgültig und ignorant diese Leistung für „überflüssig“ hielten und sich bedenkenlos anschickten, sie zu Grunde zu richten.   

Als sich die Peripherie das nicht gefallen ließ, war die Empörung der gehobenen urbanen Milieus groß. Und sie war empört darüber, dass hier soziale Schichten die Bühne betraten, die ganz andere Lebensformen mit anderen Prioritäten repräsentierten. Und dass sie mit Erfolg diese Bühne betraten, ohne viel Worte, aber mit einigen harten Argumenten in der Sache. Die Tatsache, dass „la France populaire“ auf einmal die gesellschaftliche und politische Bühne betrat, bedrohte das Monopol der gehobenen und zentralisierten „urbanen Milieus“ und ihrer selbstbezogenen „Diskursen“. Eigentlich war davon ausgegangen, dass das „einfache Volk“ (das gar nicht so einfach war) auf ewig stumm und selbstgenügsam im Lande verstreut vor sich hinlebte. Nun aber wurde eine ganz andere Peripherie sichtbar, die sich abseits der ignoranten „urbanen“-Öffentlichkeit auf ihre Weise weiterentwickelt und behauptet hatte. 

Dieser Konflikt, der nicht einfach ein Gegensatz zwischen arm und reich, und auch nicht zwischen mächtig und abhängig war, erinnert an jenes „Sie sprachen vom Volk, als wäre es nicht da“, mit dem Alexis de Tocqueville die Situation kurz vor der französischen Revolution von 1789 beschrieb:  

„Da das Volk keinen einzigen Augenblick seit hundertvierzig Jahren auf dem Schauplatz der öffentlichen Angelegenheiten erschienen war, hatte man ganz und gar aufgehört zu glauben, dass es sich jemals wieder dort zeigen könne; da man es so unempfindlich sah, hielt man es für taub, so dass, als man sich für sein Los zu interessieren begann, man in seiner Gegenwart von ihm selbst in einer Weise sprach, als ob es nicht zugegen wäre.“

(Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, 1856)

Die Unterordnung der Energiepolitik unter die Klimapolitik ist gescheitert

Die Energiekrise ist da, und ein Ausweg ist nicht in Sicht. Um das zu ändern, muss die Strategie, die in diese Sackgasse geführt hat, in den Blick genommen werden.   

Die Unterordnung der Energiepolitik unter die Klimapolitik ist gescheitert

30. September 2022

Nun ist die Energiekrise nicht mehr zu leugnen, und sie ist dabei, sich zu einer Wirtschafts- und Gesellschaftskrise zu vertiefen. Angesichts der schweren Belastungen und Opfer wäre es dringend geboten, eine Bilanz jener neueren Energiepolitik in Deutschland (und anderen Ländern) zu ziehen. Ein wesentliches Merkmal dieser Politik besteht darin, dass sie der „Klimapolitik“ untergeordnet wurde. So entstand die „Energiewende“. Die immense Verteuerung von Energie und die akut drohenden Versorgungsausfälle sind daher nicht einfach ein Unglück, das über uns hereingebrochen ist. Sie waren strategisch gewollt. Sie wurden billigend in Kauf genommen. Denn das erste und grundlegende Element der Energiewende war und ist die Ausschaltung aller fossilen Energieträger. Die drastische Verteuerung dieser Energieträger war dabei ein Mittel. Dass die Energie für Motoren, Heizungen und Produktionsprozesse, die von diesen Trägern stammen, unbezahlbar teuer werden, war und ist politisch gewollt. Zu dieser Negativ-Strategie gehört auch, dass der Öffentlichkeit ein extremes Bedrohungsszenario präsentiert wurde: eine „Überhitzung des Planeten“, die in wenigen Jahren einen Punkt erreicht, wo sie „irreversibel“ geworden ist. Und was geschah auf der Haben-Seite? Welche alternativen Energieträger gibt es? Sind sie beim heutigen Stand der Technik vergleichbar produktiv und zu einer stetigen, flächendeckenden Versorgung fähig? In diesem Punkt herrschte ein erstaunlicher Leichtsinn. Die offenkundigen Grenzen und Anfälligkeiten der „regenerativen“ Energieträger wurden überspielt mit dem Versprechen, diese Probleme seien „prinzipiell lösbar“. Doch nun stellt sich heraus, dass diese Alternative nicht liefern kann. Sie hat keine Antwort auf die jetzt eingetretene Energieknappheit. Auf ihrer Grundlage werden Teuerung und Knappheit dauerhaft auf dem Land lasten. Keine Wertschöpfung der Unternehmen und kein Arbeitslohn der Beschäftigten kann diese Belastung ausgleichen. Es droht ein historischer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Rückschritt. Das liegt nicht an einzelnen Fehlern und Versäumnissen – es ist die Folge der Unterordnung der Energiepolitik unter die Klimapolitik. Dieser ganze Ansatz ist gescheitert. 

Indirekte Eingeständnisse des Scheiterns

Indirekt ist das Handeln der Regierenden ein Eingeständnis dieses Scheiterns. Man sucht auf den Weltmärkten nach Öl, Kohle und Gas. Es soll von Gas auf Kohle und Öl umgerüstet werden – de facto vertrauen sie also nicht darauf, dass Wind und Sonne es schon richten werden. Man stelle sich vor, sie hätten in den vergangenen Jahren die Abschalte-Strategie noch mehr beschleunigt (das wurde ja vielfach gefordert): Dann stünden jetzt solche Ausweichmöglichkeiten überhaupt nicht mehr zur Verfügung.

Im Weltrahmen gibt es schon länger ein solches indirektes Eingeständnis des Scheiterns. Im April 2022 stellte das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) fest, dass ein Verfehlen des 1,5-Grad-Ziels „nahezu unvermeidlich“ ist. Die Erderwärmung wird die Pariser Klimaziele mehrere Jahrzehnte lang überschreiten. Hier haben die meisten Entwicklungs- und Schwellenländer, darunter China und Indien, klargemacht, dass ihre Kohlendioxid-Emissionen in den nächsten 10 oder 20 Jahren noch steigen werden, weil sie ihren Entwicklungsrückstand aufholen müssen und wollen. Und dem haben auf den Welt-Klima-Konferenzen auch die weiter entwickelten Länder nicht widersprochen. So wissenschaftlich zwingend ist der Ruf nach einer Notabschaltung der fossilen Energieträger wohl doch nicht. Und wenn die erneuerbaren Energien so toll wären und das Beste für die Unabhängigkeit der Länder, wie bei uns behauptet wird, müssten doch eigentlich die Entwicklungsländer längst auf sie gesetzt haben. Haben sie aber nicht. Offensichtlich stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis bei diesen Energieträgern nicht.    

Und jetzt zeigt sich beim Musterschüler Deutschland, dass auch er sich den Abschaltplan der Weltklimarettung nicht leisten kann. In einer geschichtlichen Situation, wo einzelne fossile Energieträger knapp werden, kann die „Energiewende“ nicht liefern. Wir stürzen in eine Energiekrise, deren Kosten und Ausfälle existenzbedrohend ist. Da wäre es eigentlich naheliegend, die ganze Negativ-Strategie der „Abschaltung fossiler Energieträger“ auch hierzulande in Frage zu stellen. Es wäre geboten, getroffene Stilllegungs-Entscheidungen zu revidieren oder zumindest ihre Umsetzung aufzuschieben (durch ein Moratorium). Aber diese grundlegende Debatte wird noch unterm Deckel gehalten. Noch ist reflexhaft von „unserem Klimaziel“ die Rede.   

Der Ruf nach einem „Plan B“ in der Klimapolitik

In dieser Situation sind alle Stimmen wertvoll, die vernünftig Ziele und Opfer abwägen, und daraus strategische Änderungen entwickeln. Sie müssen dazu nicht jeden Klimawandel bestreiten, aber auf konstruktiven und realistischen Lösungen bestehen. Am 3.9.2022 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Klimapolitik: Zeit für einen Plan B“ ein bemerkenswerter Diskussionsbeitrag. Autoren waren Kim Campbell (ehemalige kanadische Premierministerin) und Peter R. Neumann (Professor für Sicherheitsstudien am Kings College in London). Statt wegen der verfehlten Ziele der Klimapolitik eine zu zögerliche Politik anzuprangern, sehen die Autoren einen falschen Ansatzpunkt und eine falsche Priorität in der bisherigen Klimapolitik:

„Ein wichtiger Grund dafür (für die Ineffizienz der Klimapolitik, GH) ist, dass sich fast alle Anstrengungen zur Bekämpfung des Klimawandels bisher darauf gerichtet haben, den Ausstoß von Kohlendioxid – des wichtigsten Treibhausgases – zu reduzieren, so etwa durch die Umstellung auf erneuerbare Energiequellen oder die Förderung von Elektromotoren. Doch dieser Prozess verläuft viel zu langsam, um die Erderwärmung in naher Zukunft zu begrenzen.“

Das passt zu den Erfahrungen, die wir jetzt in der Energiekrise machen. Die Verzahnung der fossilen Energieträger mit bestehenden Betriebsabläufen, Infrastrukturen und dem Alltagsleben ist viel enger und vielfältiger, als bisher vermutet – und daher viel schwerer zu ersetzen. In vielen Fällen gibt es überhaupt noch gar keine operative Lösung. Deshalb schlagen sie einen Strategie-Wechsel vor:

„Eine neue Strategie ist deshalb notwendig, um die katastrophalen Folgen des Klimawandels in den Griff zu bekommen. Statt weiterhin fast ausschließlich auf Emissionsreduktion zu setzen, müssen viel stärker auch andere Maßnahmen genutzt werden. Welche Maßnahmen sind das? Am wichtigsten ist die Anpassung an den Klimawandel, beispielsweise durch den Bau von Dämmen, freiwillige Umsiedlungen, aber auch Bildungs- und Gesundheitsprogramme. Solche Maßnahmen sind seit Langem Teil der internationalen Klimaschutzpolitik, müssen aber dringend ausgeweitet und beschleunigt werden.“

Das bedeutet: Man muss noch längere Zeit CO2-Emissionen auf hohem Niveau tolerieren und daran arbeiten, bestimmte negative Folgen des Klimawandels abzuwehren und widerstandsfähigere Strukturen aufzubauen. Man verabschiedet sich also von der Vision, bald das Weltklima steuern zu können und dadurch „die Ursache“ aller Belastungen in den Griff bekommen. Und man bekommt stattdessen eine größere, unmittelbar wirksame Abwehrkraft gegen einzelne Folgen 

Campbell und Neumann umreißen noch zwei Aufgabenbereiche. Sie greifen etwas weiter: Zum einen die „Entfernung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre“ (durch Aufforstung von Wäldern; oder durch Speicherung in eingerichteten geologischen Lagerstätten). Zum anderen wird das sogenannte „Solar Engineering“ erwähnt. Ein Teil der anvisierten Lösungen klingt noch sehr nach Zukunftsmusik und hier gilt das Gleiche, was die Autoren für die erneuerbaren Energien schreiben: Wann und in welchem Umfang sie etwas zur Beeinflussung des Weltklimas beitragen können, ist fraglich. Der Text der Autoren ist auch nicht ganz eindeutig. Zum einen schreiben sie von einer „neuen Strategie“, und anderer Stelle ist nur von einer „ergänzenden“ Rolle die Rede.

Die Energieversorgung als eigenständige Zivilisations-Aufgabe

Doch enthält der Strategiewechsel-Vorschlag von Campbell und Neumann einen wichtigen Grundgedanken: Mit der CO2-Strategie wurde die Klimapolitik zum Herren über die Energiepolitik gemacht. Damit war die eigenständige Aufgabe der Energiepolitik – die Zivilisations-Aufgabe der Energieversorgung – zu einer sekundären Größe: Wenn die Klimapolitik – im Namen der Natur – einen absoluten Imperativ („CO2-Neutralität“) aufstellt, muss die Energiepolitik Abstriche von ihrer Versorgungs-Effizienz hinnehmen. Das kann unter Umständen drastische Verteuerungen, Lücken und Unregelmäßigkeiten bedeuten. Genau diese Gefahr ist jetzt akut geworden. 

Die grundlegende Aufgabe besteht jetzt darin, dass die Energieversorgung mit den ihr eigenen Mitteln und der ihr eigenen Rationalität von den Aufgaben, die sich in Bezug auf das Erdklima stellen, scharf getrennt wird. Das Klimathema führt – als Natur-Thema – in sehr komplexe, vieldeutige Zusammenhänge, die zum Teil gar nicht erforscht sind und zum Teil vielleicht auch nicht definitiv zu klären sind. Das Thema ist anfällig für Hysterie und Hybris. Auf jeden Fall ist es hochgefährlich, die gesamte Energie-Infrastruktur von dieser unsicheren Größe her bestimmen zu wollen. Die Energie-Infrastruktur muss nicht nur eine bestimmte Menge an verwertbarer Energie liefern, sondern sie muss auch den Anforderungen „Flächendeckend“ und „Stetig“ genügen. Sonst verliert unsere Zivilisation einen wesentlichen Träger. Energiefragen müssen also von Klimafragen getrennt werden. Der Energiebereich muss wieder eine eigene Fachdiskussion nach eigenen Maßstäben bekommen. Geschieht das nicht, besteht immer die Gefahr, dass die historisch entwickelte Breite und Vielfalt des modernen Energiesystems nicht mehr verstanden und verteidigt wird. Unter dem einseitigen Imperativ der „Klimaneutralität“ wird sie vereinseitigt. Die Energie-Infrastruktur verliert die Flexibilität, die durch verschiedene Energieträger gewährleistet ist.     

Die Energiewende und ihre technologische Armut

Jahrzehntelang galt es als Grundsatz der Energieversorgung in Deutschland und vielen anderen Ländern, auf eine Vielzahl unterschiedlicher Energieträger zu setzen und sich damit gegen den Ausfall einzelner Träger zu wappnen. In dieser Zeit gab es auch eine starke und eigenständige Fachdiskussion über Energie-Gewinnung und Energie-Infrastruktur. Dieser technologische Pluralismus galt auch auf vielen anderen Tätigkeitsfeldern und Branchen – in Industrie, Handwerk, Landwirtschaft, Dienstleistungen und im Bauwesen. Demgegenüber war die „Energiewende“ eine Wende in die Einseitigkeit. Mit „Sonne und Wind“ wurde das Land mehr und mehr in eine Abhängigkeit von Quellen gebracht, die sehr ungleichmäßig in Raum und Zeit verfügbar sind. Diese Wende wurde nicht von innen aus neuen Erkenntnissen der Fachdiskussion entwickelt, sondern von außen im Namen der Natur (als sogenanntes „Umwelt-Problem“) importiert. Damit war eine massive Energiekrise im Grunde schon vorprogrammiert. 

Diese Krise ist jetzt da. In diesem Herbst 2022 spitzt sie sich Tag für Tag weiter zu, und auch im kommenden Jahr ist keinerlei Entspannung in Sicht. Der Notruf der Bäcker und die große Resonanz, die er gefunden hat, zeigt, wie existenzbedrohend die Situation ist und dass sie auch so im ganzen Land empfunden wird. De facto müssen jetzt alle möglichen Notlösungen gefunden werden, die noch vom technologischen Pluralismus der Vergangenheit zehren – siehe jene drei Kernkraftwerke, die nun noch ein paar Monate länger laufen dürfen. Aber an der Grundaufstellung, die zu dieser Energiekrise geführt hat, wird nichts geändert. Ohne auch nur einen Moment lang innezuhalten, wird „unser Klimaziel“ weiter hochgehalten. Und auch der politische Sammel-Karton „Klima- und Energiepolitik“ wird gedankenlos wiederholt.

Der zerbrochene Gesellschaftsvertrag

Wenn wichtige Güter auf einmal unbezahlbar werden, zerbricht das in einem Land etablierte Verhältnis von Leistung und Gegenleistung. Die Folge ist eine Arbeitskrise, die sich in Deutschland schon deutlich abzeichnet.  

Der zerbrochene Gesellschaftsvertrag

20. Juli 2022

Erst allmählich wird klar, wie einschneidend die Krise ist, in die Deutschland jetzt hineinläuft. Historisch errungene Positionen und grundlegende Fähigkeiten werden zerstört – und das nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft. Die Preise werden nicht auf ihr früheres Niveau zurückkehren. Eine Ursache ist der Wirtschaftskrieg gegen Russland, der sich immer mehr als selbstzerstörerischer Krieg erweist, insbesondere in Europa. Aber es liegt noch ein viel größerer Schatten auf dem Land – eine Grundentscheidung, die die Produktivität der Betriebe und die Tragfähigkeit der Infrastrukturen auf ein historisch längst überholtes Niveau senkt: die „Rettung“ des Erdklimas. Mit ihr wurden Wirtschaft und Staat unter ein umfassendes höchstes Gebot gestellt, das den Betrieb von Kraftwerken, Fahrzeugen und Gebäuden einschränkt, ohne dass es gleichwertigen Ersatz gäbe. Deutschland befindet sich mitten in einem großen Stilllegungs-, Blockierungs-, Lockdown- und Cancel-Szenario. Die Teuerungswelle ist die erste Konsequenz, bald werden elementare Güter des Lebens rationiert werden. Das bedeutet eine grundlegende Änderung des wirtschaftlichen und politischen Lebens. Wir bekommen eine Zuteilungs-Wirtschaft und einen Zuteilungs-Staat. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung wird zu einer neoautoritären Ordnung. 

Zwar wird diese Veränderung als „objektiv gebotene“ Notwendigkeit dargestellt, aber sie ist eine von Menschen getroffene Entscheidung, eine Wahl. Die pauschale Verabschiedung aller fossilen Energieträger ist eine völlig einseitige, keineswegs alternativlose Reaktion auf einen Klimawandel, der keineswegs linear auf eine Katastrophe zuläuft. Diese Reaktion ist im Grunde eine Notabschaltung. Und dieser Kurs wird blind beibehalten, obwohl sich schon eine dramatische Häufung von Kosten und Opfern zeigt. Die Vermutung, hier liege nur ein „Elitenversagen“ vor, greift zu kurz. Hier muss ein soziales Versagen vorliegen eine Fehlentwicklung der Gesellschaft. Ein größerer Sektor der Gesellschaft hat inzwischen kein Verhältnis mehr zur Produktivität von Betrieben und zur Tragfähigkeit von Infrastrukturen. Die Anforderungen an Mensch und Natur, die sich daraus ergeben, sind ihnen fern wie ein fremdes Land. Der bürgerlich-industrielle Gesellschaftsvertrag, der das hohe wirtschaftliche, politische und kulturelle Niveau Deutschlands ermöglichte, hat seine Verbindlichkeit verloren. Er zerbricht vor unseren Augen.   

Was durch die Preis-Revolution zerstört wird 

Die folgende Passage in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.4.2022) ist in zweifacher Hinsicht lehrreich. Hier wird einerseits deutlich, dass die „Klimarettung“ trotz existenzbedrohender Knappheiten weiter fortgesetzt wird, und sogar noch auf weitere Bereiche (Gebäude und Verkehr) ausgedehnt wird. Und andererseits werden die Konsequenzen für die Konstitution und den Bestand der modernen Gesellschaft gar nicht ernsthaft in den Blick genommen, sondern völlig verharmlost.     

„Die stark gestiegenen Preise für Gas, Öl und Benzin haben einen Vorgeschmack darauf geliefert, welche sozialen Folgen die ehrgeizige Klimapolitik der EU haben kann. Das gilt insbesondere für die umstrittene Ausweitung des Emissionshandels von Industrie und Energieunternehmen auf Gebäude und Verkehr. Von 2026 an sollen auch die Lieferanten von Heiz- und Treibstoffen für ihren CO2-Ausstoß bezahlen. Das hat die EU-Kommission vorgeschlagen, um die in beiden Sektoren unverändert hohen Emissionen zu senken. Sie hofft, dass Haushalte etwa in CO2-freie Heizungen und andere Fortbewegungsmittel investieren, wenn das Heizen und Autofahren teurer wird. Zugleich belastet das natürlich vor allem sozial schwache Haushalte besonders stark.“ 

Hier liegt zunächst einmal eine dreiste Beschönigung der beschlossenen Energie-Verteuerung vor: Sie soll so hoch sein, dass die Menschen einen „Anreiz“ haben, andere Energiesysteme für Verkehr und Gebäude zu wählen. Besteht der Anreiz darin, dass die neuen Systeme ein besseres Preis-Leistungs-Verhältnis haben? Mitnichten, denn das Ziel ist ja negativ: Beendigung aller Energiegewinnung aus fossilen Energiequellen. Die Verteuerung führt keineswegs zu einer besseren Alternative, sondern zu einer Energiegewinnung mit einem schlechteren Preis-Leistungs-Verhältnis. Obendrein führt die Abhängigkeit der „regenerativen“ Energien von Wind und Wetter dazu, dass ihr Output an verwertbarer Energie sehr unregelmäßig ist und die Anforderung der Stetigkeit, die für moderne Energie-Infrastrukturen unverzichtbar ist, nicht erfüllt wird. Die angeordnete Verteuerung und Abschaltung der herkömmlichen Energieträger soll also eine Wende erzwingen, die sich aus einer freien Abwägung von Vor- und Nachteilen gar nicht ergeben würde. Der Kosten-Anreiz ist in Wahrheit ein Kosten-Zwang.  

Die Mär von den „besonders betroffenen Armen“ 

Und dann folgt in dem zitierten FAZ-Artikel der Satz, auf den es hier ankommt: Es geht um die sozialen Folgen der Energieverteuerung. Indirekt wird zugegeben, dass der gewählte Kurs eine Mehrbelastung bedeutet. Aber dann wird behauptet, die Mehrbelastung sei nur für einen kleinen Teil der Gesellschaft problematisch – nämlich für die „sozial schwachen Haushalte“. Was soll „sozial schwach“ heißen? Es sind die einkommensschwachen Haushalte, die „Armen“ und Mittellosen, die auf Hilfe angewiesen sind. Aber blicken wir einmal auf die Facharbeiter oder auch die angelernten Arbeiter. Sie gehören nicht zu den Armen und Mittellosen. Sie betrachten ihren Lohn nicht als Zuwendung in einer Notlage, sondern als Gegenwert für ihre Leistung. Ihr Arbeitsvertrag gehört zum bürgerlichen Gesellschaftsvertrag. Und nun wird durch die Teuerungswelle der Wert ihres Lohns stark herabgesetzt – und damit der Wert ihrer Leistung. Sie verlieren viel mehr als diejenigen, die von Sozialhilfe leben. 

Die Teuerungswelle führt bei der arbeitenden Bevölkerung ganz konkret dazu, dass bestimmte Güter, die sie sich bisher leisten konnte, nun für sie unerreichbar werden. Die Kombination von Wirtschaftskrieg gegen Russland und Klimarettung führt bei vielen dazu, dass sie ihr Auto nicht mehr halten können; oder dass das Geld für die große Ferienreise mit der Familie fehlt; oder dass die bisherige Wohnung in günstiger Lage nicht mehr bezahlbar ist. Das Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung hat sich also stark und dauerhaft verschlechtert. Nicht nur nominell im Geldbetrag, sondern ganz materiell in Arbeitsstunden und erreichbaren Gütern. Der Gesellschaftsvertrag wird einseitig außer Kraft gesetzt. 

Das gilt nicht nur für die große Mehrheit der Haushalte im Land, sondern auch für die Unternehmen. Deren Kosten werden durch die Verteuerung der Energie erheblich gesteigert, und sie können diese Kosten nicht ohne weiteres an die Käufer ihrer Produkte weitergeben. Denn deren Kaufkraft ist begrenzt. Entweder müssen die Unternehmen einen Teil der Mehrkosten in ihrer Bilanz auffangen – dann sinken die Erträge des Unternehmens. Oder sie versuchen, die Kosten vollständig weiterzugeben – dann gehen die Absatzzahlen zurück und eventuell verschwinden ganze Märkte. Auch für die Unternehmen wird das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung verschlechtert, auch hier zerbricht der bestehende Gesellschaftsvertrag. Und auch für die staatliche Infrastruktur verändern sich die Verhältnisse: Ihre Herstellungs- und Unterhaltskosten steigen, während zugleich die Auslastung zurückgeht, wenn seltener von den Verkehrs- und Versorgungssystemen seltener Gebrauch gemacht wird. War der Zustand der Infrastrukturen bisher ein Zeichen eines guten Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung zwischen Bürgern und Staat, gibt es nun Verfallserscheinungen.  

„Gesellschaft“ bedeutet Leistung und Gegenleistung 

Hier zeigt sich, wie unzureichend es ist, die Folgen der Preis-Revolution nur bei einzelnen besonders betroffenen Gruppen zu suchen. Und überhaupt die Bürger als „Betroffene“ anzusehen, und nicht als Leistungsträger. Die Idee des Gesellschaftsvertrages geht davon aus, dass ein modernes Land sich nicht aus einer „zuteilenden Hand“ und einer Vielzahl von „Empfängern“ zusammensetzt, sondern aus einer Vielzahl von Leistungsträgern – und aus vielfältigen Verhältnissen von Leistung und Gegenleistung. Und dass die Stabilität eines Landes immer die Form von mehr oder weniger dauerhaften Verträgen annehmen muss, in der diese Gegenseitigkeit ihren Ausdruck findet. Es bedeutet daher einen tiefen Bruch, wenn eine Teuerungswelle aufgrund völlig einseitiger Entscheidungen („Klimarettung“, „Wirtschaftskrieg gegen Russland“…) stattfindet, und dann nicht einmal von dem Vertragsverhältnis die Rede ist, das dadurch ja tangiert wird. Das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung wird faktisch verschlechtert, ohne als Rechtsverhältnis überhaupt nur erwähnt zu werden.  

Ein Präzedenzfall: die Migrationskrise 

Migration ist in modernen Zeiten eine alltägliche Tatsache mit einer langen Geschichte. Zu dieser Normalität gehört, dass es eine Übereinkunft zwischen dem Migranten und dem aufnehmenden Land gibt. Auch hier ist eine Art Vertrag im Spiel. Aber seit etlichen Jahren, insbesondere seit der Migrationskrise von 2015, findet eine massenhafte, einseitige Grenzüberschreitung statt. Von einem Vertrag ist nicht mehr die Rede. Stattdessen wird behauptet, dass die heutige Massenmigration aufgrund einer allgemeinen Notlage stattfinden muss. Migration wird auf Flucht-Migration reduziert. Und daraus wird ein einseitiges Migrationsrecht und eine einseitige Aufnahmepflicht der Zielländer konstruiert. Das Grunderfordernis der beiderseitigen Zustimmung wird ausgehebelt. So steht heute der größere Teil der Migration auf der Welt außerhalb jeden Vertrags. Das hat, nicht nur in Deutschland, dem alltäglichen, fraglosen Zusammenhalt eines Landes durch das Prinzip „Gesellschaftsvertrag“ eine schwere Verletzung zugefügt. Diese Wunde ist nach wie vor offen.     

Die neue Macht der „großen Ziele“ 

Eigentlich gehört es zu den Grunderkenntnissen der Moderne, dass es hier niemand gibt, der den Anspruch erheben kann, „die Zukunft“ zu repräsentieren. Weder eine Partei, noch eine bestimmte soziale Schicht oder Generation kann das für sich beanspruchen. Doch nun wird mit eben diesem Anspruch regiert: Man behauptet, Erkenntnisse zu haben, auf Grund derer man ein umfassendes, oberstes Jahrhundert-Ziel unzweifelhaft festlegen kann. Das Denken und Entscheiden bezieht sich dann nur noch auf die Mittel zum Zweck, wobei der Zweck nicht mehr in Frage gestellt werden darf. Deshalb fangen so viele Statements mit Formulierungen an wie „Wenn das Klimaziel erreicht werden soll, muss…“. Und unsere „Liberalen“ und „Marktwirtschaftler“ sprechen nur noch vom „Preis-Instrument“, das jetzt das beste Mittel sei. Aber die normative Vorgabe „Dekarbonisierung“, die eigentlich für die erhöhten Preise verantwortlich ist und die an keinem Markt entstanden ist, wird folgsam übernommen. So ist die Entwicklung des Energiesektors mit allen Folgewirkungen auf Industrie und Infrastrukturen zu einer Verordnungssache geworden.

Eine Welt der leichten Siege 

Für diese Machtergreifung der „großen Ziele“ gibt es ein bestimmtes Einfallstor. Das ist der Glaube, eine gute und schöne Welt, menschlich und natürlich, sei als solche herstellbar. Eine ganze Zukunft sei insgesamt machbar, wie ein Produkt oder eine Dienstleistung. Sie könne bestellt und geliefert werden. Diese Vorstellung ist kein naiver Volksglaube, der vor allem bei den Unterschichten zu Hause wäre. Nein, er findet sich heute bei den gehobenen, besserverdienenden, mit akademischen Titeln ausgestatteten, urbanen Mittelklassen. Sie finden sich dort, wo „Dienstleistungen“ dominieren, die in Wirklichkeit der Lenkung von Menschen und der Steuerung der gesamten Gesellschaft dienen. Dafür gibt es heute vielfältige Kanäle und Branchen. Ihre Macht zeigt sich unter anderem daran, dass es ihnen gelingt, weite Teile von Wissenschaft, Kunst und Medien in den Dienst der „großen Ziele“ zu stellen. 

Ein Merkmal fällt dabei auf: eine täuschende Leichtigkeit. Die neuen Mittelklassen gewinnen Einfluss indem sie suggerieren, ihre großen Ziele ließen sich umstandslos mit dem „guten Leben“ verbinden. Das ist eine erstaunliche Wendung, denn die industriellen Klassen (Bürgertum und Arbeiterschaft) gingen aus guten Gründen davon aus, dass Entwicklung nur möglich war, wenn man Opfer an Lebenszeit und Lebensfreude brachte. Diese Vorleistungen zu akzeptieren und sie als Ausdruck von aktiver Würde zu erbringen, war Teil ihres „Realismus“. Doch nun soll es ohne diese Vorleistungen gehen. Keine Opfer an Spontaneität, keine Beeinträchtigungen der „bella figura“. Keine Monotonie am Arbeitsplatz, keine Entfremdung und Verdinglichung in den Tätigkeiten, keine Durststrecken bis zum Erreichen des Feierabends oder des Jahresurlaubs. Überhaupt all diese blöden „Verhärtungen“ der Persönlichkeit – die neuen „großen Ziele“ sollen ganz ohne sie erreichbar sein. Schon auf dem Weg zum Guten und Schönen soll alles gut und schön sein. Dieser krasse Widerspruch zwischen höchsten Wendezielen und unmittelbarem Glücksanspruch findet sich nicht nur in blauäugigen Programmen, sondern er bestimmt den Gefühlshaushalt der gehoben sozialen Schichten, die unsere Gegenwart bestimmen. 

Über Vorleistung und Gegenleistung 

Umso wichtiger ist es, dagegen das bürgerliche Weltverhältnis, das im Gesellschaftsvertrag seine Form fand, scharf hervorzuheben. Man kann es vielleicht pointiert so sagen: Was das Bürgertum historisch auszeichnete und was sich mit der Industriearbeiterschaft weiter generalisierte, war eine neue Redlichkeit gegenüber der Schwere dieser Welt. Die Stärke des bürgerlichen Weltbezugs bestand darin, dass die Kosten und Opfer des Guten und Schönen klarer gesehen und systematischer eingegangen wurden. In der realen Welt sind Nutzen untrennbar mit Kosten verbunden. Annehmlichkeiten sind mit Mühen verknüpft, Gutes mit Bösem, Herrliches mit Schrecklichem. Deshalb enthalten bürgerliche Gesellschaftsverträge Rechte und Pflichten. Sie sind in einem tiefen Sinn ein Nehmen und Geben. Und hier gibt es eine zeitliche Asymmetrie. Das Schwere muss oft als Vorleistung erbracht werden, und die Früchte können erst später als Gegenleistung erwartet werden. So gehört zum Beispiel auch der Leitsatz „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ zum bürgerlichen Gesellschaftsvertrag. Gerhard Schröder war wohl der vorläufig letzte Kanzler der Bundesrepublik, der diesen Satz noch freimütig aussprechen konnte.  

Über Anpassung und Reichweite 

„Realismus“ meint in diesem Zusammenhang nicht den Rückzug in eine bescheidene Nische dieser Welt. Er sucht weitere Horizonte, er ist ein Freiheitsprogramm – aber kein bedingungsloses Freiheitsprogramm. Der bürgerliche Realismus enthält die Erkenntnis, dass die Reichweite der Freiheit von der Anpassung an bestimmte, vorgegebene Bedingungen abhängt. Die Philosophie der Moderne hat diesen Dualismus von Anpassung und Reichweite in einigen berühmten Sätzen zum Ausdruck gebracht: Francis Bacon fasst das menschliche Naturverhältnis in dem Paradox „Wir können die Natur nur dadurch beherrschen, dass wir ihr gehorchen“ („natura non vincitur nisi parendo“). Thomas Hobbes gründet den modernen Staat auf einen gesellschaftlichen Vertrag „Sicherheit gegen Gehorsam“ („protego ergo obligo“). Und hierhin gehört auch Georg Wilhelm Friedrich Hegels Figur des „Knechts“, der den (kurzen) Kampf auf Leben und Tod (den der „Herr“ mit seinesgleichen ausficht), meidet, und dadurch auf die Auseinandersetzung mit der gegenständlichen Welt verwiesen ist – auf ein Feld, dass sich dann als viel fruchtbarer und weitreichender erweist als das Schlachtfeld. Man muss Hegels Weltgeist-Metageschichte gar nicht unterschreiben, sondern kann den „Knecht“ als Figur verstehen, die den bürgerlich-modernen Weltbezug gegenüber dem aristokratischen Weltbezug verkörpert. Eine Pointe von Hegels „Knecht“ besteht darin, dass hier die „Entfremdung“ und „Verdinglichung“ des Knechts einen positiven Sinn bekommt: Sie eröffnet eine Handlungsfeld mit neuen Reichweiten – und neuen Freiheiten. 

Aber man muss gar nicht in solche philosophischen Höhen steigen. Unser alltäglichster Alltag enthält diese Verbindung von Anpassung und Reichweite. Er besteht aus Dualismen: der Arbeitstag und sein Feierabend, die Arbeitswoche und ihr Wochenende, das Arbeitsjahr und sein Jahresurlaub. Auch jede Biographie unterteilt sich in Arbeitsjahre und Jahre des Ruhestands. Und das Leben am Montag fühlt sich ganz anders an als das Leben am Freitag nach Arbeitsschluss. Das ist sozusagen der gefühlte Gesellschaftsvertrag. Zugleich zehren wir in den arbeitsfreien Zeiten auch von den Erfahrungen und Fähigkeiten, die wir in der Arbeitszeit erworben haben. So setzt sich die Moderne aus Anpassung und Reichweite zusammen. Ihre Freiheit wird dadurch größer als vor-moderne Freiheiten. Heute sind die Zeitrhythmen von Arbeit und Nicht-Arbeit etwas anders, aber es bleibt wichtig, diese beiden Seiten auseinanderzuhalten und beide zu bejahen. 

Der zerbrochene Gesellschaftsvertrag 

Erst vor diesem Hintergrund wird die Bedeutung der jetzigen Teuerungswelle erkennbar. Sie bedeutet einen tiefen Einschnitt in das Verhältnis von Vorleistung und Gegenleistung. Wenn das Automobil, das in Deutschland als eine Art „Grenzgut“ den errungenen Stand des Gesellschaftsvertrages markiert, nun für die große Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr bezahlbar sein soll, ist dieser Vertrag zerbrochen. Hier fällt nicht nur irgendein Konsumgut weg, sondern auf einmal sind große Teile unseres Siedlungssystems (und die damit verbundenen Lebensmodelle) entwertet, weil es keine adäquate Mobilität mehr für sie gibt. Die naive Idee einer Weltrettung, bei der wir jeden Morgen mit fröhlichem Gesicht aufstehen und das gute Leben nur auf uns wartet, wird auf einmal zu einem Alptraum bedrückender Knappheit – ohne Aussicht auf bessere Tage. Die postindustrielle Gesellschaft zeigt ihr hässliches Gesicht.    

Insofern ist die Teuerungswelle eine epochale Erfahrung, die in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. 

Der Fluch der „postindustriellen Gesellschaft“ 

Die Teuerungswelle bei den Nahrungsmitteln weckt uns aus den grünen Blütenträumen der „Agrarwende“. Was nützt eine Nachhaltigkeit, bei der es gar keine ausreichende Produktivität mehr gibt? 

Der Fluch der „postindustriellen Gesellschaft“ 

30. Juni 2022

Es gibt einen Bereich der Teuerungswelle, der die Menschen zu Recht besonders beunruhigt: die Preise der Nahrungsmittel. Wenn die alltäglichsten Dinge auf einmal einen Preissprung machen, gerät der sicher geglaubte Boden unter unseren Füßen ins Wanken. Und es sind nicht einige besondere Produkte, die sich verteuert haben, sondern die Preissteigerung geschieht auf breiter Front. Sie hat inzwischen auch ein historisches Ausmaß erreicht: Der Lebensmittel-Index der Welternährungsorganisation FAO hat den höchsten Stand seit 1961 erreicht (Bericht im Wirtschaftsteil der FAZ am 19.3.2022). Diese Entwicklung ist nicht allein auf die Ukraine-Krise zurückzuführen, sondern setzte schon früher ein. Nahrungsmittel umfassen sehr verschiedene Produkte. Die Landwirtschaft ist daran beteiligt, aber auch eine umfangreiche weiterverarbeitende Industrie. Man findet sehr unterschiedliche Betriebsformen und Arbeitsformen. Dabei kommt es nicht nur auf den Menschen an, und auch nicht allein auf die Natur. Vielmehr müssen beide Seiten zusammenkommen, und das heißt nicht nur Zusammenwirken, sondern auch Auseinandersetzung. Wenn ein globaler Preisindex über Jahre eine ansteigende Tendenz hat, kann das nicht an einem einzelnen Ereignis wie dem Krieg in der Ukraine liegen. Und wenn ein schon länger in Europa laufendes Programm wie die „Agrarwende“ den Preissteigerungen nichts entgegensetzen kann, sondern eher teurere Produkte auf den Markt bringt, spricht das nicht dafür, dass von dieser Seite ein Beitrag gegen die Verteuerung des Lebens zu erwarten ist. Und auch das Allheilmittel „Digitalisierung“ scheint auf diesem Feld zu versagen, denn an der realwirtschaftlichen Front, an der grundlegende Lebensmittel der Natur physisch abgerungen werden müssen, hat die Digitalisierung wenig beizutragen. Es hapert oft an sogenannten „einfachen“ Dingen, die aber physisch getan werden müssen, und die durch mehr Information und Kommunikation noch nicht erledigt sind. Es geht um die berühmten „Mühen der Ebene“, und da steht die „postindustrielle Gesellschaft“ jetzt ziemlich hilflos da. Sie beschäftigt sich offenbar mit den falschen Dingen. 

Eine „tiefe“ Teuerung 

Auf der weltweiten Teuerungsliste der Welternährungsorganisation FAO stehen die Speiseöle ganz oben (Steigerung seit April 2016 135 Prozent), gefolgt von Getreide (92 Prozent) und Milchprodukten (91 Prozent). Fleisch mit 39 Prozent und Zucker mit 30 Prozent sind geringer gestiegen, aber auch noch überdurchschnittlich. Es ist ein Merkmal dieser Teuerungsentwicklung, dass sie bei den Erzeugerpreisen beginnt und erst nach und nach in die Verbraucherpreise eingeht. Nimmt man erhöhten Düngemittel-Preise und die stark verteuerten Transporte vom Erzeuger zum Verbraucher hinzu, verstärkt sich dies Bild: Es ist eine „tiefe“ Teuerung, die in die ersten Stufen der Nahrungsmittel-Gewinnung zurückreicht. Sie ist kein vordergründiges Hin und Her zwischen Einzelhandel und Verbrauchern. 

Der Lebensmittel-Preisindex der FAO lag im April 2022 bei 154 Punkten. Im Jahr 2020 lag er noch bei 99,2 Punkten. Vorher hatte er schon einmal (im Jahr 2011) die Höhe von 118,8 erreicht (siehe FAZ-Wirtschaftsteil vom 23.5.2022: „Wie Nahrungsmittelkrisen entstehen“). Man muss davon ausgehen, dass dieser Preisindex weiter steigen wird. Das liegt zum einen daran, dass die Bevölkerungsdynamik in einigen Weltregionen zu einem großen Importbedarf. Die Verteuerung der Getreideimporte und die Erhöhung des Brotpreises Anfang der 2010er Jahre spielte bei den Unruhen in der arabischen Welt eine wichtige Rolle. Auf der anderen Seite gibt es auf der Erzeugerseite eine merkwürdige Schwäche des Westens: Er nimmt seine Rolle als Überschuss-Prozent und Exporteur von Nahrungsmitteln weniger wahr als früher.

Wo ist die Produktivität des Westens? 

Die Ukraine-Krise hat verheerende Folgen auf den Weltmärkten für Getreide. In dem erwähnten FAZ-Artikel vom 23.5.2022 findet sich folgende Passage:

„Russland und die Ukraine haben in den vergangenen 30 Jahren ihre Getreideproduktion um zwei Drittel und ihre Produktivität um drei Viertel erhöht. Waren zur Jahrtausendwende noch die USA bei den Getreideausfuhren unangefochten, so war zuletzt Russland mit einem Anteil von 20 Prozent der größte Weizenexporteur der Welt, die Ukraine folgte mit 9 Prozent auf Platz fünf. Bei Getreide nahmen beide Staaten hinter den USA Platz zwei und drei ein.“

Das bedeutet, dass sowohl Russland als auch die Ukraine eine Fortschrittsgeschichte in der Landwirtschaft geschrieben haben, und dabei offenbar längere Zeit gut koexistieren konnten. Wie passt dazu die Mär von „Putins Russland“, dass wirtschaftlich marode ist, und sich deshalb das Nachbarland einverleiben will? Das Getreide wird auf jeden Fall gebraucht. Die Liste der afrikanischen und arabischen Staaten, die bisher Lieferungen aus Russland und aus der Ukraine erhielten, ist lang. Dabei ist das Mengenverhältnis zwischen Russland und der Ukraine ungefähr 3:1. Ist es wirklich zu verantworten, Russland durch einen Wirtschaftskrieg vom Getreide-Weltmarkt auszuschließen und dadurch eine Hungerkrise auszulösen?  Und es gibt noch weitergehende Fragen: Was ist aus der produktiven Weltrolle der USA geworden? Und was ist eigentlich mit Europa und Deutschland los? Hat unser Land, das auf einem recht fruchtbaren Stück Erde sitzt, keinen Überschuss-Ehrgeiz für den Außenhandel?

Deutschlands Produktivitäts-Aufgabe 

In einem Kommentar von Julia Löhr im Wirtschaftsteil der FAZ vom 11.4.2022 war die Aufgabe der Überschuss-Produktion noch präsent. Die Autorin schrieb von der „komfortablen Situation“ Deutschlands und folgerte dann: Eigentlich darf man sich nicht in dieser Komfortzone einrichten, sondern muss die Getreideproduktion hochfahren. Löhr wörtlich:

„Deutschland befindet sich in einer komfortablen Situation. Anders als wenn es um Gas und Öl geht, sind wir in der Getreideversorgung nicht auf Importe aus dem Ausland angewiesen. In den Ländern des Nahen Osten und Nordafrikas sieht das anders aus. Dorthin ging bislang ein Großteil der Lieferungen aus Russland und der Ukraine…Eigentlich ist klar was jetzt in Ländern mit guten Anbaubedingungen geschehen müsste: produzieren, was das Zeug hält. Doch in Deutschland tut sich diesbezüglich bislang wenig. Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, auch jene landwirtschaftlichen Flächen vorübergehend zu bewirtschaften, die in normalen Zeiten für den Naturschutz brachliegen. Auf diese Weise könnten die Erntemengen gesteigert werden…Doch Özdemir (der Bundes-Landwirtschaftsminister, GH) bremst. Hierzulande dürfen Landwirte nur den sogenannten Aufwuchs auf den ökologischen Flächen als Tierfutter nutzen…Özdemir hat offenbar große Sorgen, dass die Landwirte eine vorübergehende Lockerung der Regeln so interpretieren könnten, dass der Naturschutz auch langfristig in den Hintergrund treten soll.“

Das sind klare Worte. Und es geht nicht nur um eine „vorübergehende Lockerung“. Es geht um eine Richtungsentscheidung. Denn die Argumente, die Löhr anführt, gehen über die Ukraine-Krise hinaus: Für das ganze 21. Jahrhundert ist die Ernährungslage in bestimmten Regionen dieser Erde sehr kritisch. Getreideüberschüsse werden also für einen sehr langen Zeitraum gebraucht. Man könnte sogar noch weitgehender argumentieren: Es gibt auf der Erde sehr unterschiedliche Flächen mit unterschiedlicher Eignung für Landwirtschaft. Das spricht für eine großräumige Arbeitsteilung – zum Beispiel bei Getreide. Aus der Geschichte ist eine solche Arbeitsteilung durchaus bekannt. Im Mittelmeerraum konnten sich die meisten großen Städte – in der Antike, im Mittelalter und in der frühen Neuzeit – nicht hinreichend aus ihrem unmittelbaren Hinterland versorgen. Sie waren auf ständige Getreideimporte per Schiff angewiesen. Weiter nördlich in Europa lagen die „Kornkammern“ des Westens großenteils im Osten. Heute haben Russland und die Ukraine hier eine sinnvolle, großflächige agrarindustrielle Überschussproduktion aufgebaut. Ja, beide Länder haben hier Stärken, und beide werden im Rahmen einer internationalen Arbeitsteilung auf der Welt gebraucht. Aber es wird auch ein produktiver Beitrag des Westens dringend gebraucht.    

Ackerland und Weideland 

In einem Beitrag für das FAZ-Feulleton („Unser täglich Korn“, 31.5.2022) schreibt der Pflanzen-Ökologe und Landschafts-Historiker Hansjörg Küster über die Reserven für den Getreibeanbau in der Welt: „Allgemein sind es nicht Entwicklungs- und Schwellenländer, in denen man die Getreideproduktion noch wesentlich ausweiten kann, sondern die Industriestaaten im Westen Eurasiens und im Osten Nordamerikas mit ihren besonders guten Böden und besonders geeigneten klimatischen Bedingungen.“  Auch Küster argumentiert also im Sinn einer großräumigen Arbeitsteilung.    

Küsters Argumentation stützt sich dabei auf eine wichtige zivilisationshistorische Errungenschaft – die Unterscheidung zwischen Ackerland und Weideland („Grünland“), die wiederum auf unterschiedliche Bodengüten hinsichtlich Fruchbarkeit, Stabilität und Bearbeitungs-Eignung beruht. „Man könnte die alte Einteilung in Ackerland und Grünland als Richtschnur verwenden“, heißt es bei Küster, und er fordert eine Konzentration des Getreideanbaus auf die besseren Böden, weil Arbeit und Investitionen dort die höchste Wertschöpfung bewirken und die naturgegebenen Bodenvorteile am besten zur Geltung gebracht würden. Die weniger guten Böden könnten als Weideland genutzt werden. Auch eine Umwandlung von Wiesen in Ackerland sei denkbar, zumal „viele dieser Grünlandflächen erst vor wenigen Jahrzehnten aus stillgelegtem Ackerland hervorgingen“. Es geht also um eine produktive Differenzierung, die sowohl ökonomisch als auch ökologisch ist. Dieser Ansatz folgt eigentlich genau dem Gesetz des komparativen Vorteils des britischen Ökonomen David Ricardo, der nachwies, dass eine solche Differenzierung den höchsten Gesamtertrag erzielt. Sie sorgt auch dafür, dass schlechtere Gegebenheiten genutzt werden. In diesem Sinn ist es auch vernünftig, wenn auf den besten Böden dezidiert mit agrarindustriellen Mitteln gearbeitet wird. Eine weniger starke Nutzung wäre denkbar, aber sie würde wertvolle Gelegenheiten nur halb nutzen und damit verschenken. Dann wären auch Möglichkeiten, den Preissteigerungen entegenzuwirken, verschenkt. 

Man sieht hier, wie allein schon durch eine Boden-Differenzierung die Dinge viel konstruktiver behandelt werden können. Die Feindbilder der Agrarwende – „gutes Getreide“ kontra „böses Fleisch“ oder „gute Bauern“ kontra „böse Industrie“ – sind demgegenüber zerstörerisch, weil sie nur eine einzige „richtige“ Lösung für alles kennen. 

Landarbeit? Oh, nein! 

Der bereits zitierte FAZ-Artikel „Wie Nahrungsmittelkrisen entstehen“ zeigt am Ende eine Graphik, die den Selbstversorgungsgrad Deutschlands bei verschiedenen Agrarprodukten zeigt. Dort gibt es zwei Produktgruppen, bei denen der deutsche Selbstversorgungsgrad sehr gering ist: bei „Gemüse“ beträgt er 36 Prozent, bei „Obst“ 20 Prozent. Das überliest man leicht, und der FAZ-Autor widmet dem Phänomen auch keine besondere Aufmerksamkeit. Aber eigentlich verraten diese Niedrigzahlen eine krasse Fehlentwicklung.  Denn Gemüse und Obst können bei sehr unterschiedlichen Gegebenheiten von Bodengüte, Klima, Wasservorkommen und Betriebsgrößen gedeihen. Deutschland hätte für viele Gemüse- und Obstarten viele Standorte zu bieten. Aber es gibt ein großes Hindernis: Die Arbeit ist viel und hart. Oft gibt es auch extreme Spitzen in der Erntezeit. Dafür muss man Arbeitskräfte finden. Offenbar schafft es Deutschland nicht, einen hinreichend großen Bevölkerungsteil für diese Arbeit zu motivieren. Andere Länder, auch in Europa, schaffen das. Sie haben daher eine höhere Selbstversorgungsquote. Und in Deutschland wird selbst die geringe Quote nur erreicht, indem man Saisonarbeiter aus dem Ausland holt. Dass ist wahrlich bizarr, weil hierzulande Gemüse und Obst „aus der Region“ moralisch besonders hoch im Kurs stehen. Aber mit der Arbeit, die das bedeutet, will man nichts zu tun haben – insbesondere nicht in den Großstädten, wo man diejenigen sitzen, die die „Agrarwende“ besonders lautstark fordern.   

Die „tiefe“ Teuerung (II) 

An dieser Stelle, wo es um die Erarbeitung der Nahrungsmittel geht, reicht die Ursache der Teuerungswelle sehr tief in die gesellschaftliche Realität unseres Landes hinein: Es gibt eine Arbeitskrise dort, wo die Nahrungsmittel wirklich der Natur abgerungen werden müssen. Wo man sich sehr weitgehend und dauerhaft den Natur-Bedingungen anpassen muss, fühlt man sich „überfordert“. Auf Tätigkeiten, die nur in anstrengender Haltung ausgeübt werden können und die sich oft auch monoton wiederholen, lässt man sich ungern ein. Insbesondere auf der ersten Stufe der Lebensmittel-Erzeugung, die auf dem Land stattfindet, müssen schwere Dinge bewegt werden; man hat mit Staub und Schlamm zu tun, mit Gestank und Lärm, mit Mist und Blut. Und sehr oft auch mit Einsamkeit. Man nehme die Liste der Berufe, die in diesem Bereich tätig sind, und man wird überall Nachwuchsprobleme finden – ganz gleich, ob im Klein- oder Großbetrieb, ob bei pflanzlichen oder tierischen Produkten. 

Ja, es gibt sehr wohl diejenigen, die diese Arbeit gut und mit Stolz machen. Aber sie werden mit nachsichtigem Lächeln betrachtet. Sie gelten als „Modernisierungsverlierer“ – wenn sie nicht gerade ein besonderes Bio-Produkt oder irgendein Kulturevent nach dem Geschmack des gehobenen, großstädtischen Mittelstandes anbieten. Mit anderen Worten: Die Normalarbeit in diesem Bereich gehört nicht mehr zur normgebenden Mitte der Gesellschaft. Denn diese nennt sich inzwischen „postindustrielle Gesellschaft“ und betrachtet jeden, der nicht ist wie sie, als Auslaufmodell.  

Der Fluch der „postindustriellen Gesellschaft“ 

Doch nun kommt die Teuerungswelle, und auf einmal wird eine andere Realität sichtbar, die man für längst überholt hielt. Die Preissteigerungen drücken nicht nur eine „Geldentwertung“ aus, sondern echten Mehraufwand bei der Güterherstellung, und auch eine Rückkehr zu Güterknappheiten, die man überwunden glaubte. Und man hat jetzt wenig zu bieten: Alles, was die postindustrielle Gesellschaft für „die Zukunft“ hält, hilft gegen die Verteuerung des Lebens nicht weiter. Ja, es verstärkt die Teuerung sogar noch: Würde der „Green Deal“ der EU – mit 4 Prozent Flächenstilllegung von 2023 an, mit weiteren Einschränkungen des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln und mit einer forcierten Umstellung auf Ökolandbau – umgesetzt werden, könnte das zu einer Halbierung der Erträge in der Landwirtschaft führen (sagt der FDP-Agrarexperte Gero Hocker, zitiert in der FAZ vom 8.3.2022). Beim Ökolandbau rechnet man, dass im Schnitt ein Drittel mehr Bodenfläche für den gleichen Ertrag eingesetzt werden müssen. Und auch die eingesetzte Arbeitszeit wird mindestens so stark wachsen müssen. Das bedeutet, dass das Leben sich auf einer elementaren Ebene verteuert, und dass diese Preis-Revolution sich immer weiter frisst, wenn der Verfall der Produktivität so weitergeht wie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Dieser Verfall ist ein Merkmal der postindustriellen Gesellschaft. 

Die Industriegesellschaft hatte die Produktivität auf ein historisch hohes Niveau gehoben. Mit ihrer Verabschiedung kehrt die Plage der Knappheit wieder. Das Leben wird teuer, oft unbezahlbar. Ganz prosaisch, ohne große Erzählung, ohne Rettung. Das ist der Fluch der „postindustriellen Gesellschaft“.

(erschienen am 2.Juli 2022 bei „Die Achse des Guten“ und ebenfalls am 2.Juli in meiner Kolumne bei „Tichys Einblick Online“)